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Inhaltsangabe Ethik und Judentum Herbst 1996 - Tischri 5757

Editorial - September 1996
    • Editorial

Rosch Haschanah 5757
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Politik
    • In der Fallstricke von Oslo
    • Post Renebras... Lux

Interview
    • Perspektiven und Tatsachen
    • Ein Chassid im Dienste der Nation

Shalom Tsedaka
    • Würde - Effizienz - Schweigen

Analyse
    • Ton- und Richtungswechsel
    • Die israelischen Araber - Eine Frage der Identität
    • Graue Eminenzen

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Ethik und Judentum
    • Information und Unabhängigkeit

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Information und Unabhängigkeit

Von Rabbiner Shabtaï A. Rappoport *
H. ist ein junger Mann von zwanzig Jahren, intelligent und dynamisch. Letztes Jahr erkrankte er an einem bösartigen Lymphomtyp. Nach einer gelungenen Rückenmarktransplantation von Optimismus erfüllt, musste er einige Monate später mit einem Rückfall fertig werden, als sein Körper erneut von den überlebenden Krebszellen amgegriffen wurde. Angesichts der Perspektive, den Kampf gegen den Krebs mit einem von früheren Behandlungen geschwächten Organismus wieder von vorne aufzunehmen, wurde H. zunächst von tiefer Entmutigung überfallen.

Sein Glaube und sein Lebenswillen gewannen jedoch die Oberhand und er beschloss, die Krankheit bis zum Schluss zu bekämpfen. Sein Arzt erstellte ein neues Protokoll für die Chemotherapie, dem sich H. voller Hoffnung auf eine eventuelle Genesung unterwarf. Als begeisterter Internetsurfer begann H. nach den neuesten Informationen zu seinem Zustand und zu seiner Behandlung zu forschen. Gross war seine Überraschung, als er entdeckte, dass die im Rahmen seiner Chemotherapie verschriebenen Dosen subtherapeutisch waren ! Mit dieser Tatsache konfrontiert bestätigte sein Arzt die Information letztendlich und enthüllte seinem Patienten, er halte seine Heilungschancen für extrem gering, seinen Fall für hoffnungslos. Unter diesen Umständen sei er davon ausgegangen, eine vollständige chemotherapeutische Behandlung stelle eine unzumutbare Tortur dar, die in seinen Augen sinnlos sei. Daher hatte er nur kleine Dosen verschrieben, welche einfach seine Leiden vermindern sollten. H. war wütend.

"Warum", fragte er seinen Arzt, "haben Sie mich nicht vollumfänglich über meinen Zustand informiert ? Wieso habe ich die Entscheidung nicht selber treffen dürfen ? Niemand hat das Recht, an meiner Stelle zu entscheiden und zu bestimmen, ob ich das Leben aufgeben oder bis zum Ende darum kämpfen soll !" Antwort des Mediziners: die Tatsache, um die Unheilbarkeit der Krankheit zu wissen, hätte das Leben und die geistige Gesundheit von H. gefährdet; in dem Ausmass, da er als sein Arzt für die Gesundheit von H. verantwortlich war, besass er das Recht, ihm Fakten zu verheimlichen, die seinen Zustand noch verschlimmert hätten. Ist diese Einstellung richtig oder hätte der Arzt alles, was er über seinen Zustand wusste, dem Patienten mitteilen, ihn über seine Diagnose unterrichten und ihm ermöglichen müssen, über die Fortsetzung der Behandlung selbst zu entscheiden ?

Dies ist im Gebot festgelegt, das sich auf die Verpflichtung bezieht, einen gefundenen Gegenstand zu behalten und zurückzuerstatten (Deut. 22:2): "Wenn aber dein Bruder nicht nahe bei dir wohnt [...] sollst du sie (Tier oder Gegenstand) in dein Haus nehmen, dass sie bei dir bleiben, bis sie dein Bruder sucht, und sollst sie ihm dann wiedergeben." Die letzten Worte dieses Verses, "Du sollst sie ihm wiedergeben", erschienen unseren Vorvätern überflüssig; sie bezogen das Pronomen "sie" auf "deinen Bruder" und nicht auf den gefundenen Gegenstand. Der Vers erhält somit eine ganz andere Bedeutung: "du sollst es (sein Leben) ihm wiedergeben." Dies bedeutet in anderen Worten, dass wir ihn retten sollen, wenn sein Leben in Gefahr ist und er es zu verlieren droht.

Der Autor des berühmten Kommentars Minchat Chinuch, Rabbi Yossef Babad aus Ternopol, der im 19. Jh. lebte, macht folgende Bemerkung (Mitzva 237): da die Verpflichtung, das Leben seines Nächsten zu retten, Teil des allgemeinen Gesetzes betreffend die Rückerstattung von Gegenständen ist, sollte sie unter dieselben Bestimmungen fallen. Das oben genannte Gebot verlangt nämlich weiter (Deut. 22:3): "So sollst du tun [...] mit allem Verlorenen, das dein Bruder verliert und du findest; du darfst dich dem nicht entziehen." Die Worte "mit allem Verlorenen, das dein Bruder verliert" wurden dahingehend interpretiert (Maimonides, Mischneh Thora, Gesetze über verlorene Gegenstände, Kap.2, Abschnitt 2), dass willkürlich weggeworfene oder zerstörte Objekte von dieser Pflicht ausgeschlossen sind. Dieses Gut kann von demjenigen, der es entdeckt, ignoriert werden. Dasselbe gilt bei einem Menschen, der sich selbst umzubringen versucht; wir sind in diesem Fall nicht verpflichtet, "ihm sein Leben zurückzugeben" - ihn zu retten, da er sein Leben bewusst "wegwirft".

Zahlreiche rabbinische Gelehrte haben die Begründetheit dieser Überlegung angefochten und sie als falsch abgelehnt. Nach Ansicht von Rabbi Yoav Weingarten aus Kintzk (Kaba de Kaschaita, Abschnitt 1), einem bekannten Gelehrten vom Anfang des 20. Jh., verfügt der Mensch nicht über sein eigenes Leben - der eigentliche Besitzer ist G'tt. Der Selbstmörder handelt also eigentlich wie jemand, der das Eigentum eines anderen zerstört. Ist ein Mensch Zeuge einer willkürlichen Beschädigung am Eigentum eines anderen durch einen Dieb oder einen Vandalen, muss er daher in jedem Fall versuchen, das legitime Eigentum des Besitzers zu retten. Analog dazu muss ein Mensch alles daran setzen, wenn er Zeuge eines Selbstmordversuches wird, dieses Leben, das man G'tt (dem rechtmässigen Besitzer) wegnehmen will, zu retten.

Rabbi Weingarten weist jedoch auf ein Gesetz hin, das dieses Prinzip anficht. Die Torah sagt in der Tat (Ex. 22:1): "Wird ein Dieb auf frischer Tat ertappt und er stirbt an den Schlägen, die er erhält, wird sein Blut nicht gerächt." Der Einbrecher wird als potentieller Mörder angesehen, der jeden umbringen könnte, der sich ihm in den Weg stellt. Die Tatsache, den ins Haus eingedrungenen Übeltäter zu töten, gilt folglich als Selbstverteidigung, sein "Blut wird nicht gerächt werden". Die Weisen (Sanhedrin 72b) haben von diesem Grundsatz ausgehend festgehalten, dass das Leben eines Diebs, der sich während seiner Tat zufällig verletzt, nicht gerettet werden muss. Darüber hinaus darf man den Schabbat nicht verletzen, um ihm zu helfen. Warum ? Es ist offensichtlich, dass ein verletzter Einbrecher keine Gefahr mehr darstellt und dass das Recht auf Selbstverteidigung ungültig wird, um ihm die Hilfe zu verweigern. Dieses Gesetz kann einzig folgendermassen erklärt werden: da der Dieb mit dem Einbruch sein Leben aufs Spiel gesetzt hat, muss sein Leben nicht gerettet werden. Wenn die Forderung von Rabbi Weingarten aber stimmt und der Mensch nicht über sein Leben verfügt, mit welchem Recht darf er darauf verzichten ?

Die prestigereichste Halacha-Autorität unserer Zeit, Rabbi Mosche Feinstein (Igrot Mosche Band 5, Yore Dea 2, Resp. 174), bestreitet das Postulat von Rabbi Weingarten. Seiner Meinung nach gibt es keinen Zweifel, dass der Mensch Herr über sein Leben und demnach für seine Bewahrung verantwortlich ist. Er entdeckt auch eine Schwäche im Gedankengang von Rabbi Babad. Nicht jede Entscheidung eines Individuums hat legale Konsequenzen; nur die rationalen Beschlüsse haben Gültigkeit. So kann ein Mensch sein Eigentum aufgeben ohne dass daraus folgt, dass dieses Eigentum ihm zurückgegeben werden muss. Die Entscheidung hingegen, seinem Leben ein Ende zu setzen, ändert nichts an der Verpflichtung, "es ihm wiederzugeben", denn das Gesetz anerkennt eine solche Entscheidung unter keinen Umständen.

Diese Überlegung erklärt deutlich, warum das Leben des Einbrechers nicht gerettet werden muss. Durch seine Tat verzichtet er in den Augen des Gesetzes nämlich auf sein Leben - "sein Blut muss nicht gerächt werden" - und von dem Augenblick an, da er auf sein Leben verzichtet, muss es ihm nicht zurückgegeben werden, auch wenn er keine Gefahr mehr verkörpert.

Die Entscheidung, um sein Leben zu kämpfen, gilt eindeutig als eine rationale Entscheidung und muss respektiert und berücksichtigt werden, wenn ein Mensch sie einmal gefasst hat. Der Arzt von H. hatte kein Recht, über den Verzicht auf das Leben seines Patienten zu entscheiden und ihm Informationen über seinen Zustand vorzuenthalten. Dieses Vorgehen ist zwar unter den gegebenen Umständen verständlich, doch die Entscheidung darüber obliegt allein dem Besitzer dieses Lebens, d.h. dem Patienten selbst, der seinen Beschluss vollkommen frei und aufgrund aller verfügbaren Informationen fassen muss.

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