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Inhaltsangabe Reportage Frühling 2000 - Pessach 5760

Editorial - Frühling 2000
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Pessach 5760
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Ethik und Judentum
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Juden in Dänemark

Von Roland S. Süssmann
In Kopenhagen, wo 95% der jüdischen Bevölkerung Dänemarks leben, haben wir einen völlig untypischen Gemeindepräsidenten getroffen, den knapp fünfzigjährigen Akademiker JACQUES BLUM. Blum verblüfft durch seine Offenheit, seine Art, oft unangenehme Tatsachen an den Pranger zu stellen und Problemen ohne Umschweife zu Leibe zu rücken. Dieser Präsident erstaunt umso mehr, als allgemein bekannt ist, wie sehr die dänische Mentalität auf Sanftheit ausgerichtet ist und dass heftige Auseinandersetzungen verpönt sind. Jacques Blum leitet demnach «seine» Gemeinde, die sechstausend Seelen umfasst (einige schätzen sie auf achttausend, andere gar auf zehntausend), mit Weitblick und ohne Illusionen.

Eigentlich wollen wir in diesem Gespräch das heutige jüdische Leben in Dänemark beschreiben. Es wäre jedoch undenkbar, von der Gegenwart zu sprechen, ohne die Tatsache zu erwähnen, dass die Dänen während des Zweiten Weltkriegs tatsächlich alle «ihre» Juden gerettet haben und «nur» fünfhundert von ihnen ums Leben kamen. Warum haben, Ihrer Ansicht nach, die Dänen so gehandelt, während andere von den Deutschen besetzte Länder aktiv mit dem Besetzer zusammenarbeiteten oder diese bestenfalls gewähren liessen ?

Die Einstellung der Dänen ist auf verschiedene Gründe zurückzuführen. Zunächst muss die Legende widerlegt werden, die besagt, der König sei mit einem gelben Judenstern an seiner Jacke auf die Strasse gegangen. Das stimmt nicht, er hat es nie getan, wie es auch falsch wäre zu behaupten, alle Dänen seien Philosemiten gewesen, sie waren es nämlich nicht. Es ist jedoch wichtig daran zu erinnern, dass die nationalsozialistische Partei in Dänemark völlig bedeutungslos war und das Dänemark zwar von den Deutschen besetzt war, jedoch keinen Krieg gegen Deutschland führte. Deutschland benutzte das Land als Erholungsstätte für seine Soldaten, die von der Front zurückkehrten, und wünschte hier daher keine aufrührerischen Aktivitäten. Und schliesslich muss betont werden, dass es in Dänemark keine antisemitische Tradition gibt, obwohl heute eine rechtsradikale Partei existiert.

Wie erklären Sie sich das ?

Offiziell ist dies auf unsere Toleranz, unsere Offenheit und unseren tiefen Sinn für Demokratie zurückzuführen. Meines Erachtens lässt es sich besser durch die Tatsache erklären, dass es extrem schwierig ist, in diesem Land Ausländer zu sein oder einer Minderheit anzugehören. Derjenige, der sich nicht anpasst, wird auf äusserst subtile Weise diskriminiert. Die Juden wurden eigentlich nie als Juden akzeptiert, sondern als «Nachbarn oder Freunde Dänemarks». Wenn man die dänischen Ausländergesetze studiert, kommt man zum Schluss, dass die in der Schweiz geltenden Bestimmungen glatt als «tolerant» bezeichnet werden können… Die dänische Mentalität besteht aus einer Mischung aus Bescheidenheit und Arroganz, und es steht auf jeden Fall fest, dass die Dänen keine Ausländer mögen. Man kann also sagen, dass die Dänen ein sehr tolerantes Volk sind, da es hier sozusagen keine ausländische Minderheit gibt. Was die Juden betrifft, die seit 300 Jahren hier wohnen, sind sie vollkommen assimiliert und streichen ihre «Yiddischkeit» (jüdische Eigenheit) in der Öffentlichkeit nie heraus. Die Räumlichkeiten unserer grossen Synagoge (die Stadt besitzt eine einzige Synagoge und ein kleines orthodoxes Bethaus) sind ausserdem derart feierlich und steif wie diejenigen der dänischen Kirche, obwohl seit einem Jahr einige Veränderungen zu verzeichnen sind, da die Kinder sich etwas mehr an den G´´ttesdiensten beteiligen. Die Juden werden folglich akzeptiert, solange sie nicht auffallen, und sie werden geschätzt,… weil sie keine Moslems sind. Gegenüber letzteren sind die Dänen extrem negativ eingestellt, und nach Ansicht der Bevölkerung ist ein guter dänischer Jude ein Däne. Die Juden reagieren sehr positiv auf diese Art, die Dinge zu sehen, und in der Gemeinde wird das alte Sprichwort hochgehalten, «ein diskretes Leben ist ein glückliches Leben».

Ihre Erklärung der Vergangenheit und der dänischen Mentalität ist verblüffend, doch wenden wir uns nun der Gegenwart zu. Wie steht es um die Jugend ?

Ungefähr 80% unserer jungen Leute gehen gemischte Ehen ein. Dennoch folgt die jüdische Jugend auch dem gegenwärtigen allgemeinen Trend, nach seinen Wurzeln zu suchen, was aber nicht verhindert, dass unsere lebensfähigsten Kräfte uns verlassen, meist um nach Israel zu ziehen. Man muss sich im klaren sein, dass die von unserer Gemeinschaft angebotenen herkömmlichen Dienstleistungen zwar gut funktionieren, es jedoch nicht einfach ist, als gläubiger Jude in Dänemark zu leben, ganz zu schweigen davon, dass unsere jungen Leute nur schwer einen jüdischen Partner innerhalb der Gemeinschaft finden, da nur wenige mögliche Kandidaten zur Verfügung stehen.

Welches ist Ihre Hauptsorge als Präsident der jüdischen Gemeinde ?

Wir leben irgendwie in einer sowohl widersprüchlichen als auch explosiven Situation. Unter der Sammelbezeichnung der orthodoxen Gemeinde werden nämlich alle möglichen verschiedenen Tendenzen und Herkünfte unserer Mitglieder zusammengefasst, die in Wirklichkeit zu 90% liberal eingestellt sind. Aus dieser Tatsache entstehen eine Reihe von Konflikten, die auf wenig elegante Weise ausgetragen werden und wo jedes Wort als «persönliche Beleidigung» ausgelegt wird. Ich verbringe daher leider den grössten Teil meiner Zeit damit, die Gemüter zu beruhigen, was unwahrscheinlich viel Energie verlangt, die natürlich nicht zu konkreten und konstruktiven Zielen eingesetzt werden kann. Das ist bedauerlich. Ich bin trotzdem der Ansicht, dass unser System, eine einzige Gemeinde unter dem Etikett des orthodoxen Judentums aufrechtzuerhalten und die Durchsetzung einer flexiblen und intelligenten Politik, der beste Weg ist, die Zukunft des dänischen Judentums vorzubereiten und gar zu retten.

Wie sehen Sie - ohne den Propheten zu spielen - die Zukunft Ihrer Gemeinde ?

Ich denke, es gibt in den kommenden Jahren keinen objektiven Grund, dramatische Änderungen zu erwarten. Langfristig, glaube ich, wird es in Dänemark Juden… wahrscheinlich im jüdischen Museum Dänemarks geben, die Synagoge wird immer noch aufgesucht werden,… wenn auch nicht für G´´ttesdienste. Es hat sich jedoch ein Trend entwickelt, der das Leben gemäss den Regeln des Judentums als «gesund und umweltfreundlich» betrachtet; dazu kommt die Reaktion auf die Folgen der Assimilierung. Die Generation der heute Fünfzigjährigen tut sich schwer mit der Tatsache, dass ihre Enkelkinder sich dem Judentum völlig entfremdet haben, Weihnachten (ein wichtiges Ereignis in Dänemark) anstelle von Channukkah feiern und ihre Bar-Mitzwah nicht begehen können. Man kann es nicht als Rückkehr zur Gläubigkeit bezeichnen, jedoch als eine Wiederbelebung der weltlichen jüdischen Identität. Es besteht demnach eine gewisse Hoffnung, dass die jüdische Gemeinschaft irgendwie überleben wird... wenn die Leitung der Gemeinde in der Lage ist, eine Struktur anzubieten, mit der sich die grosse Mehrheit der dänischen Juden identifizieren und in der sie sich wohlfühlen kann. Wir durchleben heute eine schöne Erfahrung, die uns zeigt, wie die Überlebenschancen einer kleinen jüdischen Gemeinschaft in Europa aussehen. Das äusserst feine Gleichgewicht muss gewahrt werden, das darin besteht, dass die liberalen Juden die orthodoxen Strukturen der Gemeinde akzeptieren und dass die gläubigen Juden die nichtreligiöse Mehrheit als ein für das Überleben der Gemeinde unerlässliches Element anerkennen. Unser Schicksal als lebendige, atmende jüdische Gemeinde hängt von der Beibehaltung dieser komplexen Gleichung ab, und diese wird uns ebenfalls davor bewahren, dass die Gemeinschaft eines Tages zu einem reinen Museumsgegenstand verkümmert.


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