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Inhaltsangabe Ethik und Judentum Herbst 2001 - Tischri 5762

Editorial - Herbst 2001
    • Editorial

Rosch Haschanah 5762
    • Die Quellen der Hoffnung

Politik
    • Israel ohne politische Strategie

Interview
    • Pragmatismus und Optimismus
    • Terror und Strategie
    • Der Echte «neue Mittlere Osten»
    • Vollblutaraber !

Judäa – Samaria – Gaza
    • Kfar Adumim

Kunst und Kultur
    • Schätze
    • Mischa Alexandrovich
    • Simeon Solomon ( 1840-1905)

Wissenschaft und Forschung
    • Eine Rakete im Bauch !

Junge Leader
    • Der Chefkoch Avi Steinitz

Litauen
    • Unmögliche Palingenese
    • Neue Blüte oder Überlebenskampf?
    • Die Schule Schalom Aleïchem
    • Spitzenleistungen und Vernichtung
    • Paneriai
    • Ein Zeichen aus dem Jenseits
    • Ein lebendiges Zeugnis
    •  Weder Wilna - noch Wilno - sondern Wilne !
    • Mamme Luschen in Wilne!
    • «Dos is geven unser Glick !»
    • Litauen Quo Vadis ?
    • Litauische Zweideutigkeit
    • Erinnerung in Bildern

Ethik und Judentum
    • Zwischen Vorsicht und Panik

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Zwischen Vorsicht und Panik

Von Rabbiner Shabtai A. Rappoport *
P. ist ein gesundheitsbewusster Mann, vor allem jetzt, da er auf die Fünfzig zugeht. Er treibt regelmässig Sport und achtet auf eine ausgewogene Ernährung. Er isst nur recht selten Fleisch, immer am Schabbat und an den Feiertagen; er hat das Gefühl, dass ihm das neue Energie verleiht, insbesondere wenn er sich geistig oder körperlich erschöpft fühlt. Doch in den vergangenen Jahren ist der Verzehr von Rindlfleisch gefährlich geworden, da dies zu einer tödlichen Degeneration des menschlichen Gehirns führen kann, einer sogenannten Variante der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit (CJKV). Es bestehen triftige Gründe zur Annahme, dass diese Krankheit mit der Bovine Spongiforme Enzephalopathie (BSE) zu tun hat, an der Kühe erkranken können und die auch unter der Bezeichnung Rinderwahnsinn bekannt ist. Diese Krankheit wurde zum ersten Mal 1986 in Grossbritannien identifiziert, und man geht davon aus, dass das Vieh durch den Verzehr von Mehl angesteckt wurde, das mit Proteinen angereichert war und sich aus den Abfällen bereits erkrankter Schafe zusammensetzte. Das Herstellungsverfahren für dieses Mehl, das in der Regel eine Erhitzung auf sehr hohe Temperaturen erfordert um den Infektionsauslöser zu zerstören, wurde von den Herstellern nicht eingehalten.
Die eigentliche Creutzfeldt-Jakob-Krankheit, an der Menschen erkranken, ist bisher nur äusserst selten aufgetreten: eine Person auf eine Million Menschen weltweit. Innerhalb bestimmter Bevölkerungsgruppen, wie beispielsweise bei den libyschen Juden, ist die Anzahl erkrankter Personen jedoch etwas höher. Von der Krankheit betroffen sind meist Erwachsene zwischen 40 und 70 Jahren. Sie führt zu leichten psychischen Veränderungen oder Verhaltensstörungen, nach einigen Wochen oder Monaten gefolgt von einer fortschreitenden Demenz, die oft mit Sehstörungen und unkontrollierbaren Bewegungen einher geht. Bis heute kann die Krankheit nicht behandelt werden, sie führt im Allgemeinen im Jahr nach dem Auftreten der ersten Symptome zum Tod des Patienten. Hervorgerufen wird die Krankheit, die als erblich gilt, zweifellos durch ein Protein genannt Prion, das die normalen Proteine des Gehirns ansteckt.
Als sich BSE in Grossbritannien auszubreiten begann, trat gleichzeitig eine Krankheit bei Menschen auf, die der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit glich und «Variante der CJK» genannt wurde: zwanzig Menschen sind bereits an ihr gestorben, ohne dass eine Übertragung innerhalb der Familie ausfindig gemacht werden konnte. Man nahm folglich an, sie seien infolge des Verzehrs von verseuchtem Rindfleisch erkrankt, indem sie auf diese Weise die Prionen einnahmen, die ihr Gehirn angriff. Das Auftreten der Variante der CJK löste Panik aus und der Verbrauch von Fleisch ging trotz der Massnahmen der Regierungen zur Vernichtung des kontaminierten Viehbestands massiv zurück.
P. weiss sehr wohl, dass jeder Mensch auf seine Gesundheit achten muss, und kennt auch die Vorschriften der Bibel: «Hüte dich nur und bewahre deine Seele gut» (Deut. 4, 9), «So hütet euch nun wohl» (id. 15). Muss er nun angesichts dieser Faktoren darauf verzichten Fleisch zu essen, bis es absolut sicher ist, dass keine Gefahr mehr besteht? Oder soll er seine Essgewohnheiten beibehalten?
König David lobt den Allmächtigen mit folgenden Worten: «Der Herr behütet die Unmündigen» (Psalm 116, 6). Die Weisen interpretieren diesen Vers als die Genehmigung auf eine «naive» Art Risiken einzugehen.
Andererseits ist es gemäss Talmud (Schabbat 129,b) gefährlich an einem Freitag einen Aderlass (dem man früher eine positive Wirkung zuschrieb) durchzuführen, und zwar wegen der Position des Planeten Mars an den geraden Stunden dieses Tages. Damals war man überzeugt, dass die Planeten die (angenehme oder negative) Atmosphäre der Stunden und Monate bestimmten. Der Planet Mars verkörperte den Krieg, die Pest und die Strafe, und die geraden Stunden des Tages galten als besonders ungünstig. Die Kombination beider Faktoren war demnach sehr gefährlich und ein zu diesem Zeitpunkt durchgeführter Aderlass drohte sich katastrophal auszuwirken. Dennoch erklärt der Talmudgelehrte Schmuel, dass der Freitag ein günstiger Tag für den Aderlass ist. Man glaubte nämlich, dass es gut sei, nach einem Aderlass Fisch zu essen. Die meisten Leute konnten sich aber während der Woche keinen Fisch leisten und assen ihn deshalb nur am Schabbat. Daher gab es gute Gründe für einen Aderlass am Freitag. Im Hinblick auf die Gefahr, die vom Planeten Mars ausgeht, heisst es im Talmud: «Da die meisten daran gewöhnt sind, 'behütet der Herr die Unmündigen'.»
Dieser Gedanke wurde im Talmud auch auf andere Fälle ausgedehnt und stellt die Grundlage für zahlreiche Halachah-Entscheidungen und Responsen dar. So ging man beispielsweise davon aus, dass es für ein junges Mädchen oder für eine ihr Baby stillende Mutter riskant sei, ein Kind zu zeugen. Trotzdem legt der Talmud (Yewamoth 12,b) fest, dass diese Frauen nicht verhüten dürfen, weil «der Herr die Unmündigen behütet». Rabbi Akiwa Eiger, herausragende Talmudkoryphäe des 19. Jhs., schliesst daraus (Responsa Bd. I,71), dass selbst eine Frau, die schwere, ja sogar lebensgefährliche Geburten durchgemacht hat, keine Verhütungsmittel verwenden darf, obwohl diese Entscheidung in der Folge sehr umstritten war. Man war noch der Ansicht, dass es gefährlich sei, ein Baby «an einem wolkigen Tag oder an einem Tag zu beschneiden, an dem der Südwind weht»: «Heutzutage jedoch, da viele Menschen sich daran gewöhnt haben, diese Vorsichtsmassnahmen zu ignorieren, behütet der Herr die Unmündigen» (id. 72,b). Es steht geschrieben (Tur Yoreh Deah, Kap. 262, Beit Yossef, Abschnitt b), dass auch dann, wenn der Vater kein «Unmündiger» ist, sondern die Gefahr erkennt und seinen Sohn an einem wolkigen Tag nicht beschneiden lassen möchte, er die Beschneidung nicht auf einen anderen Tag verschieben soll, sondern sie durchzuführen und das Risiko auf sich zu nehmen hat.
In einem Kommentar von Rabbi Yossef Albo, einem berühmten Philosophen, der im 15. Jh. in Spanien lebte, wird diese Überlegung folgendermassen erklärt: der Grundsatz, nach dem «der Herr die Unmündigen behütet», bedeutet, dass die unwissenden Personen – oder die sehr gewöhnlichen Leute ohne Feingefühl – von der Vorsehung und nicht von ihren Anstrengungen und Bemühungen beschützt werden (Sefer Ha'Ikarim – Bücher über die Grundsätze des Glaubens, Artikel IV, Kap. 9). Derselbe Gedanke wird in Orchot Tsadikim (Die Wege der Gerechten), einem bekannten Werk aus dem 16. Jh. (von einem anonymen Verfasser) ausgeführt. Daraus folgt, dass man gewisse Risiken eingehen darf, weil sie keine echte Gefahr beinhalten, da die Vorsehung wacht.
Die vorangehenden Ausführungen scheinen in einem direkten Widerspruch mit dem berühmten Prinzip (zweifellos aus dem Talmud Yeruschalmi Yomah, Kap. A Abschnitt 4 stammend) zu stehen, das besagt, dass der Mensch sich nicht auf ein Wunder verlassen, sondern im Gegenteil handeln soll, sei es nun um seine Person zu retten oder um seinen Lebensunterhalt und die notwendigen Mittel zu verdienen, die der Erfüllung der göttlichen Gebote dienen. Rabbi Awraham Yitzchak Ha’Kohen Kook scheint diesen Konflikt zu lösen, indem er argumentiert (Ezrat Kohen Even Ha’ezer 35), dass die oben genannte Entscheidung von Rabbi Akiva Eiger ausschliesslich eine Frau betrifft, bei welcher der einzige bekannte Risikofaktor das Überstehen mehrerer schwieriger Geburten ist; ihr Fall unterscheidet sich demnach kaum von demjenigen einer anderen gesunden Frau, für die jede Geburt ein gewisses Risiko beinhaltet. Besteht jedoch bei der Schwangerschaft oder der Geburt ganz offensichtlich das Risiko einer Krankheit oder gar der Lebensgefahr für die Frau, müssen sichere Verhütungsmittel verwendet werden. Bei der Verallgemeinerung dieses Arguments könnte man sagen, dass man angesichts einer konkreten Gefahr kein Risiko eingehen soll. Gibt es jedoch keinen Grund, auf eine tatsächlich vorhandene konkrete Gefahr zu schliessen, dann sollte eine allgemeine Information betreffend eine unbestimmte potentielle Gefahr uns nicht daran hindern, ein normales Leben zu führen und die Gebote der Torah zu erfüllen; dies bedeutet in anderen Worten, dass man die Gefahr ignorieren darf und dass der Mensch auf die Vorsehung vertrauen sollte.
Solange die direkte Beziehung zwischen BSE bei Kühen und der schrecklichen Krankheit (Variante der CJK) bei Menschen nicht eindeutig bewiesen wurde und solange kein Grund zur Annahme besteht, dass das Fleisch in den Läden BSE-verseucht ist (vor allem wenn man die ernsthaften Anstrengungen der Regierungen zur Bekämpfung von BSE bedenkt), wäre es unbegründet, auf den Verzehr von Rindfleisch zu verzichten. Auch wenn ein geringes Risiko besteht, an einem schrecklichen Leiden zu erkranken, muss P. sich bewusst sein, dass er auf «unmündige» Art handeln und sich auf den Schutz durch die Vorsehung verlassen darf.

* Rabbiner Shabtai A. Rappoport leitet die Yeschiwah «Schwut Israel» in Efrat (Gusch Etzion). Neben anderen Arbeiten hat er die beiden letzten Bände der Responsen herausgegeben, die von Rabbiner Mosche Feinstein, s.A., geschrieben wurden. Er entwickelt gegenwärtig eine Datenbank, die alle aktuellen Themen der Halachah umfasst. Richten Sie Ihre Fragen oder Kommentare an folgende E-mail-Adresse: shrap@012.net.il.

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