News Neueste Ausgabe Befragung: Resultate Suchen Archiv Français English Русский עברית Español


Inhaltsangabe Analyse Frühling 1998 - Pessach 5758

Editorial - Frühling 1998
    • Editorial

Pessach 5758
    • Unser täglicher Exodus

Politik
    • Der Faktor Zeit

Interview
    • Optimismus und Realismus
    • Judentum - Zionismus - Demokratie
    • Begegnung mit Dr. Jonathan Sacks

Analyse
    • Zeuge unserer Epoche
    • Lasst uns freudig feiern

Kino
    • Aus der Hölle zum Leben... The Long Way Home

Judäa - Samaria - Gaza
    • Bauen und Entwickeln

Kunst und Kultur
    • Zehava B.
    • Das jüdische Museum in London
    • Jew's College
    • Jüdische Teppiche
    • Ausstellungen zu jüdischen Themen in Amerika

Gesellschaft
    • Jewish Care

Medizin
    • Typisch aschkenasisch !

Ethik und Judentum
    • Umwelt und individuelle Verantwortung

Artikel per E-mail senden...
Zeuge unserer Epoche

Von Roland S. Süssmann
Um das fünfzigjährige Jubiläum des israelischen Staates gebührend zu feiern, haben wir beschlossen, DOV SHILANSKI zu interviewen, einen Mann, dessen Leben 1924 im kleinen "Schtetel" Schalvi in Litauen begann. Als Zeitzeuge und Akteur der jüngsten Geschichte des jüdischen Volkes und Israels hat er in dieser von der Schoah und dem Wiederauferstehen des hebräischen Staates geprägten Epoche eine äusserst wichtige Rolle gespielt. Dov Shilansky bewährte sich in der jüdischen Widerstandsbewegung Litauens, wo er sehr schnell eine führende Position erlangte. Als 1940 die russischen Streitkräfte Litauen besetzten, erklärte man alle zionistischen Aktivitäten als illegal und die Verwendung der hebräischen Sprache wurde verboten. Dov Shilansky trat sofort der zionistischen Widerstandsbewegung bei und begann die hebräische Sprache und die jüdische Kultur zu verbreiten. Als die Deutschen zur Besatzungsmacht Litauens wurden, verhaftete man ihn, weil er ein Jude war. Die meisten seiner Leidensgenossen wurden ermordet, doch ihm gelang es auf wundersame Weise, den Massakern zu entgehen. Er zog ins Ghetto, wo er drei Jahre lang einer der Hauptanführer des jüdischen Widerstands war. 1944 wurde Dov Shilansky erneut von den Deutschen verhaftet und nach Dachau deportiert, wo er erneut der Widerstandsbewegung beitrat und einer ihrer Verantwortlichen wurde.
Am 1. November 1945 wurden Dov Shilansky und seine Gruppe während eines Zwangsmarsches, als die Gefangenen von Dachau der in Richtung Tirol zurückweichenden deutschen Armee folgten, von den amerikanischen Streitkräften befreit. Obwohl sie erschöpft, ausgehungert und seelisch am Ende waren, schufen Dov Shilansky und seine Freunde ein jüdisches Zentrum, dessen Zweck es war, die illegale Einreise nach Eretz Israel zu erleichtern. Dov meldete sich ohne zu zögern als Freiwilliger, um die Juden von Italien ins Heilige Land zu bringen, und unternahm so unter grosser persönlicher Gefahr zahlreiche Reisen. 1945 stellte er den Kontakt mit Irgun (Etzel) her, der die immer noch in Israel stationierten britischen Streitkräfte militärisch bekämpfte. 1947 ernannte man Dov Shilansky zum Verantwortlichen des Irgun in Italien. Die britische Botschaft in Rom war damals das grösste englische Informationszentrum in bezug auf die illegale jüdische Immigration nach Palästina. Dov Shilansky und seine Freunde sprengten sie in die Luft und sofort wurde eine Menschenjagd quer durch ganz Europa organisiert; er wurde jedoch nie gefunden. Er floh nach Deutschland, wo er eine Zweigstelle des Irgun gründete, denn in diesem Land hielten sich am meisten jüdische Flüchtlinge und potentielle Kandidaten für die Einreise nach Israel auf.
1948 liess sich Dov Shilansky in Israel nieder. Er reiste auf der "Altelena", einem von Irgun gecharterten Schiff ein, auf dem sich neben grossen Mengen Sprengstoff und Waffen auch 800 junge Juden befanden, von denen fast alle eine militärische Ausbildung erhalten hatten. Als sie am 20. Juni 1948 vor der israelischen Küste eintrafen, liess die neue Regierung des hebräischen Staates das Schiff und seine Passagiere beschiessen. Dov Shilansky beendete seine Reise schwimmenderweise im Wasser. Sofort nach seiner Ankunft in Israel meldete er sich als Freiwilliger in der Armee und kämpfte Seite an Seite mit denjenigen, die kurz zuvor auf sein Schiff geschossen hatten. Er war an der Befreiung Galiläas beteiligt und spielte nach und nach eine immer wichtigere Rolle in Israel. Seit 1977 war er Knessetabgeordneter und erhielt 1988 den ehrenvollen Posten des Parlamentsvorsitzenden. Als er in Israel wegen illegaler Demonstrationen gegen die Normalisierung der Beziehungen des jüdischen Staates mit Deutschland im Gefängnis gelandet war, begann er sein Rechtsstudium. Dov Shilansky gehörte zahlreichen Minister- und Parlamentskommissionen sowie verschiedenen juristischen Ausschüssen an. Heute hat er sich aus der Politik zurückgezogen und ist als Anwalt in Tel Aviv tätig.


Vor fünfzig Jahren gehörten Sie zu denjenigen, die sich an der Schaffung des Staates beteiligten. Sie haben sich immer für die jüdische Sache eingesetzt. Wie sehen Sie heute den Staat Israel, diesen jugendlichen Fünfzigjährigen?



Glauben Sie, dass der "Pioniergeist", der in Israel vorherrschte, als Sie 1948 hier eintrafen, noch heute vorhanden ist?

Selbstverständlich, die Motivation ist immer noch da. Jede Generation denkt, sie sei die beste und sagt: "Schaut die heutige Jugend an, was soll aus uns werden?" Zwei Beispiele, die wir in Israel erlebten, beantworten diese Frage besonders gut. Vor dem Sechstagekrieg dachten alle, die jungen Leute mit den langen Haaren seien zu nichts fähig. Die Ereignisse haben sie vom Gegenteil überzeugt. 1973, als unsere Regierung schrecklich handelte und bewusst die Augen verschloss, verteidigte unsere Jugend des Staat unter Einsnatz ihres Lebens. Dasselbe gilt auch heute noch. Bedenken Sie den Preis, den wir gegenwärtig im Libanon zahlen, um unsere Einwohner im Norden Israels zu beschützen. Es handelt sich nicht um eine Aktion der Elite, an der nur die Besten teilnehmen dürfen, unsere jungen Leute sind motiviert und finden es normal, ihren Teil für die Gesellschaft zu leisten. Es wächst also eine hervorragende neue Generation heran. Ich persönlich denke, auch dazu zu gehören, denn ich habe mich entschieden der Zukunft zugewandt und lebe keinesfalls in der Vergangenheit. Ich bin nicht besonders optimistisch, aber ganz einfach praktisch und realistisch. Ich gebe mich keinen Illusionen hin, doch ich sehe, was um mich herum in Israel geschieht, und ich habe gute Gründe, der Zukunft voller Vertrauen und Hoffnung entgegenzusehen. Dies bedeutet nicht, dass ich alles durch eine rosarote Brille sehe, dass alles herrlich und problemlos ist. Wie damals, als ich Parlamentarier war, reise ich heute durch das Land und pflege regelmässige Kontakte mit allen Bevölkerungsschichten. Im Verlauf der vergangenen fünfzig Jahre habe ich Befriedigung erlebt, aber auch zahlreiche Schwierigkeiten und Enttäuschungen hinnehmen müssen. Wenn ich aber beobachte, wie sich das Land verändert und entwickelt, stelle ich fest, dass es ganz einfach phantastisch ist!
Wir Juden stellen uns immer wieder in Frage und kritisieren uns selbst. Keine andere Nation geht so streng mit sich ins Gericht wie wir. Es handelt sich weniger um Selbstkritik als um eine ständige Selbstkontrolle, was mich zu sagen veranlasst, dass unser Land zwar herrlich ist, dass wir aber auch eine herausragende Nation darstellen. Ich habe unser Volk leider in wirklich aussergewöhnlichen Situationen erlebt, in den Ghettos, in Dachau und während der Kriege, die Israel führen musste, und in diesen schwierigen Momenten bin ich zum Schluss gekommen, dass wir eine aussergewöhnliche Nation sind.


Trotz allem erleben wir immer wieder Taten, die man als selbstzerstörerisch bezeichnen könnte, wie beispielsweise die Unterzeichnung der Osloer Abkommen. Wie erklären Sie sich dies?

Wie kann man erklären, weshalb es so weit gekommen ist? Dies ist Teil einer höheren Realität, die besagt, dass wir schon seit jeher die Freiheit für alle und die ganze Welt verlangen und dabei ganz vergessen, an unsere eigenen Interessen zu denken. In diesem Sinne haben wir vergessen, dass wir in erster Linie der Jüdische Staat und nicht ein "Staat von Bürgern" sind, wie bestimmte Leute uns einreden möchten. Wir haben kein anderes Land und sind verpflichtet, dieses hier zu schützen. Man muss sich klar machen, dass es sich jedesmal, wenn wir uns voller Überzeugung für eine gerechte Sache einsetzten, für uns gelohnt hat, insbesondere für unsere Beziehungen zu anderen Ländern. So hat beispielsweise kein anderes Volk auf der Welt Franco so massiv bekämpft wie gerade die jüdische Nation. Gruppen von jüdischen Soldaten haben sich aus Palästina nach Spanien begeben, um am Kampf gegen Franco teilzunehmen, und es ist dennoch eine Tatsache, dass alle Juden, die während des Zweiten Weltkriegs an die Grenze des frankistischen Spaniens kamen, dort Zuflucht fanden und gerettet wurden. Parallel dazu möchte ich das Beispiel der beiden Flüchtlinge anführen, die nach ihrer erfolgreichen Flucht aus Auschwitz in die Schweiz kamen, wo sie von der helvetischen Polizei verhaftet wurden. Trotz ihrer Erklärung, sie würden öffentlich erhängt werden, falls sie den Deutschen übergeben würden, lieferten die Schweizer sie an ihre Henker, die Nazis aus. Um das Phänomen zu erklären, dass wir oft Taten begehen, die uns langfristig nur schaden können, glaube ich sagen zu können, dass wir uns in zweitausend Jahren angewöhnt haben, an die grossen, schönen Ideen zu glauben, die sich im Leben und in der Wirklichkeit letztlich als schreckliche Tragödien herausstellten. Dies drückte sich schon dadurch aus, dass unzählige Juden an den Kommunismus glaubten, so wie sie an die Osloer Abkommen glauben, die auch einen schwerwiegenden Irrtum darstellen.


Wissen Sie, vor welchen Herausforderungen der jüdische Staat zu Beginn dieses neuen Abschnitts von fünfzig Jahren stehen wird, der sich vor ihm auftun?

Wir sind noch auf dem Weg zur "totalen Erlösung". Unsere Aufgabe ist noch nicht abgeschlossen und unsere Pflicht noch lange nicht getan. Es wird bestimmt nicht leicht sein, wir werden weiterhin kämpfen müssen, denn wir befinden uns immer noch im Kriegszustand und dürfen die Augen keine Minute schliessen. Wir müssen mit dem Aufbau unseres Staates fortfahren und überall Häuser errichten, vor allem in Judäa-Samaria und im Gazastreifen. Vergessen wir nicht, dass alle diese Gebiete uns gehören, und wenn wir denken, dass Hebron nicht uns gehört, dann gehört uns Tel Aviv auch nicht. Ich war immer der Meinung, es sei nicht ratsam, eine zu dichte Bevölkerungskonzentration ausschliesslich auf dem Küstenstreifen zu haben. Wir müssen überall präsent sein, denn wenn die Alijah sich unseren Wünschen gemäss weiterentwickelt, müssen wir diese neuen Ankömmlinge unterbringen können.
Was die Immigration anbetrifft, erleben wir auch da ein höchst aussergwöhnliches, aber auch schwer zu begreifendes Phänomen. Zur Zeit der Schoah waren die Juden willens, ihren gesamten Besitz hinzugeben, um Papiere zu erhalten, die sie als Arier auswiesen. Diese Dokumente konnten lebensrettend sein. Heute sind hingegen Tausende von Menschen, vor allem in den GUS, bereit, falsche Papiere teuer zu bezahlen oder gar falsche Papiere herzustellen, die beweisen, dass sie Juden sind, mit dem einzigen Ziel, sich in Israel niederlassen zu dürfen. Welcher Wechsel innert kürzester Zeit!
Ich möchte dieses Gespräch mit der Bemerkung abschliessen, die Ihren Lesern vielleicht missfallen wird. Ich werde Zeew Jabotinsky zitieren, der vor dem Zweiten Weltkrieg von Land zu Land, von Dorf zu Dorf zuog, um mit den Juden zu reden und ihnen zu sagen: "Erledigt die Galluth (das Exil), bevor euch die Galluth erledigt." Er wurde von allen Seiten abgelehnt und "jüdischer Antisemit" genannt. Als ich mich in einem Konzentrationslager befand, traf ich zahlreiche Menschen an, die es bitter bereuten, ihn nicht angehört zu haben. Man muss sich bewusst sein, dass das, was gestern stimmte, auch heute noch richtig ist. Es gibt keine gute Galluth, nur eine schlechte und eine ganz schlechte. Geben wir uns keinen Illusionen hin: vor Hitler hatten die Juden in Deutschland mehr Einfluss, als sie heute in Amerika besitzen. Sie waren mächtig, überall vertreten und sowohl gesellschaftlich als auch kulturell bemerkenswert gut integriert. Die Folge ist allgemein bekannt... Heute haben wir ein Land, einen Staat, einen Zufluchtsort und eine Heimat, kurz, ein kleines Paradies, in dem jeder Jude willkommen ist!

Contacts
Redaction: edition@shalom-magazine.com   |  Advertising: advert@shalom-magazine.com
Webmaster: webmaster@shalom-magazine.com

© S.A. 2004