Offenheit und Tradition

Foto: Bethsabée Süssmann
Während der Sowjet-Ära fiel der 1. Schultag in der gesamten UdSSR immer auf den 1. September, der als „Tag des Wissens“ bezeichnet wurde. Diese Tradition wurde nach dem Fall der Berliner Mauer beibehalten und gilt auch für die jüdischen Schulen, ausser wenn es sich bei diesem Tag um den Schabbat handelt. Zum Schulbeginn im Herbst 2007 werden in den 131 Schulen und Kindergärten der Organisation Ohr Avner, d.h. den Schulen der Lubawitsch Chabad Bewegung, rund 15'000 Kinder aus der gesamten ehemaligen Sowjetunion erwartet.
Die Organsiation Ohr Avner, die 1982 von Lev Leviev, einem israelischen Geschäftsmann aus Usbekistan gegründet wurde, ist auch unter dem Namen „Federation of Jewish Communities of the CIS“ bekannt. Sie fungiert nicht nur als Schule für Kinder, sondern bietet auch Aus- und Weiterbildungen für Lehrer und Rabbiner an, organisiert Jugendlager und gesellige Aktivitäten. Ihre Hauptaufgabe besteht darin, in allen Ländern der GUS das jüdische Leben, aber auch jüdische Kultur und Religion neu zu aktivieren. Die Verantwortlichen haben erkannt, dass heute die einmalige – und zeitlich befristete – Gelegenheit besteht, die jüdische Gemeinschaft zu neuem Leben zu erwecken und ihren Fortbestand an Orten zu sichern, an denen diese während der kommunistischen Herrschaft 70 Jahre lang unterdrückt wurde; dazu gehören auch so abgelegene Regionen wie Sibirien, Tadschikistan, Turkmenistan, Moldawien oder Kirgistan. Was auf diese Gegenden zutrifft, gilt auch für Georgien, und so haben wir in Tiflis die Schule besucht, die von Rabbi MEIR KOSLOWSKI, dem Vertreter der Organisationen Ohr Avner in diesem Land, geleitet wird.

Es ist doch ziemlich erstaunlich, dass eine so kleine Gemeinschaft wie diejenige in Tiflis, zwei jüdische Schulen besitzt. Wie ist dies zu erklären?

Es geht dabei um ein grundsätzliches Konzept der jüdischen Erziehung. Wir sind eine halbprivate Schule, die streng die staatlichen Lehrpläne einhält, und schicken unsere Schüler an die Maturitätsprüfungen. Obwohl der grösste Teil des Schulgelds von unserer Organisation übernommen wird, stellt uns der Staat das gesamte Material für die nichtreligiösen Fächer zur Verfügung und zahlt uns auch eine symbolische Subvention pro Kind, die ausschliesslich für den Computerraum oder ein Labor eingesetzt werden darf. Zurzeit bezahlen die Eltern nichts, doch ich denke, wir werden irgendwann gezwungen sein, einen Beitrag von ihnen zu verlangen, und sei es nur für die Mahlzeiten. Wir zählen momentan 57 Kinder und Jugendliche an der Schule, der Kindergarten wird von 56 Kleinen besucht. Die zweite jüdische Schule, Tifereth Zvi, besitzt einen sehr dichten Lehrplan für jüdische Fächer (50/50), was bei uns nicht zutrifft, da wir einen vom Staat festgelegten Stundenplan mit genau vorgeschriebenen Wochenlektionen einhalten müssen. Daher sind an unserer Lehranstalt die jüdischen Fächer in die Stundentafel der weltlichen Fächer integriert worden. Der konzeptuelle Unterschied, der zwischen den beiden Schulen besteht, kann folgendermassen beschrieben werden: Obwohl seit dem Abzug der Sowjets über 15 Jahre vergangen sind, haben die Eltern unserer heutigen Schüler praktisch keine jüdische Erziehung genossen, auch wenn die Traditionen in Georgien, im Gegensatz zu anderen Sowjetrepubliken, im Grossen und Ganzen bewahrt werden konnten. Wenn wir den Kindern also nur eine religiöse Schule mit sehr intensiv unterrichteten jüdischen Fächern anböten, würden sie ihre Kinder wohl nicht bei uns einschreiben. Eine jüdische Schule wie die unsere, die das gesamte staatliche Programm plus jüdische Fächer anbietet, ist aber recht attraktiv. Der gesamte Unterricht erfolgt in georgischer Sprache, als erste Fremdsprache wird Englisch, als zweite Russisch und als dritte Hebräisch gelehrt. Letztere ist in den Unterricht zum Judentum, zu den Traditionen und zur zionistischen Erziehung eingebettet. Dazu verfügen wir über einen besonderen Raum, in dem die israelische Flagge sowie ein Foto des Premierministers und des Präsidenten hängen. Die Lektionen werden auf der Grundlage eines genauen Programms erteilt, das vom israelischen Bildungsministerium ausgearbeitet wurde.

Wie sehen Sie die Zukunft Ihrer Schule?

Gegenwärtig mieten wir die Räumlichkeiten, in denen der Unterricht stattfindet. Wir werden aber in einem sehr gutsituierten und zentralen Quartier der Stadt ein eigenes Schulgebäude errichten. Wir möchten zu einer Schule werden, die als Referenz für qualititativ hochstehenden und ausgezeichneten Unterricht gilt. Dieser Gedanke entspricht einem allgemeinen Trend bei den Eltern, die ihre Kinder an eine jüdische Schule schicken möchten, und dieses Phänomen ist in allen Ländern der GUS zu beobachten. Zu Beginn, d.h. vor rund zehn Jahren, waren die jüdischen Schulen attraktiv, weil sie den Kindern Mahlzeiten, recht guten Unterricht und kostenlose Transportmittel boten. Heute hat sich die Situation weiterentwickelt, da weniger begüterte Eltern bereit sind, mehr zu arbeiten, um ihren Kindern eine ausgezeichnete Ausbildung bezahlen zu können. Aus diesem Grund müssen sich die jüdischen Schulen um ein möglichst hohes Niveau bemühen, weil dies bei noch unentschlossenen Eltern den Ausschlag geben kann. Wir setzen uns nach Kräften dafür ein, dieses Ziel auch zu erreichen.