Das Jüdische Leben

Die Synagoge von Tiflis. (Foto: Bethsabée Süssmann)
Von Roland S. Süssmann
Die jüdische Gemeinschaft von Georgien zeichnet sich dadurch aus, dass über 90% ihrer Mitglieder in der Hauptstadt Tiflis leben, wo es zwei Synagogen gibt. Die jüdische Bevölkerung der Gegenwart besteht aus georgischen Juden (85%), aus aschkenasischen Juden (10%), die zu Beginn des 19. Jahrhunderts in dieses Land einwanderten, und aus Bergjuden (5%). Auch in Batumi, Gori und Kutasi stehen Synagogen und Kulturzentren.
Erstaunlicherweise gibt es kein einziges offizielles Büro, das die ganze Gemeinschaft gegenüber den Behörden vertritt, wie dies in zahlreichen anderen Ländern der Fall ist. Allerdings zählt man heute in Tiflis rund 30 jüdische Vereinigungen. Auch Gemeinde­präsidenten, wie wir sie in Westeuropa kennen, sucht man hier vergebens. Jede Synagoge wird von einer Person betreut, die für die Gottestdienste zuständig ist und sich auch um die deiversen administrativen Probleme der Gemeinde kümmert.
Das Land besitzt aber einen Oberrabbiner, Rav ARIEL LEVIN, der in Israel wohnt und regelmässig hin- und herreist. Im Verlauf eines kurzen Gesprächs haben wir ihn nach seinen Ansichten zur jüdischen Gemeinde Georgiens von heute und deren Zukunft befragt.

Wenn man die Juden in Georgien besucht, vermittelt diese zwar überalterte und sehr kleine Gemeinde den Eindruck, sie habe ihre Lebenskraft und ihre Frömmigkeit trotz allem bewahrt. Entspricht dies der Wirklichkeit?

Es ist nicht zu leugnen, dass diese Gemeinde stetig geschrumpft ist, vor allem weil seit dem Fall der Berliner Mauer bis heute eine politisch und wirtschaftlich prekäre Lage sowie mangelnde Sicherheit zu beklagen sind. Seit 1989 sind fast 22'000 Juden nach Israel ausgewandert. Dabei lebten zu einem bestimmten Zeitpunkt rund 100'000 Juden in Georgien, doch diese Zeit ist schon lange vorbei. Heute geht man im Allgemeinen davon aus, dass in Tiflis auf eine Gesamtbevölkerung von ca. 1,5 Millionen Menschen praktisch 10'000 Juden übrig sind, die gemäss den Kriterien der jüdischen Rechtsprechung als authentisch gelten. Man kann aber zu Recht behaupten, dass die Menschen hier viel frömmer sind als in anderen früheren sowjetischen Republiken. In den beiden Synagogen werden täglich mehrere Gottesdienste abgehalten, und am Freitagabend wird ein Gottesdienst in der georgischen Synagoge von durchschnittlich 150 Personen besucht. Es ist interessant zu wissen, dass beide Bevölkerungsgruppen gemäss der klassischen sephardischen Tradition beten.

Was wird für die Jugend getan?

Wir bieten mehrere Ausbildungs- und Freizeitprogramme für junge Leute an, die wir in Zusammenarbeit mit der Jewish Agency, dem JDC und Hillel veranstalten. An dieser Stelle muss betont werden, dass selbst bei unseren jungen Leuten die Assimilierungsrate tiefer liegt als in Europa. Dies ist insbesondere darauf zurückzuführen, dass die Gemeinde zu jeder Zeit, einschliesslich der sowjetischen Epoche, ihre Traditionen beibehalten durfte, auch innerhalb der Familien. Überraschenderweise gewann die Assimilierung nach der Befreiung von 1989 an Terrain. Ich denke, dass wir ab diesem Zeitpunkt vom Westen beeinflusst werden. Unsere wohlhabenden jungen Leute reisen viel und stellen fest, dass andere Gleichaltrige ein sehr angenehmes Leben führen, ohne den Traditionen und den jüdischen Werten verbunden zu bleiben. Ich investiere zurzeit die grössten Anstrengungen in den Versuch, das Interesse der Jugend an der Wahrung eines jüdischen Daseins zu wecken und sie mit dem notwendigen Wissen auszustatten. Wir unternehmen alles in unserer Macht Stehende, um den Stolz auf das Judentum und die Liebe zu dieser Kultur in den Köpfen und im Herzen unserer Jugend zu bewahren.

Wie sehen Sie die Zukunft Ihrer Gemeinde?

Es besteht kein Zweifel daran, dass in Georgien immer Juden leben werden – wie in der ganzen Diaspora. Mittelfristig bin ich gar noch optimistischer. Seit 1990 hätten nämlich alle, die ausreisen wollten und dazu auch konkret in der Lage waren, dies auch tun können. Und doch haben sich recht viele Menschen dazu entschlossen, in Georgien zu bleiben und hier weiterhin als Juden zu leben. Dies lässt mich vermuten, dass diese Gemeinde eine Zukunft hat. Auch wenn die Blütezeit endgültig passé ist.

Wie sehen Ihre Beziehungen zur orthodoxen Kirche aus?

Ich weiss, dass im Allgemeinen alles, was mit der Kirche zu tun hat, per definitionem als antisemitisch gilt. Dies trifft auf Georgien in keinster Weise zu, und ich bin glücklich zu betonen, dass ich ausgezeichnete Beziehungen zum Patriarchen sowie zu zahlreichen anderen Mitgliedern des Klerus pflege. Die georgische Bevölkerung allgemein legt sehr grossen Respekt für ihre jüdischen Mitbürger an den Tag. Und obwohl Georgien zur Zeit der Schoah Teil der UdSSR war, fanden aus der Ukraine stammende Juden hier Zuflucht und konnten bleiben. Das sagt sehr viel aus und verdeutlicht, was ich Ihnen zur positiven Einstellung der Georgier gegenüber den Juden sagte. Aufgrund dieser Realität ist es mir auch möglich zu glauben – und ohne mich hier zum Hellseher aufzuschwingen -, dass die Juden in Georgien weiterhin einschränkungslos und nach freiem Ermessen als fromme Juden werden leben können.

Die Schule Tifereth Zvi
Einer der spannendsten Aspekte beim Besuch einer jüdischen Gemeinde ist oft die jüdische Schule. In dieser Einrichtung werden schliesslich die Männer und Frauen ausgebildet, die morgen den Fortbestand und eventuell das Überleben des jüdischen Volkes sichern werden. Daher ist immer sehr aufschlussreich zu beobachten, wie und mit welcher Einstellung die Verantwortlichen in Religion und Gemeinde die Jugend in judaistischer Hinsicht ausbilden.
In Tiflis haben wir mit Rabbi Avimelech Rosenblath gesprochen, dem Vertreter des Oberrabbiners Levin während dessen Abwesenheiten sowie Direktor der Schule Tifereth Zvi. Das 1991 gegründete Institut wird heute von 84 Schülern zwischen Primarschule und Matura besucht. Es handelt sich um eine Privatschule, die sich durch die Aufteilung der Lehrpläne in gleich viele Lektionen für jüdischen und weltlichen Unterricht (50%-50%) auszeichnet. Obwohl die jüdischen Fächer und Hebräisch an der Matura nicht geprüft werden, organisiert die Schule interne Examen, die in gewisser Weise für die Endnote im Abschlusszeugnis zählen. Eine weitere Besonderheit dieser Schule: die Eltern könne die Unterrichtssprache wählen, entweder Russisch oder Georgisch. Alle weltlichen Fächer werden in diesen beiden Sprachen unterrichtet, auch wenn die Nachfrage nach Lektionen in russischer Sprache stetig zurückgeht und Englisch immer beliebter wird. Die georgischen Juden sprechen zwar eine eigene Sprache, Grusinisch (eine Mischung aus Georgisch und Hebräisch), doch sie wird von der Jugend praktisch nicht mehr gesprochen und wird auch im Unterricht überhaupt nicht verwendet. Dies ist umso erstaunlicher, als diese Sprache sowohl mit georgischen als auch mit hebräischen Buchstaben geschrieben wird und es auch eine Literatur in grusinischer Sprache gibt.
Die Schule wird durch Spenden aus dem Ausland finanziert und steht nur authentischen Juden offen, wobei keinerlei Schulgeld verlangt wird.

Das israelische Kulturzentrum
In der gesamten Palette der Gemeindeaktivitäten gibt es eine Gruppe mit dem gewichtigen Namen „israelisches Kulturzentrum“. Dabei handelt es sich um eine Organisation, dank der die Juden Georgiens ihre Ausreise nach Israel vorbereiten können. Unter der Leitung von Dima Tapliaschwili bietet dieses Zentrum überall im Land, wo noch Juden wohnen, Hebräischkurse und Informationsveranstaltungen zum Leben in Israel, an denen über Armee und Studium informiert wird, sowie auch einige Unternehmungen für die Jugend an. Im Rahmen dieser Organisation finden ebenfalls Weiterbildungskurse und Freizeitaktivitäten mit jüdischer und zionistischer Ausrichtung für Jugendliche und Studierende statt. Das Zentrum entsendet ebenfalls rund 40 junge Leute pro Jahr nach Israel, damit diese dort am Programm Taglit teilnehmen. Anlässlich eines kurzen Treffens hat Herr Tapliaschwili uns insbesondere berichtet: „Wir setzen den Schwerpunkt auf eine optimale Verbreitung unseres Angebots, um den jungen Juden zu signalisieren, dass wir ihnen zur Verfügung stehen, um ihre Ausreise nach Israel zu erleichtern. Unsere Freiwilligen bemühen sich in dieser Hinsicht besonders in Hochschulkreisen, um dort Kontakt zu jungen Leuten aufzunehmen, die sich bisher kaum für das Judentum und Israel interessiert haben, und sie aufzufordern, sich uns anzuschliessen. Ich weiss, dass bedeutende Aufgaben auf uns warten, und wir tun unser Bestes.“

Rustavi-2
Im Rahmen der sehr schnellen Modernisierung und Demokratisierung Georgiens spielt das Fernsehen, wie überall, eine wichtige Rolle. Wodurch aber unterscheidet sich der grösste Fernsehsender des Landes von allen anderen? Ganz einfach durch die Tatsache, dass sein Generaldirektor ein frommer Jude ist. Zuoberst im Fernseh-Hochhaus von Tiflis haben wir mit Koba Davarashvilli gesprochen, der den Sender Rustavi-2 leitet.
Es ist interessant zu sehen, dass der arabisch-israelische Konflikt die georgische Bevölkerung nicht unbedingt berührt, da sie in Bezug auf Auseinandersetzungen eher an den Kämpfen innerhalb des Landes, nämlich in Südossetien und Abchasien, Anteil nimmt. Im Gegensatz zu anderen Fernsehstationen in der westlichen Welt schlägt der Zweite Libanonkrieg hier keine hohen Wellen und hat nicht einmal Demonstrationen gegen Israel oder Amerika bewirkt. Auf die Frage nach der Parteilichkeit der Presse im Hinblick auf Israel erklärte uns Davarashvilli in einer lebhaften Diskussion insbesondere: „Was die Objektivität der georgischen Presse gegenüber Israel angeht, ist alles ganz einfach. Es gelingt uns kaum, mit den arabischen Sendern zusammenzuarbeiten. Jedes Mal, wenn wir ein Team an den Schauplatz des Geschehens entsenden wollten, lautete die immer wiederkehrende Antwort: ‚Wir rufen Sie in 5 Minuten zurück’, ohne dass uns je jemand anruft. In Israel wurde uns von Anfang an in jeder Hinsicht eine perfekte Zusammenarbeit angeboten, und diese Tatsache wirkt sich natürlich direkt auf die Art und Weise aus, wie über den Konflikt berichtet wurde. Im Grossen und Ganzen kann ich ohne zu zögern bestätigen, dass die Presse in Georgien recht pro-israelisch eingestellt ist. Gegenwärtig besitzen wir noch keine regelmässigen religiösen Sendungen, doch vor hohen Feiertagen oder Chanukkah gehen wir immer in irgendeiner Weise auf diese Feste ein.“