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Inhaltsangabe Ethik und Judentum Frühling 1997 - Pessach 5757

Editorial - April 1997
    • Editorial

Chanukkah 5757
    • Ein kleines Licht genügt

Politik
    • Die Flucht nach vorne

Interview
    • Gespräch mit S.E. Arnold D. Koller

Aktuell
    • Wer profitierte vom Völkermord der Nazis ?
    • Begegnung mit S.E. Alfonse M. D'Amato
    • Das Gesetz ist wichtiger als Gesten

Judäa - Samaria - Gaza
    • Zwischen Hammer und Amboss
    • Maale Adumim

Kunst und Kultur
    • Die Bodmer Haggadah
    • Schlicht und Ergreifend
    • Jüdische Scherenschnitte

Reportage
    • Prag und Jerusalem
    • Das jüdische Leben in der Tschechischen Republik
    • Das jüdische Museum Prag
    • Terezin - Das Vorzimmer von Auschwitz

Portrait
    • Das magische Paar

Schicksal
    • Von Nedjo nach Princeton

Ethik und Judentum
    • Technologie und menschlisches Eingreifen

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Technologie und menschlisches Eingreifen

Von Roland S. Süssmann
M. ist Generaldirektor eines grossen Investmentunternehmens; derzeit überlegt er sich den Kauf einer biomedizinischen Firma mittlerer Grösse - GenTech -, welche auf dem Gebiet der Molekulargenetik spezialisiert ist. Nach Ansicht der Experten ist diese Firma führend im Bereich der Gentechnologie. Da er keine Ausbildung in Molekularbiologie besitzt, hat M. mit dem Studium dieses für ihn neuen Gebiets begonnen.

Nach den ihm unterbreiteten Berichten wird GenTech in nächster Zukunft ein äusserst bedeutender Durchbruch gelingen. Seit einigen Jahren sind die Gene in Verbindung mit einem Dutzend genetischer Krankheiten identifiziert worden, u.a. jenes des Syndroms des anfälligen X-Chromosoms, das bekannterweise zu einer angeborenen geistigen Behinderung bei den männlichen Familienmitgliedern führt, obwohl er durch die Frauen übertragen wird.
GenTech ist dabei, ein Verfahren zu entwickeln, dank dem die mangelhaften Gene in Zellen eliminiert werden, die aus einer durch In-vitro Befruchtung hergestellten Keimzelle (das erste Stadium in der Entwicklung eines aus der Teilung eines befruchteten Eis entstandenen Embryos) extrahiert wurden. Diese Gene werden ersetzt und aus einer Kultur stammende Zelle in das Innere einer intakten Keimzelle injiziert. Diese Zellen werden in allen Geweben des in der Entwicklung befindlichen Embryos vertreten sein, der in den Uterus der Mutter eingepflanzt wird. Das Baby wird also gesund geboren. Auf den ersten Blick erscheint M. dieses gesamte Verfahren wie ein Auszug aus einer Science-Fiction-Geschichte; offensichtlich sind aber der Bericht und auch die soliden Kosten- und Rentabilitätsprognosen von Experten verfasst worden.
M. mag ein gewiefter Geschäftsmann sein, er bleibt dennoch für die ethische Seite der Dinge sehr empfänglich. Anfangs schien das Projekt ein riesiges Potential an positiven Auswirkungen und Gewinnen zu beinhalten. M. weiss bereits um die Existenz verschiedener Gemeinschaften, in welchen endogame Ehen verbreitet sind und in der Folge zahlreiche Kinder geistig zurückbleiben. Das von GenTech erarbeitete Verfahren könnte dem Unglück dieser Familien ein Ende setzen. M. denkt auch an die Mucoviscidosis, jene Erbkrankheit, die sich in der Kindheit entwickelt und die exokrinen Drüsen, d.h. die Bauchspeicheldrüse, das Atmungssystem und die Schweissdrüsen betrifft; diese Krankheit zeichnet sich durch die Produktion ungewöhnlich zähen Schleims durch die betroffenen Drüsen aus und zieht Infektionen der Atemwege und eine mangelhafte Funktion der Bauchspeicheldrüse nach sich. Auch in diesem Bereich wäre das neue Verfahren in der Lage, dieses schwere Leiden in die Geschichte der Medizin zu verbannen. Dadurch könnten auch rezessive genetische Krankheiten eliminiert werden. In ein oder höchstens zwei Jahrzehnten müssten sich die Menschen keine Gedanken mehr darüber machen, ob sie Träger dieser Leiden sind.
Andererseits erscheint es M., als würde den Menschen damit zu viel Verantwortung übertragen. G"tt hat die Welt geschaffen: hat der Mensch wirklich das Recht, sich in deren Grundstrukturen derart einzumischen?
Eine der ersten Entwicklungen der modernen Genetik war die Herstellung von "Chimären", d.h. Organismen, die aus zwei Arten von Zellen mit unterschiedlicher DNA bestehen und alles in allem eine neue Gattung bilden. Wenn der Mensch Schöpfer zu spielen beginnt, übertritt er da nicht seine Grenzen und setzt er damit nicht die gesamte Welt unbekannten Gefahren aus ? Jeder von G"tt geschaffene Organismus sollte wie ein System und nicht wie eine Zusammensetzung von manipulierbaren Genen betrachtet werden. Unser Wissen über die Organisation solcher Systeme ist begrenzt und wir gehen daher das Risiko ein - durch die Manipulation der Gene -, unberechenbare Monster zu schaffen, die in der Lage wären, die Menschheit und die Umwelt stark zu gefährden. Im Levitikus XIX, 19, lesen wir: "Meine Satzungen sollt ihr halten, dass du dein Vieh nicht lassest mit anderlei Tier zu schaffen haben und dein Feld nicht besäest mit mancherlei Samen und kein Kleid an dich komme, das mit Wolle und Leinen gemengt ist". Der Jerusalemer Talmud (Kilaim, Kap. 1), legt "meine Satzungen" als die Satzungen der Schöpfung und nicht als juristische Regeln aus. Die einleitenden Worte, "Meine Satzungen solltet ihr halten", erklären eigentlich das im folgenden Vers enthaltene Verbot.
Rabbiner Mosche ben Nachman, der Ramban - berühmter Kommentator und talmudische Autorität im 13. Jahrhundert - erläutert diesen Punkt. "Darin besteht der Grund für dieses Verbot: G"tt hat alle Gattungen in der Welt, alle Pflanzen und alle Tiere geschaffen und Er hat ihnen die Fähigkeit gegeben, sich fortzupflanzen, damit diese Arten weiterbestehen solange Er wünscht, dass es die Welt gibt. Er hat daher befohlen, dass jedes geschaffene Wesen die eigene Gattung fortpflanzt und sich niemals ändert, da er bei der Schöpfung beschlossen hat, dass jeder sich "nach seiner Art" fortpflanze. Der Mensch, der zwei verschiedenartige Organismen kreuzt, verändert die Schöpfung und erklärt eigentlich damit, dass G"tt Seine Aufgabe nicht vollendet hat und dass er, der Mensch, dadurch dazu beiträgt, indem er neue Arten hinzufügt. Ein anderer Aspekt dieses Gedankenganges betrifft die Lebenskraft eines jeden Organismus, der seine Quelle im Himmel hat, wie es G"tt Hiob erklärt (XXXVIII, 33): "Weisst Du des Himmels Ordnungen, oder bestimmst du seine Herrschaft über die Erde?" Folglich übertritt jener, der sich mit der Kreuzung verschiedenartiger Organismen befasst, die himmlischen Anordnungen".
Ein oberflächliches Studium dieses Kommentars könnte den Beweis liefern, dass Genmanipulation dem biblischen Gesetz widerspricht. Jedoch beweist eine tiefere Analyse, dass dem nicht so ist. Rambans Überlegung ist mit der Art und Weise zu vergleichen, in welcher die Halacha das Verbot anwendet, das die Kreuzung von Rassen betrifft. Wie der Rabbiner Abraham Yeschayahu Karelitz - eine angesehene Autorität auf dem Gebiet der Torah im 20. Jahrhundert, bekannt unter dem Namen "Chazon Isch" - (Chazon Isch, Kilaim, Kap. 2, 16) bemerkt, wird vom juristischen Standpunkt angenommen, dass man das Recht darauf hat, die künstliche Befruchtung zu verwenden, um ein hybrides Wesen zu produzieren, weil das Verbot " dass du dein Vieh nicht lassest mit anderlei Tier zu schaffen haben" nur den sexuellen Kontakt unter lebendigen Tieren betrifft. Wie ist denn diese Regel mit Rambans Kommentar in Einklang zu bringen ? Es muss berücksichtigt werden, dass Rambans Überlegung nur die Natur selbst, G"ttes Schöpfung, betrifft. G"tt hat die Tiere mit der Fähigkeit ausgestattet, sich durch sexuellen Kontakt fortzupflanzen, und ihnen befohlen, diese Fähigkeit nur mit Tieren "ihrer eigenen Art" anzuwenden.
Dem Menschen hat Er aber auch die Macht gegeben, die Schöpfung zu verbessern und neue Technologien mit dem Zweck zu erarbeiten, eine solche Verbesserung zu erreichen. Der Mensch ist nicht dazu berechtigt, in einen natürlichen Prozess zur Schaffung einer neuen Gattung einzugreifen, da dies einer Veränderung der Natur gleichkäme. Dieses Prinzip findet dennoch keine Anwendung bei Handlungen der Menschen, wenn sie dabei ihre eigenen Technologien verwenden.
Betrachtet man die künstliche Befruchtung als eine menschliche Technologie, die nicht unter die "himmlischen Anweisungen" fällt, dann fallen die genetischen Manipulationen noch weniger in diesen Bereich. Die Halacha nimmt nämlich folgenden Standpunkt ein: je fortschrittlicher eine Technologie ist - und je weiter sie sich von den natürlichen Prozessen entfernt hat -, desto zahlreicher sind die Gründe, ihre Anwendung zu gestatten.
Die Halacha bietet keinerlei Grundlagen für andere Betrachtungsweisen, nach welchen ein Organismus ein unveränderliches System bildet. Bezüglich der bestehenden Gefahr, dass unheilvolle monsterartige Gattungen geschaffen werden, bleibt es offensichtlich, dass die Handlungen des Menschen gefährlich ist. In Deuteronomium XXII, 8 lesen wir: "Wenn du ein neues Haus baust, so mache eine Lehne darum auf deinem Dache, auf dass du nicht Blut auf dein Haus ladest, wenn jemand herabfiele". Die Weisen (Ketubot, 41, b) haben diesen Vers als eine allgemeine Empfehlung dazu ausgelegt, bei jeder Unternehmung hohe Sicherheitsmassnahmen zu treffen. Es ist jedoch nicht verboten, ein neues Haus zu bauen; wir werden einfach angewiesen, vernünftige Sicherheitsmassnahmen zu treffen. Ist ein Geländer um das Dach in der Lage, jede Absturzgefahr abzuwenden ? Natürlich nicht. Es kann jemand darauf hinaufklettern, sich hinauslehnen und trotz allem hinunterfallen. Dennoch empfiehlt uns die Halacha, eine kleine Mauer um das Dach zu bauen, die einen Meter hoch und nicht höher sein soll, welche die Leute daran hindern soll, aus Unaufmerksamkeit zu stürzen, und die ausreichend stark sein soll, damit sich ein normal gebildeter Mensch darüber lehnen kann, ohne zu fallen (Maimonides, Gesetze zum Mord, Kap. 11 3-5).
Demzufolge ist jede neue Technologie mit Vorsicht anzugehen und unter sicheren Bedingungen anzuwenden. Es steht jedoch nicht an, unvorhersehbare Risiken zu befürchten. G"tt wacht über die Welt und über den Menschen. Der Mensch soll einfach Seinen Geboten in bezug auf Sicherheitsmassnahmen Folge leisten.
M. hat daher keinen Grund, ins GenTech-Projekt nicht zu investieren. Er kann dabei äusserst gewinnbringende Ergebnisse erreichen; die Ausrottung genetischer Krankheiten bildet einen unermesslichen Segen für die Menschheit. In Genesis II, 3 wird die Schöpfung mit den folgenden Worten zusammengefasst: "Und G"tt segnete den siebenten Tag und heiligte ihn, darum dass er an demselben geruht hatte von allen seinen Werken, die G"tt schuf und machte". Eigentlich drückt der hebräische Text folgendes aus: "die G"tt schuf, um zu produzieren", was nach einer wohlbekannten chassidischer Interpretation bedeutet, dass G"tt geschaffen hat, damit der Mensch produziere und verbessere. Der Mensch soll keinen Mangel oder keine Krankheit als eine unveränderliche Gegebenheit hinnehmen, sondern im Gegenteil mit der ausdrücklichen Erlaubnis des Schöpfers nach einer Lösung dafür suchen.

* Rabbiner Shabtaï A. Rappoport leitet die Yeschiwah "Schwut Israel" in Efrat (Gusch Etzion). Neben anderen Werken hat er die beiden letzten Bände der Responsen herausgegeben, die von Rabbiner Mosche Feinstein, s.A., geschrieben wurden. Er entwickelt gegenwärtig eine Datenbank, die alle aktuellen Themen der Halacha umfasst. Anfragen oder Kommentare an folgende E-Mail-Adresse: shrap@mofet.macam98.ac.il.

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