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Inhaltsangabe Belgien Frühling 2005 - Pessach 5765

Editorial - April 2005
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Pessach 5765
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    • Die Schoah in Belgien [pdf]

Ethik und Judentum
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Das Gute Gedächtnis
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Die Schoah in Belgien

Von Roland S. Süssmann
Im Gegensatz zu Frankreich hat Belgien seine Verantwortung und seine Schuld bei der Ermordung von fast 50% seiner jüdischen Bevölkerung während des Zweiten Weltkriegs nie offiziell zugegeben. Dies erklärt vielleicht, weshalb in diesem Land das erste und einzige Schoah-Museum erst 50 Jahre nach Kriegsende eröffnet wurde. Es besteht allerdings kein Zweifel darüber, dass diese Gedenkstätte eine Reise wert ist.
Der Besuch einer Gedenkstätte oder eines Museums für die Schoah ist immer bewegender und packender, wenn dieser Ort sich genau dort befindet, wo die Gräuel des europäischen Antisemitismus in die Tat umgesetzt wurden. Dies ist beim Jüdischen Museum für Deportation und Widerstand von Mechelen der Fall, das an der Stelle errichtet wurde, wo das Durchgangslager stand: von hier aus fuhren zwischen dem 4. August 1942 und dem 31. Juli 1944 insgesamt 28 Deportationskonvois nach Auschwitz. Sechs dieser Transporte hielten in Kozel, 140 km von Auschwitz entfernt, wo 815 Deportierte zwischen 15 und 50 Jahren zur Schwerstarbeit im KZ gezwungen wurden: bei dieser Arbeit fanden sie den Tod. In Mechelen herrschten entsetzliche Lebensbedingungen, die Hygiene war erbärmlich, die Menschen wurden je nach Trunkenheitsgrad der Wärter gequält und gefoltert.
Das Museum ist in einem Flügel der ehemaligen Kaserne Dossin von Saint-Georges untergebracht. Hier, auf halbem Weg zwischen Brüssel und Antwerpen, hatten die Nazis und ihre belgischen Komplizen das «SS-Sammellager Mechelen» eingerichtet, das die Juden Belgiens vor ihrer Deportation zusammenführte. Dazu muss man wissen, dass zwei Drittel der belgischen Juden sofort nach ihrer Ankunft in Auschwitz vergast wurden: 16'100 Menschen wurden direkt von den Zügen in die Gaskammern getrieben. Vom letzten Drittel waren bei der Befreiung der Lager nur noch 1'207 Personen am Leben.
Die Geschichte der Schoah in Belgien zeichnet sich dadurch aus, dass der Vorgang, der zur Deportation von insgesamt 25'257 Juden (darunter 5'430 Kinder, von denen 150 keine zwei Jahre alt waren) führte, langsam, aber stetig vonstatten ging und bemerkenswert straff organisiert war. Um mehr darüber zu erfahren, haben wir WARD ADRIAENS getroffen, den Direktor des Jüdischen Museums für Deportation und Widerstand in Mechelen.
Trotz der Raumknappheit, unter der das Museum leidet (was einen überrascht angesichts der Tatsache, dass drei Viertel der Kaserne in Luxuswohnungen und in Lagerräumen für das Stadtarchiv umgebaut wurden), ist das Konzept der Ausstellung ausserordentlich intelligent, gut durchdacht und informativ. Der Besucher erfährt interessante Fakten, unabhängig davon, ob er bereits einiges über die Geschichte der Schoah weiss oder völlig ahnungslos ist. Das Museum konzentriert sich folglich auf zwei Aspekte: die Geschichte der Endlösung in Europa und ihre belgische Variante. Zu den diversen Themen der Ausstellung gehören die Unterstützung, welche die Deutschen in Belgien genossen, und zwar sowohl seitens der Bevölkerung als auch seitens der Institutionen, die Kollaboration der Rechtsextremisten, die Vernichtung fast der Hälfte der in Belgien ansässigen Juden, der Widerstandskampf und schliesslich die Hilfe eines grossen Teils der belgischen Bürger, insbesondere bei der Rettung von Kindern.
Bevor wir aber Adriaens zu Wort kommen lassen, seien einige wichtige Zahlen erwähnt: 1940 lebten 56'000 Juden in Belgien; am 10. Mai 1940 wurde Belgien durch Nazideutschland besetzt; am 19. April 1941 kam es zum Pogrom in Antwerpen; am 27. Mai 1942 wurde das Tragen des gelben Sterns obligatorisch; am 4. August 1942 begannen die Deportationen nach Auschwitz.

Können Sie uns kurz die Geschichte des von Ihnen geleiteten Museums zusammenfassen und uns etwas über die Intention bei seiner Gründung sagen?

Diese Gedenkstätte wurde 1990 auf Anregung der Union der jüdischen Deportierten von Belgien und des Zentralen Israelitischen Konsistoriums gegründet und am 7. Mai 1995 von König Albert II. im Rahmen der 50-Jahr-Feier der Befreiung eingeweiht. Dazu möchte ich betonen, dass die nationale Regierung, die flämische Gemeinschaft, die Provinz Antwerpen und die Stadt Mechelen diese Initiative unterstützt haben. Das Museum wurde am 12. November 1996 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Der Historiker Maxime Steinberg schrieb das Szenario für das Museum, der Museograph Paul Vandebotermet war für die Gestaltung zuständig und Jacques Zajtman war der Architekt. Das Museum verkörpert die Synthese des Rassenhasses (Juden und Zigeuner) in Belgien und im Norden Frankreichs bis nach Calais während des Zweiten Weltkriegs. Wegen des Platzmangels mussten wir unsere Synthese auf ein Minimum reduzieren und uns auf das Wesentliche beschränken. Das pädagogische Konzept, das diesem historischen Museum zugrunde liegt, kann in zwei Aspekte aufgeteilt werden, einen chronologischen und einen thematischen. Die Besichtigung dauert in der Regel anderthalb Stunden und findet mit einem Führer statt. Wir empfangen jährlich rund 30'000 Besucher, von denen 80% Schüler der Sekundarstufe sind. Ungefähr 45% dieser jungen Leute stammen aus dem französischsprachigen Belgien. Jede Klasse funktioniert in ähnlicher Weise wie in der Schule, wobei ein Führer die Stelle des Lehrers übernimmt; wenn die Jugendlichen das Museum verlassen, kennen sie die Geschichte und den Mechanismus dieser Rassenverfolgung. Natürlich ist der Besuch in einen weiter reichenden Unterricht eingebettet, der davor und danach in der Schule stattfindet. Die ca. zwanzig Führer, alles Freiwillige und Lehrer, wurden von uns ausgebildet. Wenn ich die Tatsache unterstreiche, dass wir in erster Linie ein historisches Museum sind, dann nur, weil ich den Schwerpunkt viel mehr auf die Fakten und die Methode der Verfolgung in Belgien legen möchte als auf die Emotionen. Das Museum wurde mit diesem Hintergedanken konzipiert, die Bilder von den Ermordungen sind erst am Schluss der Ausstellung zu sehen. Wir wollten nachweisen, dass die Marginalisierung der jüdischen Bevölkerung, ihre Isolierung und schliesslich die Deportation anders als in den osteuropäischen Staaten schrittweise geplant wurden. Dieser Weg in die Hölle ist das Thema in fast zwei Dritteln der Ausstellung. Den Anfang macht eine sehr nachdrückliche, eindeutige und erschreckende Botschaft an die Besucher: «Die Verfolgung beginnt mit der Aussonderung und Bestrafung dessen, der die falsche Mutter hat». Diesen Gedanken verstehen alle. Dies ist umso wichtiger, als wir Kinder empfangen, die in den maghrebinischen Vierteln oder in rechtsradikalen Kreisen leben, wo es keinerlei Sympathie für die Juden gibt. Dennoch gelingt es uns, unsere Botschaft verständlich zu machen.

Was ist in dieser Hinsicht wirklich in Belgien geschehen?

Unsere Arbeit findet auf zwei Ebenen statt: da ist einerseits die Information und die Ausstellung für die Öffentlichkeit, andererseits die Verwaltung unseres Archivs. Wir können alle unsere Aussagen anhand von deutschen Archiven beweisen und belegen, die sich in unserem Besitz befinden. Man muss sich klar machen, dass wir uns in einer ganz besonderen Situation befinden, da wir praktisch über sämtliche Dokumente verfügen, die während der Verfolgung entstanden sind. Grund dafür ist die Tatsache, dass Belgien innerhalb weniger Tage befreit wurde und dass die Verantwortlichen keine Zeit hatten, diese erdrückenden Beweise zu vernichten. Deswegen halten wir hier das in der Hand, was allgemein der «belgische Fall» genannt wird, womit man anhand von Dokumenten die systematische Planung der Verfolgungen bezeichnet. Es beginnt mit der Erstellung des Judenregisters, das 212 Ordner umfasst. Diese wurden von den Gemeinden oder von Fachleuten geschaffen, die als Zivilstands­beamte arbeiteten und somit über alle Urkunden bezüglich Eheschliessungen, Todesfälle, Migrationen usw. verfügten. Auf diesen Listen standen alles in allem 56'000 Namen. Auch dies ist einmalig, denn keine andere Minderheit wurde in dieser Weise registriert. Vor dem Zweiten Weltkrieg wusste niemand, wer protestantisch oder kommunistisch war. Diese Dossiers haben unbeschädigt überlebt, und wir sind dabei, sie elektronisch zu erfassen. Daneben gibt es die Listen, welche die deutsche Kommandantur regelmässig von den Gemeinden verlangte und von denen Doppel in den Archiven der Gemeinden und Provinzen vorliegen. Die Deutschen gründeten anschliessend den Judenrat. Hier entstand ein drittes Register, weil nämlich die Deutschen verlangten, dass jeder Jude als Mitglied des Judenrats eingetragen würde. Diese Registrierung ist ausnehmend wichtig, da sie die Familie und die Wohnadresse erfasste. So konnte man die Familienoberhäupter, jedes einzelne Familien­mitglied und z.B. sogar eine aus Osteuropa stammende jüdische Hausangestellte ermitteln. Auf der Grundlage dieser Daten entstanden die Karteien des «Sicherheitsdienstes» der Gestapo, die Metallschubladen mit einer Fläche von zehn Quadratmetern füllten. Jeder Jude besass eine erkennungs­dienstliche Akte, zu der andere Papiere aus anderen Registrierungen kamen, so dass mit der Zeit für jeden ein kleines Dossier vorlag. So wurden beispielsweise 1941 3'000 in Antwerpen lebende Juden deutscher Abstammung nach Limburg ausgewiesen. Bei dieser Gelegenheit wurde jede Person mit einem Bild fichiert. Irgendwann änderten die Behörden aber ihre Meinung und führten die Ausgewiesenen wieder nach Antwerpen zurück. Die zu diesem Anlass etablierte Fiche wurde zum Dossier des Sicherheitsdienstes hinzugefügt. Zu dieser Limburger Affäre möchte ich gern eine kleine Klammerbemerkung anbringen. Es handelte sich bei Limburg ja um die ärmste Provinz Belgiens. Plötzlich trafen in diesen Dörfern ganze Familien von Juden ein, mit denen niemand etwas anzufangen wusste und die untergebracht und dringend ernährt werden sollten. Man pferchte sie in Schulen, leer stehende Gebäude usw. Darüber hinaus wurde in Oberfeld ein Arbeitslager geschaffen, wo 300 von ihnen gezwungen wurden, das Land zu roden, um Gräben für die Entwässerung zu schaufeln. Dann verzichtete man aber auf diesen Plan und liess die Juden nach Hause zurückkehren, wo die meisten von ihnen wieder in ihre Wohnungen einzogen. Die grosse Plünderung des jüdischen Eigentums hatte noch nicht stattgefunden.
Doch kommen wir auf die systematische Registrierung der Juden zurück. Sie waren also nicht nur alle bekannt, es war auch soziologisch ermittelt worden, dass 93% von ihnen nicht belgischer Abstammung waren. Die meisten waren in verschiedenen Einwanderungswellen aus dem Osten eingereist, zu ihnen gehörte auch eine kleine Gruppe von Grossbürgern, die zum Teil nach der französischen Revolution aus der Schweiz eingetroffen war. Sie waren Händler oder Bankiers und machten letztendlich nicht mehr als ein Dutzend Familien aus. Die Mehrheit der 56'000 registrierten Personen waren Juden, die in den 1920er Jahren aus dem zaristischen Russland geflohen waren, 40% besassen die polnische Nationalität und knapp 12'000 reisten in den 1930er Jahren aus Nazideutschland ein. Die grosse Masse setzte sich folglich aus wirtschaftlich schwachen Menschen zusammen. Es ist in diesem Zusammenhang interessant festzustellen, dass die jungen Maghrebiner, die zu uns kommen und denen wir von der Migration der Juden aus den osteuropäischen Ländern nach Belgien berichten, sich mit ihnen identifizieren können, da sie selbst auch Immigranten sind. So finden sie sich in der jüdischen Geschichte wieder.
Wie ich bereits erwähnt habe, waren alle Juden registriert und fichiert, so dass man auf dieser Grundlage die Verhaftungen und Deportationen organisieren und durchführen konnte. Bei der Abfahrt der Konvois wurde eine letzte Liste erstellt, die berüchtigte «Transportliste». Im Moment der Niederlage nahmen die Deutschen diese Karteien in der Regel mit, doch aus unerfindlichen Gründen liessen sie die Dokumente hier zurück, ohne sie zu zerstören. Man fand sie zufällig wieder und bewahrte sie auf. Daher wissen wir, dass die 25'000 deportierten Menschen in Mechelen Station gemacht haben, denn bei ihrer Ankunft hier wurden alle auf einer Transportliste vermerkt. Sobald genug Menschen beisammen waren, wurde ein Zug für ihren Transport angefordert. Die Verteilung auf die Waggons erfolgte so, als ob sie Vieh gewesen wären. Die Originalliste wurde dem Transport mitgegeben, die Kopie blieb da. Dazu muss ich unbedingt auf einen weiteren Aspekt hinweisen. Der Prozess der administrativen Entmenschlichung begann effektiv hier im Durchgangslager. Jedes Dossier wurde nämlich durch persönliche Gegenstände der Gefangenen vervollständigt, wie z.B. ihre Identitätskarte, ihren Mitgliederausweis in einem Verein, ein persönliches Zugabonnement usw. Wenn sie also in die Züge gepfercht wurden, stand ihre Identität zwar noch auf einer Liste, doch sie selbst besassen keinerlei offizielle Identifikation mehr. All diese Dokumente befinden sich heute in unserem Archiv. Es ist ebenfalls wichtig zu wissen, dass die Enteignung der Deportierten von jedem Besitz und von ihrer Identität eine wesentliche Etappe für die Endlösung darstellte. In Mechelen ging jeder Häftling gleich nach seiner Ankunft vor mehreren Tischen durch, wo er nach Konfiszierung seiner Identitätspapiere und seiner Habseligkeiten ein Pappschild mit seiner Registernummer für den Konvoi erhielt. Joseph Hakker erinnert sich daran, was anschliessend geschah: «Eine Stimme befahl uns, alles, was wir auf uns trugen, in einen Hut zu legen, und es hiess, wir dürften nichts behalten». Der SS-Mann Max Boden prüfte danach das, was jeder abgelegt hatte. Vor Beendigung der Plünderung vergewisserten sich die SS von Mechelen, dass die Häftlinge wirklich nichts versteckten. Der Vorgang wurde durch eine Leibesvisitation abgeschlossen. Damit einher gingen Schläge, Ohrfeigen und Peitschenhiebe; Dr. Krull amüsierte sich ausserdem damit, Kölnisch Wasser in die Augen zu schütten. Hatte jemand noch etwas in den Kleidern versteckt, wurde er ausgezogen und vor aller Augen bis aufs Blut geschlagen.»

Wie kommt es, dass das Archiv noch vollständig ist?

Einige Tage vor dem Eintreffen der Befreier befahl der Kommandant des Durchgangslagers von Mechelen dem Verantwortlichen für Heizung und Duschen, die Dossiers mit den Namen der Deportierten zu verbrennen. Die beauftragte Person führte den Befehl allerdings nicht aus und rettete auf diese Weise die Listen. Diese befinden sich heute im Archiv unseres Museums. Es sind zwei Arten von Listen vorhanden: diejenige betreffend die Plünderung des Eigentums, die zur Gründung von fiktiven Verwaltungsgesellschaften führte, und diejenige betreffend die gestohlenen Möbel, die nach Deutschland geschickt wurden. Zum Abschluss dieser kurzen Berichterstattung möchte ich hinzufügen, dass rund 8'000 der 56'000 registrierten Juden zu Beginn des Krieges nach Frankreich ausreisten. Die meisten von ihnen wurden verhaftet und nach Drancy geschafft, bevor sie nach Auschwitz deportiert wurden. Die Kollaboration zwischen den Polizeidiensten in Deutschland, Frankreich und Belgien war so gut entwickelt, dass die Verhaftung in Frankreich von Personen belgischer Herkunft den Zuständigen der Datenbanken in Belgien automatisch mitgeteilt wurde.

Gehört der Besuch Ihres Museums zum offiziellen Lehrplan der Schulen?

Nein, aber es wird Geschichtsunterricht erteilt und es gibt einige Stunden über den Zweiten Weltkrieg und die Rassenverfolgungen. Da die Schulen unabhängig sind, kann der Staat derartige Besichtigungen nicht aufzwingen, sondern nur empfehlen. Es ist aber festzustellen, dass die Klassen der Sekundarstufe auf Anregung der Schule, des Direktors oder des Lehrers jedes Jahr wieder kommen. Aus heutiger Sicht ist unser Besichtigungsprogramm bis Ende Jahr ausgebucht, zum Teil auch wegen unseres Platzmangels. Aus diesem Grund konnten wir den Wärtern dieser Lager, ihrem psychologischen Hintergrund, ihren Gräueltaten und ihrem Schicksal keinen Ausstellungsraum geben. Wir haben nur die Tatsache erwähnt, dass der Lagerkommandant Phillip Schmitt erschossen wurde. Er war der letzte zum Tode Verurteilte, der nach dem Krieg hingerichtet wurde, und zwar wegen seiner Schandtaten im Arbeitslager und wegen Folter in Fort von Breendonk.

Was ist dort vorgefallen?

Insgesamt wurden 41'257 belgische Staatsbürger, 13'958 erst nach ihrem Tod, als politische Gefangene anerkannt. Die meisten von ihnen waren Widerstandskämpfer. Im Lager von Breendonk gehörten neben der Zwangsarbeit auch Folterungen zur Tagesordnung. Ausserdem wurde 164 Häftlinge erschossen, 21 erhängt und 108 an anderen Orten exekutiert. Mindestens 98 wurden zu Tode geprügelt, ertränkt, ausgehungert und gefoltert. Aus diesem Lager sind 2'230 Gefangene in die deutschen Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert worden.

Wie sehen Sie die Zukunft Ihrer Institution?

Ich glaube nicht, dass wir uns im Hinblick auf die eigentliche Ausstellung noch werden vergrössern können. Wir werden unsere Arbeit bei der Erfassung des Archivs auf elektronischen Datenträgern fortsetzen und vor allem die Verbreitung unserer Botschaft bei der Jugend verstärken, damit sie erfährt, was wirklich geschehen ist, und sich bewusst wird, wohin rassistische Intoleranz führen kann.

In einem kurzen Artikel kann man unmöglich eine vollständige Liste der Schrecken, Schandtaten und Leiden erstellen, welche die Häftlinge an dem Ort erlitten haben, den die Historiker das «Vorzimmer des Todes» nennen, nichts anderes als das Durchgangs­lager von Mechelen. Man kann sich allenfalls noch darüber wundern, dass im didaktischen Begleitheft, das vor allem für Schulen gedacht ist, folgende Worte zu lesen sind: «Das Museum trachtet nicht danach, philosemitische (unterstrichen) Gefühle zu wecken» oder etwas weiter: «es ist schwer zu ermitteln, wie viele Deutsche tatsächlich Verantwortung trugen. Wir lehnen den Gedanken einer deutschen Kollektivschuld ab». Das Ganze ist eingebettet in einige wohlwollende Worte über die Gefahren des Rassismus usw. Vor kurzem sagte mir ein Überlebender:«Wir dürfen nie vergessen, dass der Antisemitismus keine deutsche Erfindung ist, die Endlösung und Auschwitz aber sehr wohl!»



Solidarität und Widerstand
Freundschaft und Solidarität, diese Begriffe stecken hinter allen Aktionen von Maurice Lachmann, ehemaliger Widerstandskämpfer und Deportierter. Sein Leben kann unmöglich in einem einzigen Artikel zusammengefasst werden, denn es besteht aus einem langen und harten Kampf. Sogar die auf tatsächliche, aber dramatische Ereignisse bezogenen Anekdoten könnten ganze Bücher füllen. Maurice Lachmann wurde in Lodz in Polen geboren und seine Eltern zogen nach Belgien, als er vier Jahre alt war. Er gehörte zu den ersten jungen Juden, die ab 1941 zu Widerstandskämpfern wurden und an zahlreichen Aktionen gegen die Deutschen und ihre belgischen Komplizen teilnahmen. Schon in jungen Jahren war er politisch aktiv im Kampf gegen die Rechtsextremisten, die sehr schnell mit den Nationalsozialisten zusammenarbeiteten. Er wurde von der Gestapo verhaftet, gefoltert und nach Auschwitz deportiert, wo er sich den Gruppen anschloss, die innerhalb des Lagers passiven Widerstand leisteten, indem sie alles unternahmen, um das Leid der anderen Gefangenen in ihrem Umfeld zu lindern. Nachdem Maurice Lachmann auch den Marsch des Todes überlebt hatte, kam er in das schreckliche Arbeitslager von Ebbensee in Österreich, wo er schliesslich entkommen konnte.
Heute setzt Lachmann trotz seines hohen Alters seinen Kampf gegen die extreme Rechte fort. Er besucht Schulen und Gymnasien, um von seinen Erfahrungen zu erzählen und vor den Exzessen des Rassismus und des Antisemitismus zu warnen. Zu diesem Zweck ist er bereits 27 Mal zusammen mit jungen Juden und Nichtjuden nach Auschwitz gereist.
Auf die Frage, wie ein Mann wie er, der in Bezug auf das, was ein Mensch einem anderen antun kann, Schlimmeres erlebt hat, als man sich vorstellen mag, die Situation Belgiens angesichts des Wiederaufkommens des Antisemitismus einschätzt, erklärte er uns: «Die aktuellen Ereignisse erstaunen mich nicht. Zu meiner Zeit wurde die rechtsextreme Partei von Léon Degrelle geleitet, der die Jugend zu überzeugen verstand. Leider habe ich zwei Attentate auf ihn verfehlt. Die rechtsextreme Partei hat immer im Schatten gelebt und war dabei dennoch immer präsent. Heute meldet sie sich wieder zu Wort und ihre Botschaft fällt auf fruchtbaren Boden. In meinen Augen erfolgt der Kampf gegen den Antisemitismus in erster Linie über ein gutes Einvernehmen, den Zusammenhalt und die Freundschaft unter Juden? Es ist also noch ein langer Weg!».



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