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Inhaltsangabe Pessach 5760 Frühling 2000 - Pessach 5760

Editorial - Frühling 2000
    • Editorial

Pessach 5760
    • Unabhängigkeit und Spiritualität

Politik
    • Schmale Öffnung oder Geschlossene Tür ?

Interview
    • Frieden… Welchen Frieden?
    • Golan - Der Widerstand organisiert sich

Strategie
    • Israel – Syrien. Welches Risiko eingehen ?

Judäa – Samaria – Gaza
    • Tatsachen vor Ort

Kunst und Kultur
    • Jacob Kramer (1892-1962)
    • Judaica und Hebraica in der königlichen Bibliothek Dänemarks
    • Jüdische Kunst in Dänemark
    • Das Symphonieorchester von Jerusalem

Wissenschaft und Technologie
    • BATM Advanced Communications  
    • Israel im CERN
    • Geheimnisvolle Heilkraft

Reportage
    • Jerusalem und Kopenhagen
    • Juden in Dänemark
    • Dänische Fakten

Reisetagebuch 
    • Versiegte Quellen

Ethik und Judentum
    • Die Kommerzialisierung des menschlichen Körpers

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Unabhängigkeit und Spiritualität

Von Roland S. Süssmann
Die jüdischen Feste weisen die Besonderheit auf, dass sie unabhängig von der Epoche, in der sich das Fest abspielt, eine moderne, positive und konkrete Botschaft zu vermitteln wissen. Dies trifft ganz speziell auf Pessach zu, dieses wunderschöne geschichtsträchtige, erhabene Fest, das voller Symbolik steckt.
Um mehr über die immerwährende Aktualität von Pessach zu erfahren, haben wir uns an Rabbiner Dr. NORMAN LAMM gewendet, seit 1976 Präsident der Yeshiva University von New York, der bedeutendsten und prestigereichsten jüdischen akademischen Institution der Welt. Als Leitfigur der modernen Orthodoxie geniesst Rabbiner Lamm, der ursprünglich eine wissenschaftliche Ausbildung absolviert hat, internationalen Ruf als Talmudgelehrter, Schriftsteller, Philosoph und Redner.


Welche wesentliche Botschaft kann Pessach heute jedem einzelnen von uns vermitteln?

Pessach, so wie es von der grossen Mehrheit der zeitgenössischen jüdischen Gemeinschaft wahrgenommen wird, ist das Fest der Unabhängigkeit und der politischen Freiheit. In diesem Sinne verkörpert es ausschliesslich eine Art Nationalfeiertag, an dem man dieser Befreiung gedenkt. Dieses Konzept nimmt im jüdischen Leben oft sehr viel Raum ein. Zur Veranschaulichung meiner Worte möchte ich daran erinnern, dass damals, als der Kampf um die Befreiung der sowjetischen Juden in den USA seinen Anfang nahm, zahlreiche Redner vehement verlangten, dass an die damals in der UdSSR lebenden Juden Matzoth (ungesäuertes Brot) verteilt werden sollte. Diejenigen, welche diese Forderung stellten, waren persönlich jedoch bei weitem keine gläubigen Juden. Für sie waren die Matzoth ein Symbol unter vielen, mit deren Hilfe sie ihre demokratischen Gefühle in direktem Zusammenhang mit der individuellen Freiheit zum Ausdruck brachten. Die geforderte Matzoth-Verteilung besass überhaupt keine innere religiöse Dimension, es handelte sich in gewisser Weise um eine Verwässerung der wahren Bedeutung von Pessach. Auch wenn zwar dieses Fest die politische Freiheit verkörpert, symbolisiert es ebenso die geistige Erneuerung. Dieser Grundsatz wurde von Nachmanides ausgedrückt, dem Rabbiner Mosche ben Nachman; dieser katalanische Philosoph und Kabbalist des 13. Jhds., der insbesondere darauf hinweist, dass die Feste Pessach und Schawuoth so eng miteinander verbunden sind, dass es sich eigentlich im jüdischen Kalender um ein einziges grosses Fest handelt, wo der Anfang (Pessach) und das Ende (Schawuoth) durch sieben Wochen „Chol Hamoed“ (Halbfeiertagen) verbunden sind. Pessach ist die politische Unabhängigkeit und Schawuoth die Offenbarung auf dem Sinai, die Übergabe der zehn Gebote sowie der religiöse und metaphysische Auftrag, der dem jüdischen Volk auferlegt wurde. Diese beiden feierlichen Elemente sind untrennbar verbunden und können nicht unabhängig voneinander wahrgenommen werden. Jedes Fest besitzt seine eigene Bedeutung, muss jedoch als Teil eines zusammengehörenden Ganzen angesehen werden.
Heute erinnert uns Pessach mehr denn ja daran, dass die politische Unabhängigkeit und die nationalen Ziele für einen Juden eng an ein religiöses Engagement geknüpft sein müssen. Doch Pessach weist uns ebenfalls darauf hin, dass das Feiern von Schawuoth allein nicht ausreicht, da die religiöse und geistige Dimension ohne ihre nationale Ergänzung unvollkommen wäre. Unsere Ganzheit als Juden kann nur dann erreicht werden, wenn wir diese beiden Formen der Freiheit, die nationale wie auch die geistige, gleichzeitig leben.


Dies sind also die gedanklichen Grundlagen für die Begehung dieser Festtage, doch wie werden diese Prinzipien konkret umgesetzt?

Ich denke, es geht hier um einen erzieherischen Prozess, dessen Ziel darin besteht, dass all jene, die einzig ihre «jüdische Kultur» hervorheben und jeden religiösen Aspekt des Judentums beiseiteschieben, endlich verstehen , dass diese Auffassung die Kontinuität des jüdischen Volkes kompromittiert. Es existiert heute ein weltweit verbreiteter Trend, der ein «folkloristisches» Judentum, ja gar eine völlig sinnentleerte Form der jüdischen Geistigkeit propagieren möchte, da der göttliche Aspekt daraus ausgeschlossen wurde. Diese Verzerrung der Tatsachen ist sowohl für die Seele als auch für den Intellekt unbefriedigend. Auch das Gegenteil trifft zu, denn die geistige Dimension allein ist ebenfalls unzureichend. Daher darf der streng orthodoxe Zweig unseres Volkes, der den Staat Israel ablehnt, nicht vergessen, dass Pessach im besonderen und das Judentum im allgemeinen diese politische und nationale Dimension besitzen, die uns zu einem Volk machen. Niemand darf die Tatsache leugnen, dass wir einen bedeutenden Abschnitt der jüdischen Geschichte miterleben, einen Augenblick, von dem wir jahrhundertelang geträumt haben. Der religiöse Zionismus soll die unterschiedlichen Inhalte von Pessach und Schawuoth miteinander versöhnen, doch dieser Einklang kann sowohl in Israel als auch in der Diaspora nur durch ein entsprechendes Erziehungssystem erreicht werden.


Sie haben uns eindrücklich dargelegt, mit welcher Einstellung Pessach gefeiert werden sollte und wie dieses Fest in unserer Zeit zu verstehen ist. Dennoch haftet dem Pessachfest aufgrund der zahlreichen Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Feier, ich denke insbesondere an die Reinigung der Wohnräume und an die Einschränkungen in bezug auf die Nahrungsmittel, letztendlich ein «schlechter Ruf» an und es wird von vielen eher als Quelle von Unannehmlichkeiten denn als ein Fest und eine Freude angesehen. Wäre es nicht möglich, die Dinge etwas einfacher zu gestalten?

Was Sie als «Unannehmlichkeiten» bezeichnen, verkörpert eigentlich die Erkenntnis, dass Unabhängigkeit ihren Preis besitzt. Die Freiheit kann mit einer einzigen Währung erkauft werden: Schwierigkeiten, Arbeit, Schweiss und Tränen. Wenn jemand den Geist von Pessach begriffen hat, stellen die Mühen der Vorbereitung meiner Ansicht nach für ihn einen festen Bestandteil der Festfreude dar.
Dies alles ist bestimmt nicht einfach, doch das Leben will es, dass nichts ohne Anstrengung und kein Ziel auf mühelose Art erreicht werden kann. Wenn Freiheit und Unabhängigkeit einem ohne weiteres in den Schoss fallen, sind sie nichts anderes als eine Illusion und bestimmt nicht von Dauer.


Wir leben in einer bemerkenswerten Zeit, in der es einen starken, lebendigen und erfolgreichen jüdischen Staat gibt. Gleichzeitig werden die Juden nicht mehr verfolgt, auch wenn der Antisemitismus weiterhin besteht. Weshalb ist es in einer so erfüllten Epoche noch notwendig, eine politische und nationale Befreiung mit religiösem Charakter zu feiern?

Es ist äusserst gefährlich, in einer Zeit des Wohlergehens seine Vergangenheit und seine Herkunft ignorieren zu wollen. Zu dem Zeitpunkt, da alles zum Besten steht, muss die Erinnerung erst recht gepflegt werden, um sich alle diese Errungenschaften zu sichern. Ist sich der Mensch seines Glückes allzu sicher, wird er dünkelhaft und selbstzufrieden. Er verliert schnell seine politischen Reflexe, die auch seiner Verteidigung dienen, so dass er seine Errungenschaften sehr rasch wieder verlieren kann. Wachsamkeit ist demnach oberstes Gebot, vor allem im Hinblick auf die Bewahrung von Freiheit und Unabhängigkeit. Ein Volk, das vergisst, dass es aus der Sklaverei fliehen musste, wird sehr schnell wieder unfrei sein!
Was auf alle Länder zutrifft, ist auch für Israel nicht falsch, und es kommt nicht selten vor, dass die Völker, die in ihrer Blütezeit mehr nach Butter als nach Gewehren trachten, sich angesichts des wunderbaren Geschenks der Unabhängigkeit oft einer Form der Faulheit hingeben. Pessach stellt demnach auch eine Art Mahnung dar, damit wir das schätzen, was wir heute besitzen. In unserer Zeit ist es besonders wichtig nicht zu vergessen, wo wir vor nicht allzu langer Zeit noch standen, in welchem Zustand sich unser Volk vor weniger als 60 Jahren befand, als wir mehr Gefangene als freie Menschen waren. Im Verlauf der gesamten jüdischen Geschichte kam es immer wieder zu einem Rückfall in Not und Unfreiheit, wenn die Juden es vorzogen, die Erfahrungen der Vergangenheit zu vergessen.


Sie sagen, es ginge um einen «Akt der Erinnerung». Wie könnte dieser ganz konkret aussehen?

Der Sederabend spielt die Rolle einer dramatischen Rekonstitution nicht nur für den Auszug aus Ägypten, sondern auch für den Übergang von der Gefangenschaft in die Freiheit. Zu diesem Anlass sagen wir: «Zu jeder Zeit muss es für uns sein, als ob wir selber aus Ägypten geflohen seien…». Moses Maimonides erklärt, dass wir eigentlich Jahr für Jahr an diesem Abend ein echtes Zeugnis von der Befreiung ablegen sollen. In gewissen Traditionen, wie beispielsweise in Jemen, laden sich die Juden die Matzoth auf die Schultern und gehen in einer Prozession um den Familientisch herum, um die Szene des Auszugs aus Ägypten ganz konkret nachzuspielen. Dabei begnügen wir uns nicht mit einem Akt der Erinnerung, der sich mit reinen Worten ausdrücken lässt, sondern erleben das Wunder der Befreiung tatsächlich immer wieder neu. Auf diese Weise prägen sich unsere Wurzeln und unsere Herkunft in unsere Herzen ein und wir schätzen alle Wohltaten, die uns widerfahren, umso mehr, ganz besonders in unserer Zeit.
Mit allen Symbolen, die ihn umgeben, und seinem Ritual verkörpert der Seder auch eine erzieherische Handlung, dank der die ursprüngliche Botschaft von Pessach, diesem Fest der untrennbar miteinander verbundenen nationalen und geistigen Freiheit, erfahren und verstanden werden kann.
Sehen Sie, jedes Pessachfest wird zu einem neuen Glied in der langen Kette unserer Geschichte. Für alle von uns, die einen gewissen Sinn für Geschichte besitzen, stellt die Tradition kein Spiel dar, sondern ein wesentliches, unsere Zukunft garantierendes Element. Ohne sie würden wir sehr schnell unsere Religion und vor allem unsere politische Freiheit zu verlieren drohen.
Abschliessend darf nicht vergessen werden, dass Pessach auch das Fest der Dankbarkeit ist. Wir drücken dies während des Seders aus, indem wir aufzählen, wieviele seiner Wohltaten (Dayenu) wir dem Allmächtigen verdanken. Einmal im Jahr schadet es nicht, ein wenig innezuhalten und sich bewusst zu machen, wie glücklich wir uns schätzen dürfen. Dank der Erinnerung daran bereiten wir unsere Zukunft vor.


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