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Inhaltsangabe Ethik und Judentum Frühling 2000 - Pessach 5760

Editorial - Frühling 2000
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Pessach 5760
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Ethik und Judentum
    • Die Kommerzialisierung des menschlichen Körpers

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Die Kommerzialisierung des menschlichen Körpers

Von Rabbiner Shabtai A. Rappoport *
K. ist 35 Jahre alt und Mutter von vier Kindern. Vor zwei Jahren erkrankte sie an Angina, die von hämolytischen Streptokken ausgelöst wurde. K. meinte, die Infektion würde so schnell verschwinden, wie sie gekommen war, und genauso geschah es. Kurze Zeit später litt sie jedoch an einer seltenen Komplikation, die von den Ärzten als rasch verlaufende Post-Streptokokken-Glomerulonephritis diagnostiziert wurde. Diese Erkrankung entwickelte sich schnell zu einer irreversiblen Niereninsuffizienz. Seither ist K. auf eine Dialyse angewiesen. Vor kurzem hat sich ihr Gesundheitszustand verschlechtert, und eine Nierentransplantation drängt heute eindeutig als die beste Lösung für sie auf.
Doch die Aussichten auf eine Spenderniere sind sehr klein. Es besteht ein chronischer Mangel an Organen von verstorbenen Spendern. Natürlich kann die Niere auch von einem lebenden Spender stammen, doch es erwies sich, dass kein einziges Familienmitglied von K. kompatibel war. In ihren verzweifelten Bemühungen, das Leben der jungen Frau zu retten, hat die Familie alle Möglichkeiten untersucht und erfahren, man könne einem gesunden Menschen auch eine Niere abkaufen. In gewissen Ländern kommt dies häufig vor, ist jedoch in der Heimat von K. illegal. Ihre Familie ist jedoch wohlhabend und besitzt viele Beziehungen. Man nahm Kontakt mit Persönlichkeiten in der Politik auf, es kam zu Aufrufen am nationalen Fernsehen und zu Interviews in den grossen Zeitungen, um die Öffentlichkeit und die Politiker davon zu überzeugen, dass die Legalisierung des Organhandels zahlreiche Menschenleben retten könnte. Angesichts des tragischen Falles von K. zeigten viele Menschen ihr Mitgefühl, ungeachtet der moralischen Einwände gegenüber der Tatsache, den menschlichen Körper als eine Handelsware anzusehen.
Die Rettung von Menschenleben gehört im jüdischen Gesetz zur obersten Pflicht, die Vorrang vor allen anderen Geboten besitzt - ausgenommen das Verbot der Götzenanbetung, des Inzests und des Blutvergiessens; soll der Organhandel daher erlaubt werden, um Menschen zu retten?
Ist die Gesellschaft ausserdem nicht verpflichtet, wenn ein Einzelner sich in tiefster Not befindet und die Möglichkeit besitzt, durch den Verkauf eines seiner Organe seine Situation zu verbessern, ihm dies zu gestatten?
In einem häufig zitierten Responsum diskutiert Rabbiner David Ben Zimra, ein Weiser aus dem 16. Jhd., den Fall eines Mannes, den der Tyrann seiner Heimat vor eine grausame Entscheidung gestellt hatte (in Responsa, 3. Teil, 627): entweder die Amputation eines seiner Gliedmassen zu akzeptieren, was ihn bestimmt nicht umbringen würde, oder eine andere Person umbringen zu lassen. Soll der Mann ein Gliedmass opfern und sich verstümmeln lassen, um das Leben eines anderen zu retten?
In dieser Debatte versucht die Argumentation zu beweisen, dass man diesen Handel tatsächlich akzeptieren muss, wenn es um die Rettung eines Menschenlebens geht. Es wurde festgelegt (Schulchan Aruch Orach Chayim, Kap. 328 Abs. 17), dass die Schabbat-Gesetze nicht verletzt werden dürfen, um ein Organ zu retten, wenn das Leben seines Besitzers nicht auf dem Spiel steht. Da wir wissen, dass die Schabbat-Gesetze gebrochen werden müssen, um ein Leben zu retten, kann man daraus schliessen, dass ein Menschenleben über den Shabbat-Gesetzen steht, dass aber die Schabbat-Gesetze Vorrang haben vor der Unantastbarkeit des menschlichen Körpers. Daraus ergibt sich logischerweise, dass die Pflicht ein Leben zu retten über der Unantastbarkeit des menschlichen Körpers steht und dass eine religiöse Verpflichtung besteht, auf ein Gliedmass seines Körpers zu verzichten, um einen Menschen zu retten.
Durch verschiedene Gegenargumente widerlegt Rabbiner Ben Zimra diese Überlegung. Er kommt zum Schluss, dass es keinerlei Verpflichtung gibt sich verstümmeln zu lassen, um ein Menschenleben zu retten. Wenn jedoch ein Individuum sich aus eigenem Antrieb für eine fromme Handlung entscheidet, die über die Forderungen des Gesetzes hinausgeht, darf er dies tun. Gefährdet die Verstümmelung aber sein Leben, entspricht seine Tat einer ab absurdum geführten Frömmigkeit - und ist folglich verboten, denn der Schutz des eigenen Lebens vor einer möglichen Gefahr steht an erster Stelle, selbst wenn es darum geht, eine andere Person vor dem sicheren Tod zu retten.
Dieser letzten Ausnahme widerspricht eine andere Antwort des Rabbiners Ben Zimra (in Responsa, 5. Teil, 218), wo er von der Pflicht spricht, Menschenleben zu retten, wie es das biblische Gebot verlangt: «Du sollst nicht auftreten gegen deines Nächsten Leben» (Levit. 19,16), was bedeutet: «Schaue nicht untätig zu, wenn dein Nächster sein Blut, d.h. sein Leben verliert; es ist deine Pflicht, ihn zu retten». Hier folgert Rabbiner Ben Zimra, dass derjenige, der ein Leben zu retten versucht, selbst wenn dabei eine gewisse Gefahr für sein eigenes Leben besteht, dem Blut seines Nächsten nicht «gleichgültig» gegenüberstehen darf und handeln muss. Er legt jedoch fest, dass dies dann der Fall ist, wenn die Gefahr, die der Retter auf sich nimmt, eine Wahrscheinlichkeit unter 50% aufweist; wenn aber diese Wahrscheinlichkeit bei 50% oder darüber liegt, ist der Retter nicht verpflichtet, dieses Risiko für sein Leben zu akzeptieren, und darf auf jeden Rettungsversuch verzichten.
Die Wortwahl des Rabbiners Ben Zimra in diesem Responsum zeigt, dass das Individuum im letzten Fall zwar nicht verpflichtet ist, das Risiko auf sich zu nehmen, es aber tun darf, wenn er sich dafür entscheidet. Man muss auch darauf hinweisen, dass selbst ein Risiko von weniger als 50% immer noch beachtlich ist. Im weiter oben zitierten Responsum verbot Rabbiner Ben Zimra dem Retter, sein Leben der geringsten Gefahr auszusetzen.
Diese anscheinenden Widersprüche können geklärt werden, wenn man davon ausgeht, dass es dem Menschen gemäss dem jüdischen Gesetz strikt untersagt ist, sein Leben in Gefahr, und sei sie noch so gering, zu bringen, da er damit seine Verachtung für das von G’tt geschenkte Leben zum Ausdruck bringt. Dieses Verbot ist ganz besonders bei der Einhaltung der g’ttlichen Gebote gültig - zumindest der meisten von ihnen. Maimonides bestimmt (Yad Hazaka, Schabbat-Gesetze, II, 3), dass es «verboten ist zu zögern, selbst wenn man gezwungen ist, die Schabbat-Gesetze zu übertreten, um ein Menschenleben zu retten, weil es zu den g’ttlichen Geboten heisst '…Darum sollt ihr meine Satzungen halten und meine Rechte. Denn der Mensch, der sie tut, wird durch sie leben' (Levit. 18, 5), aber er wird nicht ihretwegen sterben.» Dadurch erfahren wir, dass die Gesetze der Torah den Menschen nicht als Strafe auferlegt wurden, sondern als Akt der Gnade, des Mitgefühls und des Friedens. Zu den Sekten hingegen, welche den Irrglauben verbreiten, die Überschreitung der Schabbat-Gesetze zur Rettung eines Lebens sei verboten, heisst es: «Darum gab auch ich ihnen Gebote, die nicht gut waren, und Gesetze, durch die sie kein Leben haben konnten» (Hesekiel, 20, 25).
Folglich widerspricht es dem Sinn und dem Wort des jüdischen Gesetzes, sein Leben für eine sogenannte religiöse Pflicht aufs Spiel zu setzen (der Götzendienst, der Inzest und das Blutvergiessen ausgenommen). Die erste aufgeführte Antwort, in der versucht wurde, die Pflicht des Menschen auf der Grundlage der Schabbat-Gesetze zu definieren, beruhte auf diesem Prinzip.
Wenn aber ein Mensch aus Hochachtung für das Dasein seines Nächsten ein Leben zu retten versucht, drückt die Gefährdung seines eigenen Lebens keine Verachtung für das von G’tt geschenkte Leben aus. Im Gegenteil, diese Tat beweist den höchsten Respekt vor der menschlichen Existenz. Auf dieser Überlegung beruht die zweite Antwort von Rabbiner Ben Zimra. Wird der Mensch vom Wunsch angetrieben, den Torah-Gesetzen zu gehorchen, - die hiermit als «nicht gut… durch die sie kein Leben haben konnten» angesehen werden -, handelt sich um eine absurde Frömmigkeit. Ist sein Beweggrund aber eine tiefe Achtung vor dem Leben, handelt es sich um einen Antrieb aus «Gnade, Mitgefühl und Frieden».
Daraus folgt, dass die Erlaubnis, eine bedeutende Gefahr für sein eigenes Leben einzugehen, vom Beweggrund abhängt. Wenn diese Tat trotz des Wunsches verboten ist, den g’ttlichen Gesetzen zu gehorchen, ist sie ganz gewiss verboten, wenn der Mensch aus Habgier handelt.
Die Entfernung einer Niere stellt eine bedeutende Gefahr für das Leben des Spenders dar. Wenn er auf sich achtgibt und unter ärztlicher Beobachtung bleibt, kann er natürlich noch lange und bei bester Gesundheit leben. Es kommt aber oft vor, dass der Spender einer Niere am Kippurtag nicht fasten darf, weil ein leichter Wasserverlust, der für andere durchaus harmlos ist, für ihn gefährlich werden kann. Aus diesem Grund ist es nicht gestattet, sein Leben und seinen Körper als Handelsware zu betrachten.
Sogar wenn ein Mensch unter grösster Armut leidet, und extreme Armut wird oft als schlimmer als der Tod angesehen, hat er kein Recht, sein Leben und seinen Körper zu benützen, um seiner Situation zu entgehen. Die jüdischen Schadensgesetze besagen, dass ein Mensch seinen Körper und sein Leben zum Geldverdienen einsetzen darf, doch seine Gliedmassen und Organe sind nicht sein Eigentum, über das er nach Gutdünken verfügen oder das er verkaufen darf.
Das tiefe Mitgefühl, das durch das Leid kranker Menschen entsteht, die aus Mangel an verfügbaren Nieren sterben müssen, sollte die Leute dazu ermutigen, Nieren zu spenden um Leben zu retten, doch es darf nicht als Vorwand dienen, um die Kommerzialisierung des Körpers und des Lebens des Menschen zuzulassen. Der Organhandel darf daher nicht gestattet werden.

* Rabbiner Schabtaï Rappoport leitet die Yeschiwah "Schwut Israel" in Efrat (Gusch Etzion). Er hat vor kurzem die letzten beiden Bände der Responsen herausgegeben, die von Rabbiner Mosche Feinstein, s.A., geschrieben wurden. Er entwickelt gegenwärtig eine Datenbank, die alle aktuellen Themen der Halacha umfasst. Richten Sie Ihre Fragen oder Kommentare an folgende E-mail-Adresse: shrap@zahav.net.il.

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