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Inhaltsangabe Rosch Haschanah 5757 Herbst 1996 - Tischri 5757

Editorial - September 1996
    • Editorial

Rosch Haschanah 5757
    • Eine Frage der Autorität

Politik
    • In der Fallstricke von Oslo
    • Post Renebras... Lux

Interview
    • Perspektiven und Tatsachen
    • Ein Chassid im Dienste der Nation

Shalom Tsedaka
    • Würde - Effizienz - Schweigen

Analyse
    • Ton- und Richtungswechsel
    • Die israelischen Araber - Eine Frage der Identität
    • Graue Eminenzen

Kunst und Kultur
    • Naftali Herstik
    • Frühe Synagogen
    • Eine aussergewöhnliche Sammlung

Judäa - Samaria - Gaza
    • Eli - Shilo - Maale Lewonah

Erziehung
    • Kraft und Leistung

Porträt
    • Limor Livnat
    • Ein Jude in Japan

Ethik und Judentum
    • Information und Unabhängigkeit

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Eine Frage der Autorität

Von Rabbiner Zalman I. Posner *
Welches ist das Hauptthema von Rosch Haschanah ? An Jom Kippur, dem Tag des Grossen Verzeihens, steht die Reue im Zentrum; an Pessach, dem Fest unserer Rettung aus der ägyptischen Gefangenschaft, herrscht die Frage der Freiheit vor; an Rosch Haschanah erkennen wir die göttliche Autorität, die Tatsache, dass G'tt "Melech", unser König ist !

Im Hebräischen gibt es verschiedene Worte, um eine Autorität zu benennen, "Melech" bezeichnet jedoch eine von ihren Untertanen freiwillig gewählte und angenommene Hoheit, im Gegensatz zu einer aufgezwungenen Diktatur. Einen "Melech" anzunehmen ist eine freiwillige Tat, eine Wahl. Wie kann ein solches Konzept auf unsere Beziehungen zu G'tt angewendet werden ?

Der Mensch ist frei geboren. Es stimmt, dass wir die Farbe unserer Haut nicht wählen können, hingegen können wir frei über unser Verhalten, unsere Gedanken, unsere Worte, unsere Handlungen, unsere Emotionen und die Werte entscheiden, mit welchen wir uns identifizieren möchten. Die Dauer der uns zugeteilten Lebensjahre liegt nicht in unseren Händen, dafür bestimmen wir aber meistens die Qualität des Lebens, das wir führen wollen.

Die Gesellschaft unserer heutigen Zeit beschäftigt sich insbesondere mit Problemen im moralischen Bereich: Abtreibung, Lebensdisziplin, Selbstbeherrschung, Drogen, Rassismus, Kriminalität, religionsbezogene Fragen... eine endlose Liste. Eigentlich liegt der Hauptgrund für all diese Sorgen in folgender Tatsache: Jeder hält den "eigenen" Standpunkt für moralisch, den des Nachbarn dafür aber nicht..., und dies unter der Bedingung, dass der moralische Aspekt überhaupt berücksichtigt wird, was leider nicht immer der Fall ist. Es gibt keinen gemeinsamen moralischen Nenner, der von allen akzeptiert wird, eine Herausforderung wird jedoch immer wiederholt: Die ewige Frage nach dem "Wer hat es gesagt ? Wer ist die wirkliche Autorität ? Warum sollte ich sie anerkennen ?"

Die jüdische Gesellschaft in ihrer heutigen Zusammenstellung scheint seltsamerweise auf diese Frage keine präzise, allgemein akzeptierte Antwort zu geben. Die Mehrheit gibt sich anscheinend mit Antworten zufrieden, die ebenso vage wie vielfältig sind. Man könnte beinahe annehmen, es gebe weder eine Autorität noch ein Gesetz, oder höchstens ein auf die Bedürfnisse und den Glauben des jeweiligen Individuums zugeschnittenes Gesetz, das an die gerade erforderliche Auslegung sowie an die örtlichen und zeitlichen Umständen angepasst werden kann. Man könnte annehmen, es sei ein Gesetz "jeder nach Lust und Laune", ein Gesetz für jede Gemeinschaft nach ihren eigenen Riten, für jede religiöse Bewegung nach ihren eigenen Ideen. So könnte der Einzelne je nach seinen aktuellen Emotionen und Gefühlen von einer Auslegung zur anderen übergehen. Jene Gemeinde ist "zu orthodox", man braucht also nur die Stadt zu durchqueren, um eine weniger strenge zu finden, und das Gegenteil trifft ebenfalls zu. Die Frage der Moral wird nicht einmal aufgeworfen, sie spielt keine Rolle, sie hat damit nichts zu tun. Übrigens bleibt die Position der Rabbiner äusserst ungenau. Früher wandte man sich in bezug auf Fragen des Gesetzes, des jüdischen Lebens und sogar des täglichen Lebens an den "eigenen" Rabbiner. Wer fragt heute denn noch nach dem weisen Rat eines Rabbiners ?

Bevor aber ein Gesetz angenommen werden kann, muss die Autorität, die es erlassen hat, anerkannt werden. Bevor über Moral gesprochen wird, muss man sich über einen allgemein gültigen moralischen Kodex einig werden. Wir haben daher alle zum Beispiel dem Gebot "Du sollst nicht töten" zugestimmt. Haben wir es aber angenommen, weil es ein göttliches Gebot ist, oder weil der Staat es vorschreibt und eine Reihe von Strafen für den Fall einer Übertretung dieser Vorschrift vorsieht ? Gewiss achten wir die Gesetze des Landes, in welchem wir leben, zumindest verspüren wir eine Furcht vor den Folgen im Falle einer Übertretung dieser Gesetze. Worum geht es aber, wenn Eltern nicht wollen, dass sich ihre Tochter oder ihr Sohn "wie alle übrigen" verhalten ? Was "alle anderen" Jugendlichen tun, ist im strengen Sinne des Wortes wahrscheinlich nicht ungesetzlich, aber gewisse Eltern halten es einfach für nicht "korrekt". Wie überzeugt man einen jungen Menschen, dass das, was er tut, "nicht gut ist" ? Wird er dabei nicht fragen: "Aber wer sagt, dass meine Handlungsweise falsch oder sogar schlecht ist ?" Dann werden die Eltern beschuldigt, altmodisch zu sein, und da sie keine Antwort wissen, geben sie auf und lassen sie gewähren.

Die Aufgabe der Lehrer ist nicht viel einfacher. Als Rabbiner wurde ich oft mit der folgenden Frage konfrontiert: Sind im Endeffekt "all diese jüdischen Gebräuche nicht einfach eine Frage von Geschmack und Sentimentalität" ? Ist mein Nachbar wirklich besser als ich, weil er streng gläubig ist ? Viele behaupten: "Handelt es sich nicht letztlich um eine Reihe persönlicher Präferenzen, ohne Zusammenhang mit den Fragen der Moral, von Gut und Böse oder gar G'tt ?"

Es kommt Rosch Haschanah ! Ein neuer Anfang - ein neues Jahr ! Ein Augenblick des Innehaltens, in dem wir uns die Frage stellen können: "Wohin gehen wir ? In welche Richtung geht unser Leben ?" Und insbesondere: "Schreiten wir wirklich in die gewünschte Richtung voran? Haben wir die richtige Wahl getroffen ?"

Und nun bringt uns das Grundthema von Rosch Haschanah die Antwort auf alle diese Fragen: "HA-MELECH" - "DER KÖNIG" ! Ja, erklären uns einverstanden, uns mit dieser Autorität zu identifizieren, mit G'tt, der die Gesetze erlässt, der den Kodex des moralischen Verhaltens festlegt, der uns die Definition von Gut und Böse gibt, dessen, was richtig und was falsch ist. Wir sagen: "ER IST UNSER G'TT." Ihn allein erkennen wir an. Und auf dieser Grundlage beginnen wir unsere Gewissensprüfung und stellen uns die Frage danach, ob wir wirklich das vergangene Jahr unter Einhaltung Seiner Gebote, Seiner Gesetze und Seiner moralischen Vorschriften verlebt haben. Wie können wir unser Verhalten im kommenden Jahr verbessern ? Es geht um eine wichtige Entscheidung, vielleicht eine der schwersten, die wir treffen müssen.

Es geht nicht einfach um die Frage, ob wir uns zum genauen Zeitpunkt von Rosch Haschanah freiwillig der göttlichen Autorität unterwerfen, ob wir den Umfang all dieser in dieser Unterwerfung enthaltenen Gesetze, Aufgaben und Vorteile ermessen. Dies steht gegenwärtig nicht zur Diskussion, das ist erst morgen aktuell, wenn es um das Handeln geht. Heute beantworten wir die Frage, die uns unsere Jugendlichen stellen: "Wer hat denn das beschlossen ?" Mit der Anerkennung und der Annahme der göttlichen Autorität werden wir automatisch für die Lösungen, die sie für unsere Probleme anbietet, empfänglich. Wir treten offen für seine Gebote, seine Gesetze und seinen Moralkodex ein..., auch wenn diese im Widerspruch stehen mit dem, "was alle übrigen tun" oder auch mit dem, was manche Eltern bei ihren heranwachsenden Kindern zulassen, indem sie die Augen schliessen und eine Vogel Strauss-Politik betreiben, obwohl sie sich völlig bewusst sind, dass die Handlungen ihrer Söhne und Töchter "weder gut noch korrekt" sind. Die Ausübung des Glaubens wird uns nicht auferlegt, die Autorität G'ttes erkennen wir freiwillig an.

Fragt man einige unserer Glaubensbrüder nach dem wichtigsten Augenblick im Gottesdienst von Rosch Haschanah, so wird die grosse Mehrheit antworten: "Das Gebet von Unetaneh Tokef, das lautet: ...wer leben, wer sterben wird..." Für einen Chassid ist es, der Klang des Schofar. Wieso dieser Unterschied ? Einfach, weil wir nicht entscheiden, "wer leben und wer sterben wird"; wir entscheiden hingegen, WIE wir leben werden, und das ist die Botschaft, die der Schofar in unsere Ohren und in unsere Herzen einfliessen lässt: "G'tt sagt, erkennt mich als euren König an und macht aus meinen Gesetzen, meinem moralischen Kodex - eure Gesetze und euren moralischen Kodex !"

Hoffen wir, dass wir in der Lage sind, gute Entscheidungen zu treffen und dass G'tt, "Ha-Melech", jedem von uns ein gutes Jahr, ein Jahr des Glücks und des Friedens gewährt, Israel und der gesamten Welt !

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