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Inhaltsangabe Porträt Frühling 2005 - Pessach 5765

Editorial - April 2005
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Pessach 5765
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Politik
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Porträt
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Belgien
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Ethik und Judentum
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Das Gute Gedächtnis
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Musik - Gebet - Freiheit

Von Roland S. Süssmann
Die letzten Instrumente wurden gestimmt. Die Lichter gehen aus. Im Saal wird es mucksmäuschenstill. Dann geht eine Seitentür im Orchestergraben des wunderschönen Zürcher Opernhauses auf und ION MARIN kommt herein - ein bemerkenswerter, mit Applaus bedachter Auftritt. Er erfüllt den Saal mit seiner starken Persönlichkeit, hebt den Dirigentenstab - und die Musik braust auf in ihrer überwältigenden Schönheit. Das Publikum ist hingerissen. Doch wer ist eigentlich Ion Marin ?
«Die Musik und ich - wir sind uns an dem Tag begegnet, an dem ich geboren wurde», singt Enrico Macias. Dies trifft auch auf den Dirigenten zu, der trotz seiner Jugend (er ist knapp über vierzig) bereits eine beeindruckende und viel versprechende Karriere vorzuweisen hat. Schon ein kurzer Blick auf seine berufliche Laufbahn reicht aus, um einen durch die lange Liste der prestigeträchtigen Orchester zu verblüffen, mit denen er gearbeitet hat: das London Philharmonic Orchestra, das Gewandhausorchester Leipzig, das Montreal Symphony, das Orchestre National de France, das Israel Philharmonic Orchestra, die Staatskapelle Dresden usw. Und noch ist die Liste nicht vollständig: Ion Marin besitzt einen ausgezeichneten Ruf als Dirigent in Bezug sowohl auf das symphonische Repertoire als auch auf die Opernliteratur. Er hat an den berühmtesten Häusern der Welt dirigiert, an der Metropolitan Opera in New York, an der Deutschen Oper in Berlin, an der Opéra Bastille von Paris und an diversen weltbekannten Häusern in Italien. Unter seiner Leitung haben die schönsten Stimmen gesungen, wie Jesse Norman und Placido Domingo, um nur die berühmtesten zu nennen. Neben seinen öffentlichen Auftritten weist Ion Marin auch eine bemerkenswerte Diskographie auf. Zwischen 1990 und 1994 leitete er eine Reihe von Plattenaufnahmen mit dem London Symphony Orchestra, die mit bedeutenden internationalen Auszeichnungen bedacht wurde.
Doch neben seiner beruflichen Karriere, über die man sich mühelos auch im Internet informieren kann, möchten wir Sie heute auch mit dem Menschen, dem Juden und dem Künstler bekannt machen.
Ion Marin wurde mir im vergangenen Herbst im Anschluss an eine aussergewöhnliche Aufführung von Gioacchino Rossinis Cenerentola vorgestellt, die er mit der ihm eigenen Verve am Opernhaus Zürich dirigiert hatte. Diese Oper, die Rossini selbst als «brillant, komisch, rührend und mein reifstes und menschlichstes Werk» beschrieb, entspricht in jeder Hinsicht dem Arbeitsstil von Ion Marin. Am nächsten Tag trafen wir uns im Salon eines grossen Zürcher Hotels, wo wir über anderthalb Stunden lang über seine Laufbahnplanung und Lebenseinstellung sprachen.

Sie können heute auf eine bisher beeindruckende Karriere zurückblicken. Kommen Sie aus einer Musikerfamilie?

Ich wurde in Bukarest geboren. Meine aschkenasische Mutter und mein sephardischer Vater widerspiegelten als Paar die Zusammensetzung der jüdischen Gemeinschaft Rumäniens in der Zwischenkriegszeit, in der die beiden Gemeinden nebeneinander bestanden. Nach der Schoah und vor der Einführung des Kommunismus wurden beide Gemeinschaften gezwungen, sich zusammenzuschliessen, was zu einer Verarmung der sephardischen Gemeinde führte. Mit der Zeit, und dies ist auch heute noch der Fall, gab es nur noch eine Art von Gottesdienst und die sephardische Kultur verschwand. Das Einzige, was die sephardische Gemeinschaft noch besitzt und was ihr eigen ist, ist der Friedhof. Ich schätze mich glücklich, aufgrund meiner Abstammung von beiden Traditionen profitiert zu haben und von ihnen bereichert worden zu sein; ich verstehe sehr gut Ladino und spreche fliessend Jiddisch (neben fünf weiteren Sprachen, darunter auch Hebräisch). Was die Musik betrifft, wirkt mein Vater als Chorleiter und dirigiert den Madrigalchor von Bucarest, die berühmte Pianistin Clara Haskil war ausserdem eine Kusine meiner Grossmutter. Ich habe übrigens mit Klavierspielen begonnen, indem ich nach Partituren spielte, die ihr einst als Kind gehört hatten.

Welche Ausbildung haben Sie genossen?

Ich habe an der Musikakademie George Enescu in Bukarest und anschliessend am Mozarteum in Salzburg und an der Accademia Chiggiana in Siena studiert. Ich spiele Klavier und Geige. Meine Tätigkeit als Dirigent habe ich in Rumänien begonnen, zunächst in Transsylvanien, danach am Radio in Bukarest. Ich beschloss dann, in den Westen zu gehen. 1986, nach der Verleihung des Gottfried-von-Herder-Preises in Wien, kehrte ich nicht nach Rumänien zurück, obwohl ich nur ein Ausreisevisum für eine Woche besass. Der Druck war zu gross geworden und hatte sich auf alle Bereiche ausgedehnt. Diese Einschränkungen waren unterschiedlichster Natur und betrafen sowohl das Künstlerische wie auch das Menschliche. Es war keine einfache Entscheidung, meine Frau war nämlich in Bukarest geblieben. Meine gesamte Familie wurde nun belästigt und unter Druck gesetzt. Ich hatte aber viel Glück, denn sechs Monate später begann ich als Assistent von Claudio Abbado an der Wiener Staatsoper zu arbeiten. Ich wurde österreichischer Staatsbürger und konnte nach etwas mehr als einem Jahr meine Frau aus Bukarest nachreisen lassen.

Sie haben vom Druck gesprochen, der im Rumänien von Ceausescu auf Sie ausgeübt wurde. Haben Sie auch Einschränkungen Ihrer Freiheit im musikalischen Ausdruck oder bei der Ausübung Ihres Berufs erlebt?

Eindeutig, denn die gesamte sakrale Musik beispielsweise durfte überhaupt nicht gespielt werden, sei es nun das Te Deum von Bruckner oder das Kol Nidrei von Schönberg. Sie können sich ohne weiteres vorstellen, was es für einen Musiker bedeutet, keinen Zugang zur sakralen Musik zu haben. Vergessen wir nicht, dass die Musik die subtilste Form des Gebets darstellt. Sie ist allen Rassen und Völkern zugänglich und verständlich. Unterdrückt man diese mystische Seite der Musik, bleibt nur die Technik übrig. Es ist so, als ob man einem Dichter verbieten würde, Metaphern zu verwenden. Da ich schon sehr früh einen Posten als Orchesterdirigent bekleidete, erhielt ich zwar die Gelegenheit, zahlreiche Repertoires kennen zu lernen und zu spielen, doch ich konnte mir nicht vorstellen, in diesem recht strengen System alt zu werden. Merkwürdigerweise verschaffte mir die Tatsache, Jude zu sein, einige kleine Privilegien, insbesondere das Recht, ab und zu in den Westen reisen zu dürfen. Die Behörden hatten nämlich begriffen, dass ich, wenn ich nicht ausserhalb von Rumänien arbeiten konnte, ein Gesuch für die Aliyah (Emigration nach Israel) gestellt hätte, was sie um jeden Preis vermeiden wollten.

Haben Sie dennoch irgendwann daran gedacht, sich in Israel niederzulassen?

Ja, vor allem da ein grosser Teil meiner Familie dort lebt. Ich habe allerdings keinen Antrag gestellt.

Weshalb?

Aufgrund meiner familiären und kulturellen Tradition, durch mein Studium der Philosophie und der Religionsgeschichte hatte ich immer das Gefühl, innerhalb der europäischen Kultur eine «Mission» erfüllen zu müssen, insbesondere in Bezug auf den jüdischen Beitrag zu dieser Kultur. Heute, zu Beginn des 3. Jahrtausends, ist es meiner Ansicht nach extrem wichtig, dass unsere Leistungen in der Medizin, Kultur, Mathematik usw. gewürdigt werden, d.h. alles, was wir für die Welt im Allgemeinen und für Europa im Besonderen getan haben, insbesondere während der Zeit, in der wir ausserhalb von Eretz Israel, im Exil und oft unter schrecklichen Bedingungen gelebt haben. Wenn wir uns dafür nicht würdigen lassen, wenn wir die Welt nicht daran erinnern, welchen Beitrag wir geleistet haben, wird ihn jemand anderes für sich beanspruchen und ich glaube, dass wir, und vor allem unsere Generation, nicht zulassen dürfen, dass dies geschieht. Trotz aller Liebe, die ich für Israel empfinde, fühle ich mich der europäischen Kultur sehr stark verbunden. Jeder von uns muss sich fragen, welchen Beitrag er leisten kann, und ich denke, dass meine Leistungen in dieser Weise zum Ausdruck kommen. Darüber hinaus ist in Israel seltsamerweise eine künstliche Trennung entstanden zwischen den jüdischen und den israelischen Künstlern, was eine zusätzliche und unnötige Schwierigkeit schafft. Dies erweist sich als umso unangenehmer, als wir weder ausschliesslich eine Nation noch ausschliesslich eine Religion sind, sondern beides in einem.

Was unternehmen Sie nun konkret, um Ihre «Mission» zu erfüllen?

Ich gehöre seit einigen Jahren dem B'nai B'rith an und habe darauf bestanden, als meine Heimatloge Bukarest festzulegen, und zwar die Loge Moses Rosen, die nach dem ehemaligen Oberrabbiner von Rumänien benannt wurde. Diese Loge verkörpert einen Ausgangspunkt zur Bekanntmachung des jüdischen Beitrags zur europäischen Kultur. Ich empfinde es auch als Pflicht, die jüdische Kultur in Rumänien wieder etwas aufleben zu lassen. Anlässlich der Volkszählung von 1938 umfasste die jüdische Gemeinde Rumäniens fast eine Million Mitglieder. Heute sind nur 5'600 von ihnen übrig, von denen die meisten im Rentenalter oder Greise sind. Diese Million Juden, die in Rumänien lebten, haben die rumänische Geschichte und Kultur geprägt und sie in glänzender Weise bereichert. Meine Tätigkeit im Rahmen dieser Loge erfolgt daher parallel zu meinen Bemühungen, unsere Leistungen in der Geschichte des Landes nicht ohne Anerkennung in Vergessenheit geraten zu lassen.
Ausserdem arbeite ich gegenwärtig an einem neuen Projekt betreffend die Einspielung einer Reihe von Platten mit sakraler Musik, darunter auch von christlicher Musik, die von Juden wie Saint-Saëns, Mahler, Mendelssohn usw. geschrieben wurde. Wir leben in einer christlich-jüdischen Welt, die auf philosophischer und moralischer Ebene als Ganzes wahrgenommen werden muss, und wir können nicht zulassen, dass der Antisemitismus diese Tatsache zunichte macht. Ich möchte diese Reihe mit dem Kammerorchester einspielen, das ich in Berlin mit Musikern der Philharmonie gegründet habe. Da es sich um ein pädagogisches Projekt handelt, plane ich die Einbindung eines Erzählers, der den Geist, die historischen Umstände und die Intentionen des Komponisten für jedes der aufgenommenen Werke erläutert.


Sie haben die Bedeutung der sakralen Musik erwähnt. Empfinden Sie beim Dirigieren eines Werks dieser Kategorie, insbesondere mit jüdischem Hintergrund, etwas Besonderes, etwas Anderes oder Weiterreichendes als bei einem weltlichen Werk?

Ich bin streng gesehen kein frommer Jude, aber ich bin sehr gläubig. Ich tue mein Bestes, um dieser Doppelrolle gerecht zu werden: ein vom Herrn geschaffenes Wesen sowie ein selbständig existierendes Individuum zu sein. Mit dieser Einstellung arbeite ich. Natürlich entwickle ich eine besondere Sensibilität, wenn ich ein sakrales Werk dirigiere. Einer der Grundpfeiler dessen, was ich meinen «inneren Tempel» nennen könnte, ist Gustav Mahler, und wenn ich eines seiner Werke dirigiere, empfinde ich ein tiefes Gefühl der Identifikation - wie dies auch bei zahlreichen anderen Werken jüdischer Komponisten vom Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts der Fall ist. In den meisten ihrer Stücke erkenne ich nämlich chassidische Lieder wieder, die einigen Themen zugrunde liegen. Für mich ist Mahler ein lebendes Phänomen und nicht einfach eine Partitur. Jeder Ansatz in den Symphonien von Mahler besitzt eine sakrale Komponente.

Sie haben eine Reihe von Konzerten mit dem Israel Philharmonic Orchestra dirigiert. Was hat Ihnen diese Erfahrung gebracht?

Ich habe tatsächlich vor ungefähr neun Jahren eine Serie von zehn Konzerten mit diesem Orchester in Israel gespielt, an denen wir vor allem das Konzert von Rachmaninow und die Fünfte Symphonie von Schostakowitsch im Programm hatten. Was mir später ganz besonders Freude bereitet hat, war mit dem «Young Israel Philharmonic» im Rahmen des Festivals von Verbier aufzutreten. Eine phantastische Zusammenarbeit. Obwohl ich aber regelmässig nach Israel reise, um meine Familie dort zu besuchen, hat es mein Zeitplan bisher nicht gestattet, diese Erfahrung zu wiederholen.

Wie sehen Sie Ihre Beziehung zum Publikum?

Nach fünf Jahren an der Wiener Staatsoper fasste ich zwei Entschlüsse: ich würde mich erstens nie an ein einziges Opern- oder Symphonieorchester binden, da ich das Bedürfnis empfand, die Welt und das Publikum beim direkten Kontakt kennen zu lernen. Man muss sich klar machen, dass ich nach fünfundzwanzig Jahren unter dem Regime von Ceausescu wirklich ungeheure Lust hatte, die Welt zu sehen und sie verstehen zu lernen. Darüber hinaus glaube ich auch nicht, dass es in der heutigen Zeit wirklich sinnvoll ist, zu viel Zeit, Mühe und Energie in eine einzige Sache zu stecken. Ich habe Wien aus eigenem Antrieb verlassen, denn seltsamerweise begann ich dort eine beginnende Einschränkung meiner Unabhängigkeit bei der Arbeit zu erahnen. Ich stellte fest, dass das Habsburger Reich nach dem Fall der Berliner Mauer in Europa langsam, aber nachhaltig wieder auferstehen könnte, und zwar mitsamt allen damit verbundenen negativen Aspekten. Zweitens beschloss ich, mich zusammen mit meiner Frau in der Schweiz niederzulassen, und so sind wir vor elf Jahren nach Lugano gezogen. Dort habe ich die vollständige Unabhängigkeit in meinem Beruf gefunden und geniesse diese Form der Freiheit, die in Wirklichkeit heute nur ganz wenigen Künstlern offen steht, da sie oft an ein Haus, eine Stadt oder gar ein politisches System gebunden sind. So wurde ich zu einem «Freiberufler der Luxusklasse» und arbeitete mit den besten Orchestern der Welt. Als «junger» Dirigent ist es natürlich undenkbar, dass ich die ständige Leitung eine dieser prestigereichen Formationen übernehme. Zur Veranschaulichung meiner Antwort möchte ich Ihnen von einem Vorfall berichten, der mir im Herbst 2004 in Moskau widerfahren ist. Ich war zum ersten Mal hinter den früheren Eisernen Vorhang zurückgekehrt. Ich dirigierte den Sommernachtstraum im Rahmen des Festivals Alfred Schnittke im grossen Orchestersaal von Moskau, wo schon Tschaikowski gearbeitet hatte. Ich war begeistert von der Offenheit des Moskauer Publikums, das sich so bereitwillig mitreissen liess. Die Zuhörer sind ein Teil des Phänomens Musik. Da ich die Musik als eine Art heilige Sprache betrachte, stellt für mich die Tatsache, das Publikum und das Orchester im Gebet des Interpreten zusammenführen zu können, etwas Erhabenes dar. In gewisser Weise ist es, als ob der Minyan (Mindestzahl von zehn Männern, die für die Durchführung eines gemeinsamen jüdischen Gottesdienstes anwesend sein müssen) in einem Gottesdienst in der Synagoge einstimmig in das Gebet des Kantors einstimmt. Es gibt natürlich verschiedene Kategorien von Zuhörern: die Snobs, die Unbeteiligten und diejenigen, die sich nur für den gesellschaftlichen Anlass interessieren, doch heute begegne ich immer häufiger einem immer jüngeren Publikum, das sich von der Magie der klassischen oder zeitgenössischen Musik mitreissen lässt. Der Gedanke, dass die Oper oder die grossen Symphoniekonzerte ausschliesslich einem elitären Publikum vorbehalten sind, gilt je länger je mehr als Mythos, der von einer links ausgerichteten und altmodischen Politik verbreitet wird. Die Vermittlung von Kunst und Kultur erfolgt nicht wie das Stopfen von Gänsen bei der Herstellung von Gänseleber. Es ist eine Frage der Erziehung und der persönlichen Anstrengung. Vor diesem Hintergrund verliert der oft unverständliche Text meiner Ansicht nach seine Bedeutung; ich bin übrigens gegen die Idee der Übertitelung, wie sie an bestimmten Opernhäusern der Schweiz praktiziert wird, weil sie den Zugang zur Transzendenz, die in der Musik liegen kann, zu einem grossen Teil versperrt. Vergessen wir nicht, dass das echte musikalische Verständnis eine Art Aufgabe seiner selbst bedeutet, und wenn ein Teil des Gehirns damit beschäftigt ist, Übertitel zu lesen, wird das Zuhören ganz einfach entweiht. Stellen Sie sich vor, ein Mensch begnügt sich beim Beten damit, den Text zu lesen, ohne sein Herz und seinen Geist einzubringen: er wird keinen Zugang zur sakralen Dimension erhalten und sich dem Göttlichen nicht öffnen können.

Ein grosser Teil Ihrer Tätigkeit findet in Deutschland statt, insbesondere mit der berühmten Staatskapelle Dresden, dem Bayrischen Rundfunk in München und in Berlin. Fühlen Sie sich wirklich wohl, wenn Sie in Deutschland arbeiten?

In dieser Hinsicht sind meine Gefühle sehr gespalten. Sehr oft kann ich mich nicht daran hindern, wenn ich durch deutsche Strassen gehe, vor allem in den neuen Bundesländern (aufgrund der kommunistischen Vergangenheit und meines Lebens unter dem Joch eines ähnlichen Regimes), von Erinnerungen heimgesucht zu werden und bestimmten Gedanken betreffend die jüngste Geschichte Deutschlands zu begegnen. Aber auch da - und vielleicht noch intensiver als anderswo - denke ich an das, was wir Juden im Verlauf der Jahrhunderte für den Aufschwung Deutschlands geleistet haben, und an die bedeutende Rolle, die wir in allen Bereichen in diesem Land gespielt haben, insbesondere in der Kunst. Das Abbrechen jeder Beziehung zu Deutschland droht uns dieses Vermächtnis zu nehmen, das wir hier durch die Jahrhunderte hindurch zusammengetragen haben, und wir können einfach nicht zulassen, dass der Nationalsozialismus neben allen anderen Gräueltaten uns nun auch diese Errungenschaft wegnimmt. Es ist heute übrigens eine Tendenz zu beobachten, die zwar noch unauffällig und zurückhaltend ist, sich aber darum bemüht, unseren historischen Beitrag allmählich in Vergessenheit geraten zu lassen. In diesem Sinne spreche ich, wenn ich die Schoah erwähne, nie von den «Nazis», sondern von den Deutschen, denn sie müssen zu ihrer Geschichte und unserer Geschichte stehen, die wir in diesem Land erlitten haben. Dazu kommt die Tatsache, dass ich zutiefst davon überzeugt bin, dass das Element Musik das bessere Einvernehmen zwischen den Völkern fördert. Ich weigere mich daher, die Brücken und die Beziehungen zu Deutschland abzubrechen, auch wenn die Erinnerung mir immer bewusst ist, denn ich glaube, dies könnte irgendwann auch negative Folgen für uns haben. Man würde unsere Leistungen sehr schnell vergessen und es wäre uns fast unmöglich, dies rückgängig zumachen.

Hat Sie im Rahmen Ihrer Arbeit der Antisemitismus schon einmal daran gehindert, ein Engagement oder einen Posten zu erhalten, nur weil Sie Jude sind?

Ja, und dies ist nicht in Deutschland passiert! Ich muss allerdings auch zugeben, dass ich von Glaubensbrüdern diskriminiert wurde, weil ich Jude aus einem osteuropäischen Land bin und nicht aus den USA, aus Russland oder Israel stamme.

Wie sehen Ihre Zukunftspläne aus?

In der näheren Zukunft gedenke ich meine «Irrwege» zu verlängern, d.h. ich möchte fortfahren, möglichst viele Orchester an möglichst vielen Orten weltweit zu dirigieren. Neben dem vorhin erwähnten Plan in Bezug auf die sakrale Musik laufen gegenwärtig auch einige Projekte für Platteneinspielungen.

Gedenken Sie junge Dirigenten auszubilden?

Nein. Sehen Sie, die Technik der musikalischen Leitung kann in jedem Konservatorium erlernt werden. Doch ein Dirigent ist ein Erzeuger von Musik und nicht ein schwarz befrackter Herr, der mit einem kleinen Stab vor einem Orchester herumfuchtelt. Er verfügt als Einziger über die gesamte Partitur, während jedes Instrument nur die Noten mit der eigenen Stimme sieht. Das gesamte Dirigat findet im Rahmen eines Zeitmasses und eines Atemzuges statt. Der Dirigent hat nämlich immer einen Takt Vorsprung auf die Note, die vom Rest des Orchesters gerade gespielt wird. Dieser Vorsprung beträgt weniger als eine Sekunde, und in einem gewissen Sinne handelt es sich um einen Vorschlag, der vom Orchester, den Sängern oder dem Chor angenommen wird. Die Note, die gespielt und vom Publikum wahrgenommen wird, ist eine Sekunde zuvor dirigiert worden. Dies kann man aber nicht lehren, es ist keine Technik, die man sich aneignen kann. Der Dirigent ist in Wirklichkeit das Gehirn und das Herz des Konzerts oder der Oper. Im übertragenen Sinne könnte man sagen, dass er rund hundert Menschen darum bittet, ihre Herzen im Einklang mit seinem schlagen zu lassen. Dieses Vorgehen scheint ebenso unmöglich wie phantastisch.
Dies empfinde ich jedes Mal beim Dirigieren; ich nehme die Schwingungen des Orchesters und des Publikums wahr, bevor ich den Saal betrete. Die grosse Kunst des Dirigenten besteht letztendlich in seiner Fähigkeit, sich an die Situation in Bezug auf Orchester und Publikum anzupassen, ohne dabei die Partitur zu vernachlässigen. Er muss improvisieren, das Tempo, die Dynamik und die Intensität an die Realität des Augenblicks adaptieren können. Dies ist das Geheimnis dessen, was man gemeinhin die hohe Kunst des Dirigierens nennt.


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