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Inhaltsangabe Polen Herbst 2006 - Tischri 5767

Editorial
    • Editorial - September 2006 [pdf]

Rosch Haschanah 5767
    • Licht und Gelassenheit [pdf]

Politik
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Interview
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Strategie
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Reportage
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Analyse
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    • Negationismus - Antizionismus Antisemitismus [pdf]
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Wissenschaft und Verteidigung
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Israel-Japan
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    • Jerusalem und Tokio [pdf]

Polen
    • Jerusalem und Warschau [pdf]
    • Die andere Revolte [pdf]
    • Polnische Realität [pdf]
    • Verband der Jüdischen Kultusgemeinden in Polen [pdf]
    • Den Antisemitismus bekämpfen [pdf]
    • Jude und Pole [pdf]
    • Jiddisch [pdf]
    • Chabad in Polen [pdf]
    • So Weit das Auge reicht [pdf]
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Ethik und Judentum
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Das Gute Gedächtnis
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Jerusalem und Warschau

Von Roland S. Süssmann
Die Erwähnung dieser beiden Hauptstädte ruft die Erinnerung an eine zugleich vielfältige und schreckliche historische Vergangenheit hervor, in der viel jüdisches Blut geflossen ist und die auch geprägt war von einem weltweit einmaligen religiösen, kulturellen und intellektuellen Aufschwung der Juden. 800 Jahre jüdisches Leben in Polen wurden innerhalb kürzester Zeit ausgelöscht, und doch sind die Beziehungen zwischen diesem Land und Israel heute, 60 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz, äusserst intensiv. Wir wollten uns ein genaueres Bild machen vom Zustand des Verhältnisses zwischen den beiden Nationen und haben ein Gespräch mit S.E. DAVID PELEG geführt, dem israelischen Botschafter in Polen. Er empfing uns mit grosser Warmherzigkeit in seinem Büro in Warschau.

Sie werden uns gleich den aktuellen Stand der Beziehungen zwischen den beiden Ländern schildern. Könnten Sie uns vorher einen kurzen historischen Abriss dieser Beziehungen geben? Vor welchem Hintergrund findet ihre Weiterentwicklung statt?

Die diplomatischen Beziehungen zwischen Israel und Polen wurden vor ca. 15 Jahren wieder aufgenommen, als der Kommunismus zusammenbrach und in diesem Land eine neue demokratische Regierung an die Macht kam. Seither wurden die Beziehungen in allen möglichen Bereichen ausgebaut, und beide Seiten beschreiben das Verhältnis als «ausgezeichnet und strategisch sinnvoll». Im politischen Bereich haben sie sich natürlich verbessert, vor allem seit Polen 2004 der EU beigetreten ist. Polen unternimmt alles, damit sein Standpunkt in Bezug auf den Nahen Osten im Allgemeinen und Israel im Besonderen gehört und auch akzeptiert wird. Was Sicherheitsfragen angeht, muss ich zugeben, dass die beiden Armeen vorbildlich zusammenarbeiten. Dies gilt auch im Hinblick auf die Militärindustrie beider Länder. Vor zwei Jahren haben wir einen bedeutenden Kaufvertrag für Panzerabwehrraketen abgeschlossen. Auf wirtschaftlicher Ebene werden umfangreiche israelische Investitionen in Polen getätigt, im vergangenen Jahr waren es fast 2 Mrd. Dollar, insbesondere für den Bau von grossen Hotels, Einkaufszentren usw. Da gibt es meiner Ansicht nach ein riesiges Potenzial für israelische Unternehmen, weil ein Grossteil der allgemeinen und der verkehrstechnischen Infrastruktur rundum modernisiert, manchmal gar von Grund auf neu erschaffen werden muss. Es wird auch in die Leichtindustrie investiert; so hat Elite, die israelische Kaffee- und Schokoladenfabrik, ein Werk in Polen eröffnet. Ich habe allen Anlass zur Annahme, dass sich dieser Trend in den kommenden Jahren fortsetzen wird. Auf kultureller Ebene finden in Polen das ganze Jahr über zahlreiche israelische Aufführungen und Ausstellungen statt. Ausserdem werden hier regelmässig jüdische Kulturfestivals abgehalten, am berühmtesten dieser Anlässe wird jeden Sommer in Krakau jüdische Musik präsentiert (Klezmer, Chöre, jiddisches Theater und liturgische Musik). Die polnische Regierung hat beschlossen, 2008 zum polnischen Kulturjahr in Israel zu erklären.
Diese ganze Entwicklung ist natürlich positiv zu werten, doch die Beziehungen zwischen unseren beiden Völkern zeichnen sich natürlich durch etwas ganz Spezielles aus. Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten hier nämlich 3,5 Mio. Juden, von denen die meisten während der Schoah umgebracht wurden. Heute bleibt nur noch eine winzige jüdische Gemeinschaft übrig, die wir auch unterstützen. In Wirklichkeit weiss niemand genau, wie viele Juden in Polen leben. Es gibt jene, die ihre jüdische Identität noch geheim halten möchten; andere glauben jüdisch zu sein, können aber mit keinem Dokument ihre Identität beweisen und so fort. Ich gehe davon aus, dass etwa 20’000 bis 30'000 Juden in Polen leben müssen. In mehreren Städten des Landes gibt es Kultusgemeinden, wobei die bedeutendste sich in Warschau befindet. Die Hälfte meiner Zeit verbringe ich damit, mich um jüdische Probleme zu kümmern. Für die polnische Regierung ist es wichtig zu wissen, dass wir als Nation sehr wohl verstehen, dass die Schoah auf polnischem Boden von Nazideutschland und nicht von der polnischen Bevölkerung durchgeführt wurde. Natürlich gab es hier – wie überall im besetzten Europa – Kollaborateure, doch rund 30% der Menschen, welche die Medaille der Gerechten von Yad Vaschem für die Unterstützung und Rettung von Juden während des Kriegs erhalten haben, sind Polen, d.h. ca. 6'000 Personen. Ich möchte auch hinzufügen, dass für uns Israelis eine Reise nach Polen und vor allem ein Besuch von Auschwitz einfach Teil unserer nationalen Identität ist. Fast jeder Offizier von Tsahal kommt nach Polen, dies gehört fest zum Ausbildungsprogramm der Armee. Darüber hinaus reisen ungefähr 25'000 bis 30'000 Gymnasiasten jedes Jahr nach Polen. Bis vor zwei Jahren beschränkte sich dieser Besuch meist auf eine Wallfahrt in die Todeslager. Nun haben wir die Natur dieser Reisen etwas abgeändert, so dass die Schüler heute auch jüdische Kulturstätten aufsuchen, die bereits vor der Schoah existierten, und sie entdecken das Ausmass des jüdischen Beitrags zum Aufschwung und zum Leben in Polen im Laufe tausendjährigen jüdischen Präsenz. Sie werden ebenfalls mit der polnischen Kultur konfrontiert, lernen das moderne Polen kennen und, ein besonders wichtiger Aspekt in unseren Augen, treffen junge Polen im gleichen Alter.

Wie spielen sich denn nun die Beziehungen der einzelnen Menschen untereinander ab, unabhängig von den bilateralen Beziehungen zwischen den beiden Staaten?

Dieser Punkt ist alles andere als einfach. Alle diese Begegnungen finden effektiv vor einem sehr starken emotionalen Hintergrund statt. Doch wir glauben, dass sie sich letztendlich langfristig positiv auswirken, selbst wenn sie oft sehr hart und schmerzhaft sind.

Sie haben die jüdischen Probleme erwähnt, die bis zu 50% Ihrer Zeit in Anspruch nehmen. Worum geht es dabei eigentlich?

Zunächst einmal besuche ich sehr viele Todeslager. Wir verhandeln ununterbrochen mit der polnischen Regierung, damit diese Orte korrekt erhalten und zugänglicher gemacht werden (Wartungsarbeiten, Bau von neuen Toiletten, Verbreitung von Informationen zu diesen Stätten usw.). In Polen muss man sorgfältig unterscheiden zwischen Konzentrationslagern und Todeslagern, wobei Auschwitz-Birkenau eine Kombination von beiden darstellt. Die Todeslager waren mit dieser Funktion ausschliesslich für die Juden errichtet worden, dazu gehören z.B. Belzec, Chelmno und Treblinka. Wenn ein Jude in einem dieser Lager eintraf, blieben ihm nur noch ein paar Stunden zu leben. Niemand hat hier je die Nacht verbracht, und nur einer Hand voll von Deportierten ist die Flucht oder das wundersame Überleben gelungen. Heute gleichen diese Orte riesigen Friedhöfen. In Belzec wurden 500'000 Juden ermordet, in Chelmno waren es 300'000, in Treblinka 800'000 usw. Wir arbeiten also mit der polnischen Regierung zusammen, damit diese Lager in echte Museen umgewandelt werden und die Besichtigung interessanter und aufschlussreicher wird. Wir suchen alle Regionen auf, in denen Juden gelebt haben: in Provinzen wie Galizien gab es Ortschaften, deren Bevölkerung sich aus 50 bis 80% Juden zusammensetzte. Im Laufe eines typischen Besuchs treffen wir natürlich die lokalen Politiker, doch es liegt uns am Herzen, auch den jüdischen Friedhof aufzusuchen. Heute gibt es in Polen fast 1'000 jüdische Friedhöfe, die meisten von ihnen wurden von den Deutschen zerstört…, die übrigen später von den Kommunisten verwüstet. Grabmäler wurden zertrümmert oder auseinander genommen, um Strassen oder Häuser zu bauen. Kürzlich hat man mir davon berichtet, wie jüdische Grabsteine für den Bau des Hauptquartiers der lokalen Gestapo entwendet wurden. Es stimmt, dass die Friedhöfe von Lodz und Warschau, die je über 200'000 Gräber umfassen, verschont geblieben sind. Doch dies war in den kleineren Städten nicht der Fall.

Und wofür setzen Sie sich heute ganz konkret ein?

Wir handeln gemäss den Regeln der Halachah (jüdische Gesetzgebung) und versuchen zunächst festzulegen, bis wohin der Friedhof genau reichte. Notfalls kaufen wir das betreffende Land auf. Dann versuchen wir die Überreste der Grabsteine zusammenzutragen und errichten aus ihnen ein Mahnmal zur Erinnerung. Wenn noch vollständige Grabsteine vorhanden sind, bemühen wir uns, sie restaurieren zu lassen. Dort, wo Synagogen, bedeutende jüdische Quartiere oder Ghettos standen, lassen wir Gedenktafeln anbringen. Falls die Gebäude der Gemeinden noch stehen, werden sie an den Verband der Kultusgemeinden zurückgegeben. Erfahren wir, dass ein Gedenktag stattfindet, organisieren wir ein Mynian, um ein individuelles oder gemeinschaftliches Jahrzeit begehen und den Kaddisch an dem Ort sagen zu können, wo noch gestern blühendes Leben herrschte, während heute alles judenrein ist. Wir reisen von Gemeinschaft zu Gemeinschaft, deren Namen einst einen grossen Klang in der jüdischen Geschichte besassen. Und schliesslich arbeiten wir mit den Stadtverwaltungen zusammen, damit jüdische oder israelische Kulturprogramme in den Schulen durchgeführt werden.

Sie sind oft unterwegs und pflegen intensive Kontakte zur Bevölkerung. Wie wird Israel Ihrer Ansicht nach heute in Polen wahrgenommen?

Meiner Meinung nach geniessen wir hier mehr Sympathie als in vielen Ländern Westeuropas. Die Polen sagen uns, dass sie – wie wir – auf eine bewegte Geschichte zurückblicken: die Teilung Polens, erstes von Nazideutschland besetztes Land, Kommunismus usw. Folglich haben sie den Eindruck, uns besser verstehen zu können als andere Nationen. Dies ist nicht ganz abwegig, und Probleme, die anderswo in Europa viel Staub aufwirbeln, sind hier kaum der Rede wert. Nehmen wir das Beispiel des Sicherheitszauns, das in Europa so stark bestritten wird, dessen Zweck ich hier nie erklären oder rechtfertigen musste. Ausserdem haben die Polen bei der Bekämpfung des Antisemitismus Fortschritte gemacht, auch wenn dieser noch nicht ganz ausgemerzt wurde. Er kommt nicht durch brutale körperliche Angriffe zum Ausdruck, aber die Karikatur des geldgierigen, über okkulte und allgegenwärtige Kräfte verfügenden Juden ist in den Köpfen immer noch gegenwärtig. Irgendwann wurde an den Kiosken sogar die Figur eines bärtigen Mannes mit Hakennase, schwarzem Mantel und schwarzem Hut verkauft, der gerade seine Münzen zählt. Wir mussten einschreiten, damit diese Spottfigur des Juden wieder aus dem Handel gezogen wurde, doch man erklärte uns, sie habe doch nichts Antisemitisches, es handle sich bloss um einen Gnom…

Die amtierende Koalition hat sich vor kurzem mit Parteien des rechtsextremen Spektrums zusammengetan, die sich offen zum Antisemitismus bekennen. Wie beurteilen Sie diese jüngste Entwicklung?

Es haben sich der Koalition effektiv zwei Parteien angeschlossen, die eine ist populistisch, die andere offen antisemitisch. Was dem Fass den Boden ausschlägt, ist die Tatsache, dass der Abgeordnete der letztgenannten Partei zum Bildungsminister ernannt wurde, dem wichtigsten Akteur bei der Verbesserung der Beziehungen zwischen Juden, Israelis und Polen! Wir haben sowohl dem Ministerium in Jerusalem als auch der hiesigen Botschaft unsere diesbezügliche Besorgnis mitgeteilt. Ich habe mit allen betroffenen Personen gesprochen, mit dem Präsidenten, dem Aussenminister und anderen, die mich alle sofort zu beruhigen versuchten, indem sie ihre Freundschaft zu Israel beteuerten und betonten, dieser Minister könne kein Unheil anrichten, sie würden persönlich den Kampf gegen den Antisemitismus intensivieren usw. Ich wies darauf hin, es sei ausgeschlossen, dass wir Kontakte zu diesem Minister pflegten, und wir würden uns grosse Sorgen darum machen, was im Rahmen dieses Ministeriums nun geschehen könne. Angeblich prüft man nun einen Vorschlag, um alles aus diesem Ministerium auszulagern, was im Bildungswesen mit Israel, den Juden und dem Antisemitismus zu tun hat. Dies könnte eine Lösung darstellen, obwohl das weitere Verbleiben dieser Partei in der Koalition äusserst problematisch bleibt. Möglicherweise entpuppt sich der Angriff gegen den Oberrabbiner von Polen, der Anfang Juni dieses Jahres verübt wurde, nur als einmaliger Vorfall, doch ich fürchte, dass sich antisemitische Elemente durch diese neue politische Allianz ermutigt fühlen. Dies könnte mit der Zeit schwere Gewalttaten bewirken. Ich muss aber sagen, dass die Regierung diese Angelegenheit sehr ernst nimmt und dass nach dem Angriff auf den Rabbiner nachhaltige Massnahmen ergriffen wurden, damit sich derartige Vorfälle nicht wiederholen.

Sie haben die Europäische Union erwähnt. Es ist allgemein bekannt, dass Polen bis zu seinem EU-Beitritt eine sehr israelfreundliche Position vertrat, was das Land übrigens im Rahmen der UNO unter Beweis stellte. Konnten Sie seit dem EU-Beitritt irgendeine Veränderung beobachten?

Während den zwei, drei Jahren vor der Aufnahme der zehn neuen Mitglieder in die EU haben wir in Jerusalem festgestellt, dass diese Länder uns insgesamt wohlgesinnter gegenüberstanden als die EU-Mitgliedstaaten. Vor ihrem Beitritt haben wir uns demnach lange mit ihnen unterhalten und sie über unsere Hoffnungen und Erwartungen ins Bild gesetzt, sollten sie aufgenommen werden. Wir wünschten uns nicht nur, dass sie ihre Einstellung beibehalten würden, sondern auch, dass sie alles unternehmen, um die Position der EU zu beeinflussen und eine grössere Ausgewogenheit in Bezug auf uns zu erreichen. Meiner Ansicht nach tritt diese Entwicklung nun ein, denn die Neumitglieder sind nicht bereit, die Ideen und Beschlüsse der grossen westeuropäischen Länder als der Weisheit letzter Schluss hinzunehmen. Vor allem Polen und die Tschechische Republik bekennen sich zu ihrer Meinung und zu ihren abweichenden Ansichten, und dafür sind wir ihnen sehr dankbar. Interessant ist auch die Beobachtung, dass die polnische Regierung im Zusammenhang mit den Gedenkfeiern für die Schoah und bei der Bekämpfung des Antisemitismus innerhalb der internationalen Gemeinschaft eine entscheidende und wichtige Rolle spielt. Auch nicht zu vernachlässigen ist die Tatsache, dass Polen zusammen mit Grossbritannien, Frankreich, Deutschland, Italien und Spanien zu den sechs grossen Staaten der EU gehört. Übrigens wurde die orange Revolution in der Ukraine dank der Stimme Polens von den Europäern unterstützt.

Sie erwähnen das moderne Polen, mit allen Massnahmen zur Bekämpfung des Antisemitismus einerseits und andererseits der Tatsache, dass die gewählte Regierung beschlossen hat, eine sehr enge Koalition mit einer antisemitischen Partei einzugehen. Wie sind diese beiden Elemente miteinander zu vereinbaren?

Es stimmt, was Sie sagen, und wir sind, ich betone es noch einmal, sehr besorgt, dass einer antisemitischen Partei so viel Ehre zuteil wird. Ich glaube aber, dass es in der Tat ein modernes Polen gibt, das in der Bewegung von Lech Walesa, Solidarnosc, verwurzelt ist und alles unternimmt, um die Freiheiten der Bürger zu garantieren. Vergessen wir nicht, dass heute eine Form des Antisemitismus in einem Land zu beobachten ist, in dem praktisch keine Juden mehr leben. Natürlich hat das moderne Polen grosse Fortschritte gemacht, doch es bleibt noch viel zu tun, insbesondere im Bildungswesen, durch die Verabschiedung bestimmter Gesetze usw. Wir hoffen, dass dies alles nicht zu lange auf sich warten lässt. Ja, Polen richtet sich auf den Westen aus, auch wenn heute die Beziehungen zu Russland allmählich wieder aufgenommen werden und auf einer vernünftigeren und weniger emotionalen Basis beruhen.

Wie steht es um den Einfluss der arabischen Welt?

Die Polen möchten gute Beziehungen zu zahlreichen Ländern pflegen. Die arabischen Botschaften sind nicht sehr aggressiv und betreiben im Allgemeinen keine Propaganda gegen Israel. Gegenwärtig leben rund 4'000 Muslime in Polen. Es gibt eine iranische Botschaft, und als der iranische Präsident erklärte, Auschwitz sei eine Legende, fühlten sich die Polen persönlich beleidigt. Sie beschlossen, den iranischen Botschafter an eine Versammlung einzuladen, an die jemand vier Schachteln mit Originaldokumenten zu Auschwitz mitbrachte und dazu meinte: «Wir haben erfahren, wie sehr sich Ihr Präsident für die Schoah im Allgemeinen und für Auschwitz im Besonderen interessiert. Hier sind vier Schachteln mit Papieren, die Sie ihm bitte überbringen und die er sicher mit grossem Eifer studieren wird». Auf der anderen Seite möchte ich den Protest erwähnen, den der Sprecher des Aussenministeriums anlässlich der Rede des iranischen Präsidenten aussprach, in der dieser die Vernichtung Israels forderte. Der polnische Minister erklärte insbesondere: «… Für uns handelt es sich um aussergewöhnlich schlimme Aussagen, denn Deutschland hat hier, auf unserem Boden, alle Juden zu vernichten versucht ».

Wie haben Sie den Besuch von Benedikt XVI. in Polen erlebt?

Ich persönlich fand es höchst eigenartig, in Auschwitz, wo über eine Million Juden ermordet wurden, an einer durch und durch christlichen Feier teilzunehmen. Der Vatikan hatte eine jüdische Delegation sowie die israelische Botschaft dazu eingeladen, was an sich nicht viel bedeutet. Dem Papst ging es vor allem darum, so früh wie möglich eine Wallfahrt in das Land seines Vorgängers zu machen. Als Deutscher empfand er es als korrekt, Auschwitz-Birkenau aufzusuchen, wobei diesem Teil seiner Reise die grösste Bedeutung zukam. Ich empfand die Tatsache, dass er in seiner Ansprache den Antisemitismus mit keinem Wort erwähnte, als einen schweren Fehler, denn ein Aufruf des Papstes aus Auschwitz, den Antisemitismus zu bekämpfen, hätte sicher grosse Wirkung gezeitigt. Darüber hinaus stellte seine Aussage betreffend «sechs Millionen polnischer Opfer» ohne Hervorhebung der in Gaskammern und Verbrennungsöfen ermordeten Juden auch keine Sternstunde dar. Ich höre sowieso sehr oft, dass in Auschwitz «Menschen verschiedener Nationalitäten ermordet wurden». Das trifft zu: es gab da französische Juden, polnische Juden, ungarische Juden und viele andere. In Lagern wie Belzec und Chelmno waren alle Opfer ausnahmslos Juden, in Auschwitz immerhin 95%. Da es der Papst nicht für nötig hielt, auf dieses Detail hinzuweisen, ging ich nach der Feier zu ihm und stellte klar: «Ihr Besuch an einem Ort, an dem eine Million Juden, d.h. 95% der Opfer von Auschwitz, umgebracht wurden, war meines Erachtens sehr wichtig». Er hat mir nicht geantwortet. Bei seinem Besuch in Warschau ist er durch das Ghetto gekommen, hat aber nicht einmal angehalten.

Zum Schluss – mit Ihrer Erlaubnis – noch eine persönliche Frage. Im Verlauf Ihrer Karriere haben Sie Ihr Amt in verschiedenen Ländern rund um den Erdball ausgeübt. Inwiefern ist Ihre Berufung nach Polen etwas Besonderes?

Zunächst fühle ich mich diesem Land speziell verbunden, da mein Grossvater an der Grenze zwischen Polen und Litauen geboren wurde. Ich habe aber auch das Gefühl, hier eine eigentliche Mission zu erfüllen. Jeden Morgen frage ich mich, was ich im Vergleich zum Vortag besser machen könnte, um die Erinnerung an die sechs Millionen Juden lebendig zu erhalten. Diese Verpflichtung lastet ständig auf mir. Eines der ersten Lager, das ich als israelischer Botschafter aufsuchte, war Maidanek. Ich spürte deutlich die Botschaft jener, die hier ermordet worden waren: «Gib nie auf, sei klar und ausdauernd». Ich fühle mehr denn je, dass ich nicht nur der Botschafter des souveränen Staates Israel bin, sondern auch der Botschafter aller Juden … seien sie tot oder lebendig. Dies habe ich zum polnischen Staatspräsidenten gesagt, als ich ihm mein Akkreditiv überreichte.



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