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Inhaltsangabe Belgien Frühling 2005 - Pessach 5765

Editorial - April 2005
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Pessach 5765
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Politik
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Interview
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Judäa - Samaria - Gaza
    • Über den Rückzug Hinaus

Analyse
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Reportage
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Belgien
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    • Jüdisches Leben in Brüssel [pdf]
    • Vertrauen und Vorsicht [pdf]
    • Wenn nicht ich - Wer sonst? [pdf]
    • «Échevin» und Jiddische Mama! [pdf]
    • Die Magie der Diamanten [pdf]
    • Das Jüdische Museum Von Belgien [pdf]
    • Die Schoah in Belgien [pdf]

Ethik und Judentum
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Das Gute Gedächtnis
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Das Jüdische Museum Von Belgien

Von Roland S. Süssmann
Ein jüdisches Museum vermittelt immer auch einen konzentrierten Einblick in die Art und Weise, wie eine Gemeinde lebt und sich in Bezug auf ihre jüdische Identität wahrnimmt. Das Jüdische Museum von Belgien macht da keine Ausnahme und sein Konzept ist sehr aussagekräftig. Die Geschichte der jüdischen Gemeinschaft Belgiens ist älter als die Unabhängigkeit des Landes im Jahr 1832, doch das Museum betont in erster Linie das Leben der belgischen Juden in den vergangenen l72 Jahren. Interessanterweise wird die Tatsache, dass in Brüssel gegenwärtig ein eher sehr laizistisches, wenn nicht gar assimiliertes Judentum vorherrscht und sich Antwerpen mehr der Lebensform der frommen Juden zuwendet, durch die Ausstellung gut veranschaulicht.
Das eigentliche Museum ist erst seit kurzem in neue Räumlichkeiten eingezogen und gleicht im Moment eher einer kleinen befristeten Retrospektive auf die 150 Jahre jüdischen Lebens in Belgien und auf das Judentum im Allgemeinen als einem echten Museum. Eine kurze Rückfrage bei den Verantwortlichen klärte uns darüber auf, dass bedeutende Renovationsarbeiten bereits im Gange seien. Die Sammlungen des Museums widerspiegeln in erster Linie das Leben und die Geschichte der jüdischen Bevölkerung in Belgien seit dem 18. Jahrhundert. Sie stammen aus Erwerbungen, zahlreichen Schenkungen, diversen Hinterlegungen, wie z.B. des Zentralen Israelitischen Konsistoriums und der jüdischen Gemeinden im ganzen Land, und von der Stiftung Stelman-Topio (250 Landkarten und Ansichten des Heiligen Landes vom 16. bis ins 20. Jh.); 750 Judaika-Objekte, darunter 300 Textilien, verweisen durch die unterschiedliche Machart und den Stil auf ihre Herkunft. All diese Gegenstände erinnern an die diversen jüdischen Einwanderungswellen aus allen Teilen der Diaspora. Es gibt auch eine ganze Kunstsammlung, in denen Werke von 250 bekannten jüdischen Künstlern vertreten sind, darunter auch Gemälde von Marc Chagall, Ossip Zadkine, Chaim Soutine, Mané Katz und vielen anderen, einschliesslich der Werke zeitgenössischer israelischer Künstler aus der Bezalel-Schule. Es gibt ebenfalls eine Fotothek und eine Diathek mit 20'000 Bildern über das jüdische Leben in Belgien, über Israel und die arabischen Aggressionen usw. Ausserdem sind 5'000 Plakate vorhanden, es gibt eine musikalische Abteilung mit einer Sammlung von Partituren, Platten und CD's mit unterschiedlicher jüdischer Musik. Darüber hinaus umfassen sechs thematisch geordnete Bibliotheken insgesamt 25'000 Werke und Publikationen in folgenden Bereichen: Hebraika und kostbare Bücher, jiddische und hebräische Literatur, allgemeine Referenzwerke, jüdische Kunst und jüdische Künstler, jüdische Genealogie und zahlreiche Bücher über die jüdischen Friedhöfe in Belgien, Holland, Frankreich, Deutschland usw. Die Archive erstrecken sich auf 400 Regalmeter und enthalten drei Millionen Dokumente. Das Jüdische Museum von Belgien besitzt interessanterweise ganz spezielle genealogische Hilfsmittel. Zu ihnen gehören: das Register der Juden in 212 Dossiers, die gemäss den Anweisungen der Deutschen erstellt wurden und dank denen man alle Vor- und Nachfahren der 56'000 Juden kennt, aus denen die damalige jüdische Gemeinschaft bestand; die Karteien der Juden von Brüssel, die infolge der Volkszählungen von 1756, 1803, 1815, 1829, 1835 und 1842 etabliert wurden; das Register der jüdischen Flüchtlinge, in dem die Namen der 5'000 Menschen aufgeführt sind, die aus Polen oder den Lagern für Deportierte kamen und sich 1947 in Belgien niederlassen durften; das Register des palästinensischen Amtes, das die Namen der 2'000 Personen enthält, die zwischen 1944 und 1948 ein Ausreisegesuch nach Palästina einreichten; das Buch der Antwerpener Juden mit einer Adressliste von rund 5'000 Namen; das Buch der jüdischen Friedhöfe in Belgien, darin enthalten eine Datenbank der bis 1914 in Belgien begrabenen Menschen; und schliesslich die Archive mit Geburtsanzeigen von 1894 bis 1914 (ca. 200), Eheverkündigungen von 1870 bis 1997 (ca. 1000) und Todesanzeigen von 1850 und 1940 (ca. 500).
Wir wollten erfahren, mit welcher geistigen Einstellung das Museum gegründet worden war, und haben mit Baron G. SCHNEK gesprochen, dem Präsidenten des Jüdischen Museums von Belgien.

Ein jüdisches Museum wird nicht von heute auf morgen erschaffen. Wie wurde dieses bedeutende Projekt eigentlich konkret verwirklicht?

Im Jahr 1980, anlässlich der 150-Jahr-Feier Belgiens, hatten wir beschlossen, 150 Jahre jüdisches Leben zu zeigen. Wir trugen eine ganze Reihe von Dokumenten zusammen und kooperierten mit dem Institut für jüdische Studien der Universität Brüssel, dessen Vizepräsident ich heute noch bin. Dieses Institut, wo modernes und biblisches Hebräisch, jüdische Geschichte und Judaistik auf akademischem Niveau gelehrt werden (nach Abschluss des Studiums wird von der Universität Brüssel ein Zertifikat für Judaistik verliehen), das aber keine Jeschiwah ist, wurde 1970 gegründet und beschäftigt eine Reihe von Forschern, die bei der Vorbereitung dieser Ausstellung miteinbezogen wurden. Ich habe die Leitung des Konsistoriums 1982 als Nachfolger von Baron Bloch übernommen, und wir vereinbarten, dass diese Ausstellung, für die es uns gelungen war, zahlreiche Gegenstände und Dokumente zusammenzutragen, den Grundstock zu einem Museum bilden würde. Wir wollten damals neben den Grundlagen des Judentums und den damit verbundenen Kultobjekten eine ganze Sektion mit dem Beitrag der Juden zum Aufschwung Belgiens und mit der Rolle präsentieren, welche die Mitglieder unserer Gemeinschaft im politischen, wirtschaftlichen und akademischen Leben, in der Wissenschaft und der Kunst Belgiens spielten. Das Museum entstand demnach in provisorischen Räumlichkeiten am Sitz einer kleinen Gemeinde, wo es bis 2004 verblieb. Im Mai 2004 zogen wir in ein prestigeträchtiges Gebäude um, das uns von der nationalen Regierung mit einem Mietvertrag über 99 Jahre zur Verfügung gestellt wurde. Neben dem eigentlichen Ausstellungsteil besitzen wir verschiedene Abteilungen, die didaktischen Zwecken, der Konservierung und den Archiven gewidmet sind. Bei der endgültigen Fertigstellung des Museums werden wir über eine Fläche von 4000 Quadratmetern verfügen, was für ein kleines Land wie Belgien schon beachtlich ist. Für uns handelt es sich um viel mehr als nur um einen Ausstellungsort, es ist auch ein jüdisches Kulturzentrum.

Wer ist für die Sammlung, die Auswahl und Identifizierung der Objekte zuständig?

Uns steht ein Team mit sechs wissenschaftlichen Mitarbeitern und Konservatoren zur Verfügung, die alle ein Lizentiat in Geschichte, jüdischer Geschichte oder Kunstgeschichte besitzen. Der Verantwortliche für das Archiv erfüllt eine wichtige Aufgabe, da wir auch als nationales Zentrum für das jüdische Andenken fungieren möchten. Wir arbeiten mit etablierten Institutionen zusammen, wie z.B. der Stiftung für zeitgenössische Erinnerung, welche die Berichte jüdischer Persönlichkeiten in Belgien zuammenträgt, sowie dem Institut für audiovisuelle jüdische Erinnerung, einer Mediathek. All diese Dokumente werden nach und nach bei uns zentralisiert. Wir arbeiten intensiv mit dem oben erwähnten Institut für jüdische Studien zusammen, wo einige unserer Mitarbeiter ebenfalls als Forscher tätig sind. Wir sind nicht nur ein Schaufenster, sondern auch ein aktives Forschungsinstitut. In Bezug auf die eigentlichen Objekte haben wir eine Reihe von ihnen zurückerlangt, die während der Schoah beschlagnahmt worden waren. Vor kurzem hat ein Gebetshaus seine Tore geschlossen, so dass wir nächstes Jahr diesem Ort eine Ausstellung widmen werden, um zu zeigen, wie eine jüdische Kultstätte in Belgien aussieht.

Ist eine Abteilung ausschliesslich der Schoah gewidmet?

In Brüssel dienen wir nur als Erinnerung, denn das Jüdische Museum der Deportation und des Widerstands, das sich in der Kaserne Dossin in Malines an dem Ort befindet, wo das Durchgangslager in die Konzentrations- und Vernichtungslager stand, gehört zu unserer Institution als Museum. Hier, an diesem Ort, konzentrieren wir uns darauf, alle Aspekte des jüdischen Lebens in Belgien zu präsentieren.

Weshalb erschien es Ihnen notwendig, in Belgien ein jüdisches Museum zu gründen?

Wir wollten zeigen, dass es neben dem Staat Israel, der Nation aller Juden, in dem die gesamte jüdische Spiritualität zusammenfliesst, ein Leben in der Diaspora gibt, das weiter besteht und meiner Ansicht nach immer weiter bestehen wird. Um neben dem religiösen Aspekt einen anderen Inhalt zu vermitteln als den rein materiellen, wollten wir einen Beitrag leisten zur Erziehung der Jugend und den Nichtjuden zeigen, was das Judentum ist. Wir möchten ein Schaufenster für ein offenes und humanistisches Judentum sein, aber auch zeigen, wie wir im Verlauf der Geschichte in Europa existiert und koexistiert haben. Da wir uns in Brüssel befinden, der Hauptstadt Europas, werden wir darüber hinaus eine Informationsplattform für das einrichten, was in den anderen jüdischen Museen Europas auf dem Programm steht. Und abschliessend möchte ich darauf hinweisen, dass wir auch eine Abteilung vorgesehen haben, in der über die Entstehung des Staates Israel und die zionistische Aktivität in Belgien berichtet wird.

In einem Land wie Belgien, dessen Hauptstadt auch die Europas sein will und wo heftiger Antisemitismus auftritt, besitzt ein jüdisches Museum vielleicht eine grössere Daseinsberechtigung als anderswo, und zwar unter drei Bedingungen: es muss die tiefe Beziehung der belgischen Juden zu Israel unterstreichen, ohne dass sich die Frage nach der doppelten Treuepflicht stellt; es muss seine erzieherische Aufgabe wahrnehmen, um Vorurteile aus der Welt zu schaffen und so gegen den Antisemitismus vorzugehen; endlich muss es an den Beitrag den die Juden im Lauf der Geschichte für die Entwicklung Europas geleistet haben erinnern.


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