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Inhaltsangabe Gesellschaft Frühling 1998 - Pessach 5758

Editorial - Frühling 1998
    • Editorial

Pessach 5758
    • Unser täglicher Exodus

Politik
    • Der Faktor Zeit

Interview
    • Optimismus und Realismus
    • Judentum - Zionismus - Demokratie
    • Begegnung mit Dr. Jonathan Sacks

Analyse
    • Zeuge unserer Epoche
    • Lasst uns freudig feiern

Kino
    • Aus der Hölle zum Leben... The Long Way Home

Judäa - Samaria - Gaza
    • Bauen und Entwickeln

Kunst und Kultur
    • Zehava B.
    • Das jüdische Museum in London
    • Jew's College
    • Jüdische Teppiche
    • Ausstellungen zu jüdischen Themen in Amerika

Gesellschaft
    • Jewish Care

Medizin
    • Typisch aschkenasisch !

Ethik und Judentum
    • Umwelt und individuelle Verantwortung

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Jewish Care

Von Roland S. Süssmann
"Mourir, la belle affaire.... mais vieillir !" ("Sterben, wie leicht ist das... Altern hingegen !") sang bereits Jacques Brel in einem seiner schönsten Lieder. Heute wird einerseits alles unternommen, um das Leben immer mehr zu verlängern, andererseits wird das Pensionsalter immer tiefer angesetzt, so dass dieser Satz mehr denn je Gültigkeit besitzt. Mit sozialen Problemen haben nicht mehr nur unsere ältesten Mitmenschen zu kämpfen, sondern fast alle Gesellschaftsschichten. Der jüdischen Gemeinschaft ist diese Problematik nicht fremd, und aus diesem Grund haben wir beschlossen, Ihnen eine in Europa einzigartige Organisation vorzustellen, die in London und im Südosten Englands tätig ist und sich ganz einfach "JEWISH CARE" - "Jüdische Fürsorge" nennt.
"Jewish Care" wurde in seiner heutigen Form erst 1990, nach dem Zusammenschluss des 1859 gegründeten "Jewish Welfare Board" und der 1819 entstandenen "Jewish Blind Society" ins Leben gerufen. Seit 1990 haben sich mehrere kleine jüdische Wohlfahrtsorganisationen mit Jewish Care zusammengetan, die somit zur bedeutendsten Sozialhilfeorganisation in Grossbritannien geworden ist; sie beschäftigt 1500 Mitarbeiter, denen Jewish Care ein Ausbildungsprogramm zur Verfügung stellt, das auch den 2500 freiwilligen Helfern zugute kommt.Das jährliche Betriebsbudget von ca. 32 Millionen Pfund wurde1997 von den lokalen und nationalen Behörden, der Europäischen Union und durch Spenden finanziert (um das Fund Raising kümmern sich die wichtigsten Persönlichkeiten Grossbritanniens aus Industrie, Politik, Bankwesen und dem Künstlermilieu).
Zu den eigentlichen Aktivitäten von Jewish Care gehören 14 Altersheime, 5 Tagesheime, 5 spezialisierte Tagesheime für Alzheimer-Patienten (diese Zentren stellen für die Familien und Betreuer der Kranken zu Hause eine riesige Entlastung dar), 8 Zentren für Konvaleszenten mit Geisteskrankheiten, 5 Teams von Sozialhelfern, 2 spezialisierte Zentren für Überlebende der Schoah, die unter Geisteskrankheiten leiden, eine Arbeitsvermittlung, ein Zentrum für junge Behinderte (18-40 Jahre), eine bedeutende Organisation für die Betreuung zu Hause, eine Hilfsorganisation für behinderte oder sehbehinderte Menschen (die spezielle Lesehilfen, Kochherde mit Warnvorrichtungen für Sehbehinderte, Unterricht in Blindenschrift auch in Hebräisch, Aufnahmen von jüdischen Büchern auf Audiokassetten usw. zur Verfügung stellt), ein Kommunikationszentrum für Blinde, sowie Heime für Witwen und Witwer, Vereine für Herzinfarktopfer und schliesslich ein Jugendzentrum für Teenager aus bescheidenen Verhältnissen. Alle diese Aktivitäten werden streng koscher geführt, jedes Heim verfügt über eine Synagoge, und die Schabbatot und anderen Feiertage werden in traditioneller Weise gefeiert (Bau einer Sukkah usw.).
Es ist unmöglich, an dieser Stelle die verschiedenen Dienstleistungen von Jewish Care in ausführlicher, ja nicht einmal in knapper Form vorzustellen. Anlässlich unseres Besuchs wurden uns zahlreiche erstaunliche aber auch rührende Anekdoten erzählt. Man berichtete uns von der gelähmten Dame, die eine Telefonlinie für Hilfeleistung, Beratung, Kontakt und Information für Behinderte geschaffen hat, die sie von ihrem Bett in einem spezialisierten Heim von Jewish Care aus leitet, mit Hilfe eines Computers, den ihr die Organsiation zur Verfügung stellt. Sie erhielt einen Orden von der Königin und begab sich per Ambulanz und... im Nachthemd in den Buckingham Palace ! Wir möchten uns daher mit den Aspekten befassen, die Jewish Care von den anderen grossen Sozialorganisationen in der ganzen Welt unterscheiden. Dazu muss betont werden, dass die Pflege und Unterstützung zu Hause zu den wichtigsten Anliegen von Jewish Care gehören, da es das Ziel der Organisation ist, die älteren Menschen so lange wie möglich in ihrer vertrauten Umgebung zu lassen. Noch vor einigen Jahren beschränkte sich die Heimpflege auf eine Haushalthilfe oder die Unterstützung beim Einkaufen; heute findet eine regelrechte Betreuung statt, manchmal rund um die Uhr; fast tausend Haushalte kommen in den Genuss dieser Dienstleistung. Jewish Care bietet ihre Aktivitäten nicht nur in den Londoner Quartieren mit einem hohen jüdischen Bevölkerungsanteil an, sondern auch in Regionen wie East-End der Hauptstadt, wo fast viertausend Juden leben, die man oft "die vergessenen Juden" nennt; es handelt sich um sehr alte, alleinstehende Menschen mit sehr bescheidenen Mitteln, die einsam in staatlichen Wohnungen leben, oft gar im 25. Stock eines Hochhauses ohne Aufzug. Sie verlassen ihre Wohnungen fast nie und es ist ihnen unmöglich, sich koschere Nahrungsmittel zu besorgen.

DIENSTLEISTUNGEN FÜR DIE ÜBERLEBENDEN DER SCHOAH

Dieses Zentrum besitzt ein reichhaltiges Programm mit sozialen und unterhaltsamen Aktivitäten, die es den Überlebenden endlich ermöglichen, sich gegenseitig zu unterstützen. Neben den Kunst-, Theater- und Schreibkursen (einer der Teilnehmer hat vor kurzem sein erstes Buch veröffentlicht) bieten diese Zentren auch Diskussionsgruppen an, sowie das Aufnehmen von Augenzeugenberichten usw. Hier kommen ungefähr tausend Personen zusammen, die ähnliche Tragödien und Schrecken durchgemacht haben und nun ihre Leiden miteinander teilen und von den diversen Angeboten des Zentrums profitieren können. Es existiert ebenfalls ein Therapiezentrum namens "Schalwata" (Friede des Geistes), in dem Überlebende oder direkte Nachkommen der Schoah-Opfer gepflegt werden; Angstzustände und emotionale Traumata werden hier regelmässig behandelt. Die davon betroffenen Personen haben sich in der Regel während ihrer Kindheit verstecken müssen und wurden für immer von ihren Familien getrennt. Dazu gehören ebenfalls die Ehefrauen der Überlebenden. In Schalwata werden auch Menschen betreut, die ein Familienmitglied nach einem Selbstmord verloren haben, oder aber sich ganz zurückgezogen haben und kaum mehr mit ihrer Umwelt kommunizieren können. Heute kommen auch 120 bosnische Flüchtlinge in dieses Zentrum, das zu einem Teil vom "World Jewish Relief" finanziert wird.

DIE TAGESSTÄTTEN

"Das Durchschnittsalter unserer Mitglieder liegt bei ungefähr 82 Jahren", wird mir von Ann Paul, der Direktorin der Tagesstätte "Michael Sobell Community Center", eines der fünf Zentren von Jewish Care, mit einem Augenzwinkern mitgeteilt. Fast 250 Personen suchen dieses Zentrum täglich auf, um zu Mittag zu essen (es wird zweimal serviert), an einer der zahlreichen Aktivitäten teilzunehmen oder ganz einfach aus ihrer Einsamkeit auszubrechen. Ein Bus- und Taxidienst von Jewish Care befördert ca. 120 Personen, die anderen legen den Weg ohne Hilfe zurück. Das Zentrum beschäftigt 280 Mitarbeiter, darüber hinaus ein Team von 90 Freiwilligen, die zum Teil vier Tage pro Woche für diesen Einsatz opfern. All diejenigen, die das Zentrum aufsuchen, werden zu Mitgliedern. Sie schreiben sich bei ihrer Ankunft am Morgen ein und bezahlen einen kleinen Unkostenbeitrag, der einen Tee mit einem Imbiss um zehn Uhr, das Mittagessen und die Teilnahme an allen Aktivitäten umfasst. Letztere sind vielfältiger Art und reichen von der Werkstatt für handwerkliche Arbeiten, Mal- und Kochateliers über einen Chor, jiddische und hebräische Sprachkurse bis zu Tai Chi und Altersturnen. Eine der am häufigsten besuchten Aktivität ist der sogenannte "Erinnerungsraum". Es handelt sich um einen Raum im Stil der Jahre 1900 bis 1930, in den sich die Mitglieder zum Austausch von Erinnerungen begeben können.
Die dadurch geschaffene Umgebung regt das Erinnerungsvermögen an und führt zu oft lebhaften Diskussionen. Die Mahlzeit verkörpert jeden Tag ein glückliches Ereignis. Es stehen verschiedenen Menüs zur Auswahl, doch es geht nicht ausschliesslich darum, die Mitglieder zu "ernähren". Es ist, als ob jeder zu einem kleinen Fest unter Freunden eingeladen würde, an dem er auch neue Menschen kennenlernt und vor Zeit zu Zeit gar kleine Romanzen entstehen. Es wird alles unternommen, um eine angenehme Atmosphäre zu schaffen. Vergessen wir nicht, dass die meisten Menschen, die hierher kommen, sehr einsam sind und oft in tragischen Situationen stecken. Der Besuch des Zentrums ist für sie eine Form des Ausgehens, und uns ist aufgefallen, dass die meisten sich für diesen Anlass besonders gut gekleidet hatten. Am Nachmittag finden in der Regel Gesellschaftsspiele mit Karten, Bingo, Quizwettbewerben usw. statt.
Das Zentrum verkörpert viel mehr als nur einen Ort der Begegnung und Zerstreuung. Er verfügt nämlich auch über einen Laden für koschere Produkte, fixfertige Mahlzeiten zum Aufwärmen, über einen Coiffeur und eine Maniküre für Männer und Frauen, eine Kleiderboutique speziell für ältere Menschen usw. Es werden ebenfalls Artikel für Leichtbehinderte, Seh- oder Hörbehinderte verteilt oder verkauft, wie beispielsweise lange Greifzangen, um Gegenstände aufzuheben ohne sich bücken zu müssen. Das Zentrum bietet auch Beratung und Unterstützung für die Mitglieder, falls diese persönliche Probleme oder Schwierigkeiten des Alltags zu lösen haben.
Das "Michael Sobell Community Center" verfügt ebenfalls über eine Abteilung mit Aktivitäten für leicht Geistigbehinderte, die von geschultem Personal geleitet wird.

Abschliessend können wir sagen, dass Jewish Care seinen Namen zu Recht trägt und dass der Slogan "Nobody cares like Jewish Care" der Realität genau entspricht. Es ist eine bemerkenswerte Organisation, welche die unzähligen Probleme, mit denen sie konfrontiert wird, effizient meistert und dabei mit Fachleuten zusammenarbeitet, die in ihren jeweiligen Bereichen zu den Besten gehören. Es bleibt zu hoffen, dass diese Tätigkeit von vielen anderen nachgeahmt wird.

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