Leben retten

Kommandant Yotam. (Foto: Bethsabée Süssmann)
Von Roland S. Süssmann
Der Lärm von Maschinengewehren und explodierenden Granaten knattert von überall her, Rauch steigt auf, kurz, es sind alle bekannten Elemente des Schlachtfelds vorhanden. Das Rattern eines landenden Helikopters ist zu hören und am Boden liegen einige verwundete Soldaten. Plötzlich kommen zwei oder drei Ärzte oder Pfleger der Armee angerannt. In wenigen Augenblicken analysieren sie die Situation und gehen sofort zu dem Soldaten, der am schlimmsten verletzt ist, weil er von einer Kugel in der Brust getroffen wurde. Der Befehlshaber der Gruppe sagt: „Gebt ihm Morphium“, ein Soldat kniet neben dem Verwundeten und fragt ihn: „Können Sie mich hören?“. Auf welchem Schlachtfeld befinden wir uns?
Es ist gar kein Kriegsschauplatz. Nur wenige Schritte von uns entfernt lenkt ein Medizinstudent von einem geschlossenen Raum aus mit seinem Computer den Blutdruck des Verwundeten, seinen Sauerstoffgehalt, die verlorene Blutmenge, die Kontraktion der Herzkammern (die linke oder rechte, je nachdem) und Ähnliches mehr. Wir befinden uns im Militärzentrum für medizinische Simulation, wo die Männer und Frauen von Tsahal, die morgen in den Krieg ziehen sollen, anhand von computer­gesteuerten Plastikpuppen ausgebildet werden und die korrekten, lebensrettenden Handgriffe erlernen.
Auf einem Militärstützpunkt in der Nähe von Tel Aviv wurden wir von Kommandant YOTAM empfangen, dem Chefinstruktor der so genannten „medizinischen Schule“ der Armee. Ausserdem ist er verantwortlich für die Studien- und Ausbildungs­programme dieses Zentrums sowie für die dort eingesetzten Lehrmethoden, unter denen der medizinische Simulator eine zentrale Bedeutung besitzt.

Wie sieht die Ausbildung der jungen Soldaten aus, die in eine Sanitätseinheit der Armee aufgenommen werden?

In Israel existiert nur ein einziges medizinisches Ausbildungszentrum der Armee, das von den Auszubildenden aller Armeeeinheiten (Luftwaffe, Marine und Bodentruppen) besucht wird. Es ist keine medizinische Fakultät im akademischen Sinne, da hier keine Ärzte ausgebildet, sondern Soldaten aus dem Bereich Sanität auf alle Aspekte der militärischen Gesundheitsberufe vorbereitet werden; die zivilen Ärzte erhalten bei uns eine Ausbildung zu Armeeärzten. Im Rahmen des obligatorischen Militärdienstes kommen Leute zu uns, die im Schnitt 18 Jahre alt sind, über keinerlei Vorkenntnisse verfügen, noch keine Ausbildung und natürlich überhaupt keine Erfahrung im medizinischen Bereich besitzen. In wenigen Monaten müssen wir ihnen beibringen, wie sie Leben retten können. Im Allgemeinen ist die Armee natürlich keine Institution, deren oberste Aufgabe die Lebensrettung ist, ganz im Gegenteil. In unserer Schule stellt das Retten von Menschenleben das oberste Ziel und den wichtigsten Wert dar. Dessen sind sich alle unsere Schüler und Instruktoren bewusst. Innerhalb von 9-12 Wochen haben wir also Krankenpfleger und medizinische Hilfskräfte auszubilden, insgesamt sind es rund 2’200 Rekruten pro Jahr. Das Fundament zu ihrer Ausbildung legen wir, indem wir mit den Grundlagen beginnen, d.h. mit einem zweiwöchigen Basiskurs in Anatomie und allgemeiner Physiologie. Sobald sie diese Mindestkenntnisse erworben haben, kehren wir der Theorie den Rücken, weil sich hier der Unterricht hübsch geschützt im Warmen abspielt, und konfrontieren sie mit der Realität vor Ort. Das Umfeld, in dem unsere Schützlinge werden handeln müssen, ist in der Regel düster, laut, stressig und furchterregend. Deswegen bringen wir unsere Studierenden ab dem 3. oder 4. Kurstag zu einem Training ins Kampfgelände. Wir bieten natürlich spezielle Lehrgänge für Hilfspfleger auf dem Schlachtfeld an, doch wir bilden auch Krankenpfleger aus, die später in Krankenhäusern, oft in Feldlazaretten arbeiten werden.

Wie suchen Sie Ihre Auszubildenden aus?

Zunächst muss man sich vor Augen führen, dass es nicht einfach ist, einem 18-Jährigen etwas über den Wert des Lebens beizubringen. Doch wir bemühen uns darum. Einige unserer jungen Leute werden schon vor dem Eintritt in die Armee für diese Ausbildung ausgewählt, da sie schon einer Rettungstruppe angehören, Erste-Hilfe-Kurse absolviert haben usw. Andere sind bereits Teil einer Kampfeinheit, von der während ihres Aktivdienstes erkannt wurde, dass sie sich besonders gut für diese Art des Einsatzes und eine Ausbildung im medizinischen Bereich eignen. Sie erwerben bei uns eine medizinische Kampfausbildung und kehren dann in ihre Einheit zurück, wo sie als Hilfspfleger dienen. Überdies besitzen die Kandidaten, die in unser Zentrum geschickt werden, aussergewöhnliche menschliche Qualitäten, denn um in der Lage zu sein, die Verantwortung für lebensrettende Massnahmen zugunsten eines Kameraden zu übernehmen, der Blut verliert, nach Hilfe schreit und vielleicht bald stirbt, muss man extrem resistent und psychologisch sehr ausgeglichen sein. Wir legen besonderen Wert auf die Vermittlung menschlicher Werte wie Würde, Freundschaft und Schmerzlinderung.

Welche anderen Kurse neben denjenigen für Krankenpfleger und Hilfspfleger unterrichten Sie?

Man muss wissen, dass jemand, der in die Armee eintritt, in medizinischer Hinsicht rundum betreut wird, sowohl was die Pflege als auch was Erste Hilfe und Prävention angeht. Daher bilden wir Assistenten für die Zahnärzte und für andere Fachgebiete aus. Wir bieten auch eine Reihe von Kursen an, die kürzer ausfallen und speziell auf medizinische Techniker ausgerichtet sind. Wir bilden ebenfalls Leute aus, welche die gesamte Technologie im Zusammenhang mit unseren computergesteuerten Plastikpuppen beherrschen und sie einsetzen können. Dank dieser Ausbildung haben sie ausserdem die Möglichkeit, nach dem Armeedienst in einem medizinischen Simulationszentrum MSR zu arbeiten (siehe dazu Artikel Fähig und bescheiden).

Wie läuft die Ausbildung der bereits praktizierenden Ärzte ab?

Die Lehrgänge für Fachleute in der Medizin sind in zwei Sektoren aufgeteilt: sämtliche medizinische Berufe einerseits und die Ärzte andererseits. So gehört zur ersten Gruppe beispielsweise ein Sanitätssoldat, der die Verantwortung für alles übernehmen muss, was in einem Bataillon mit Medizin zu tun hat. Das kann man nicht in einem Kurs von Magen David Adom oder gar in einem Kurs für Kampfmedizin bei uns lernen. Es handelt sich um einen Speziallehrgang, der 10 Wochen dauert und in dessen Verlauf die betreffende Person lernt, wie der gesamte medizinische Bereich eines Bataillons organisiert wird. Unser längster Kurs dauert ein Jahr, es geht dabei um die Ausbildung der Rettungskräfte. Sie entsprechen am besten den Bedürfnissen der Armee, weil sie es gewöhnt sind, in Notsituationen und ausserhalb des Krankenhauses zu arbeiten. Sie kennen natürlich alles, was ein Profi in diesem Beruf auch im zivilen Leben wissen muss, doch dazu kommen zusätzlich alle militärischen Aspekte. Es ist eine Sache, nach einem – auch schweren – Autounfall Hilfe zu leisten oder bei einem Herzinfarkt Erste Hilfe zu leisten. Es ist etwas ganz anderes, auf einem Schlachtfeld und in einer ganz besonderen Stresssituation medizinische Versorgung anzubieten. Was die Ärzte betrifft, so besitzt die Armee keine eigene medizinische Fakultät, unsere Ärzte stammen aus dem zivilen Umfeld. Obwohl jeder Staatsbürger verpflichtet ist, im Alter von 18 Jahren seinen Militärdienst zu absolvieren, erlaubt die Armee den Medizin­studenten, ihren Aktivdienst zu verschieben, und kann ihnen sogar mit einem Stipendiensystem finanziell unter die Arme greifen. Beim Abschluss ihres Studiums verfügen diese Ärzte über ein umfangreiches akademisches Wissen sowie über eine gewisse medizinische Erfahrung, die sie aber in einem zivilen Krankenhaus erworben haben, wo ihnen auch Krankenschwestern zur Seite stehen. Letztere kennen sich im jeweiligen Spital und in ihrer Abteilung sehr gut aus und haben eine vierjährige Ausbildung durchlaufen. In einem Feldspital gibt es keine Krankenschwestern, sondern militärische Hilfspfleger mit einer ausgezeichneten Ausbildung von 10-12 Wochen. Der Arzt muss eine völlig neue Umgebung kennen lernen und sich bei seiner Arbeit in ihr zurechtfinden. Auch seine Patienten sind anders. Man geht in der Regel davon aus, dass ins Krankenhaus eingewiesenen Zivilpersonen im Schnitt zwischen 55 und 75 Jahren alt sind und die für diese Lebensphase typischen Erkrankungen aufweisen. In einem Militärkrankenhaus sind die Patienten kaum älter als 18 und sind nicht krank, sondern verwundet, gestresst usw. Wenn beispielsweise eine junger Soldat einen Marsch über 60 km absolviert und einen Rucksack von 30 Kilo plus eine schwere Waffe tragen muss, ist dies für seinen Körper eine ziemliche Schinderei. Die Ärzte haben mit Verletzungen zu tun, die im zivilen Leben kaum auftreten und die sie richtig behandeln sollen. Darüber hinaus unterscheidet sich die militärische stark von der zivilen Bürokratie. Die Lehrgänge dauern 14 Wochen, doch nach 7 Wochen besuchen die Klinikärzte und die Militärärzte einen 15-tägigen separaten Kurs, danach werden die Klassen für das Ende der Ausbildung neu gebildet. Nach diesem Lehrgang sind die Männer bereit, zu einem Kriegsschauplatz geschickt zu werden, und wissen, wie sie in den meisten Situationen zu reagieren haben. In diesem Zusammenhang ist der hier installierte computergesteuerte medizinische Simulator extrem wichtig und sinnvoll.

Ein grosser Teil der israelischen Armee besteht aus Reservisten. Arbeiten Sie mit Ihnen und, falls ja, was unternehmen Sie, um sie in die Armeemedizin zu integrieren?

Natürlich tun wir das. Wir lassen sie einen Ausbildungs- und Umschulungszyklus durchlaufen, der je nach Einheit, in der sie dienen, entweder einmal jährlich oder alle zwei Jahre stattfinden kann. Das Problem mit diesen Leuten besteht darin, dass sie das ganze Jahr über einer zivilen Tätigkeit nachgehen, die oft nichts mit der Armeemedizin zu tun hat. Ein Arzt bei den Reservisten kann zum Beispiel als medizinischer Berater einer Versicherung oder einer Pharmaunternehmens tätig sein. Es sind natürlich auch Notfallärzte, Chirurgen oder Anästhesisten unter ihnen, doch sie machen bei weitem nicht die Mehrheit aus. Die Männer, die für die Dauer eines Aktivdienstes zu uns kommen, sind es natürlich nicht gewöhnt, schwer verletzte Patienten zu behandeln, die zudem noch unter extrem schwierigen Bedingungen betreut werden müssen. Wenn sie hier eintreffen, habe ich eine Woche Zeit, um sie darauf vorzubereiten.

Wie gehen Sie vor?

Am ersten Tag konfrontiere ich sie mit dem schrecklichsten Szenario, dem sie begegnen könnten. Wenn sie damit fertig werden, gehen wir von einer soliden Grundlage aus. Weil wir aber nur sehr wenig Zeit haben, erfolgt die Ausbildung direkt innerhalb des Bataillons, oft im Zelt, bei unerträglicher Hitze und mit Menschen, die nur einen einzigen Gedanken im Kopf haben: heimkehren. Unsere Instruktoren müssen daher überzeugend sein, interessant und charismatisch genug, dass all diese Leute aktiv an einem Kurs mitmachen, nach dessen Abschluss sie fähig sein sollten Leben retten zu können!
Es sieht ganz nach einem „unmöglichen Auftrag” aus, und doch sind unsere Instruktoren recht erfolgreich, denn im vergangenen Jahr kamen all diese Männer anlässlich des Zweiten Libanonkriegs zu uns, um uns beim Retten von Menschenleben zu unterstützen. Sie alle haben den Eid abgelegt, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, um das Leben der anderen zu retten, ganz egal, um wen es sich handelt und wo sie sich befinden. Im Libanon befanden sich unsere Sanitäter an vorderster Front, in den libanesischen Häusern zusammen mit unseren Soldaten. In unseren Reihen waren 13 Tote zu beklagen, Menschen, die bereit waren, die Rettung ihrer Kameraden mit ihrem eigenen Leben zu bezahlen.

Besitzt jedes Bataillon sein eigenes medizinisches Team?

Jede militärische Aktivität wird medizinisch begleitet. Doch diese Betreuung fällt selbstverständlich von Fall zu Fall anders aus und hängt von der Gefährlichkeit, den Evakuierungsmöglichkeiten usw. ab.

In welchen anderen Bereichen bieten Sie Ausbildungen an?

In der 1998 gegründeten Abteilung Traumatologie haben wir die Rechte für die Nutzung eines Systems erworben, das „Advanced Trauma Life Support System“ heisst und vom American College of Surgeons stammt; es handelt sich um eine spezielle Doktrin, die von der Vereinigung amerikanischer Chirurgen für die Behandlung und die Chirurgie in Notfällen entwickelt wurde. Wir erteilen zwei verschiedene Kurse in diesem Bereich: den einen zur Behandlung von Traumata im zivilen Umfeld, den anderen für militärische Traumata. Wir sind die einzige Institution in Israel, die zur Ausbildung für diese Doktrin kompetent ist. Dies bedeutet auch, dass jeder Arzt, der sich auf Notfallmedizin, Chirurgie oder Anästhesiologie spezialisieren möchte, unsere Kurse besuchen muss. Manchmal führt dies zu erstaunlichen Situationen, so wie damals, als eine arabische Palästinenserin, die am Krankenhaus Hadassa von Jerusalem einen Lehrgang in Traumatologie absolvierte, gezwungen war, den Kurs auf unserem Militärstützpunkt zu besuchen...

Sie haben gesagt, Ihre wichtigste Aufgabe bestehe darin, Leben zu retten, was letztendlich für eine jüdische Armee durchaus normal ist, da gemäss dem Judentum das Leben den höchsten Wert darstellt. Auf welchen moralischen Grundsätzen beruht nun Ihre Tätigkeit, besitzen Sie einen Verhaltenskodex?

Natürlich, und derjenige von Tsahal basiert auf der jüdischen Tradition, der Halachah, der Torah, den Traditionen des Staates Israel und auf unseren militärischen Traditionen, von denen die menschliche Würde ein Hauptelement darstellt.
Die letzte Sektion unserer Institution befasst sich mit der Ausbildung der Instruktoren sowie mit dem Teil, für den ich persönlich verantwortlich bin und der mir besonders am Herzen liegt, nämlich der Vorbereitung der Zukunft und der Ausbildungsmethoden von morgen. In diesem Zusammenhang sind wir dabei, einen Simulator zu installieren, der mit dem bereits bestehenden für die Kampfmedizin identisch ist, aber für ein Feldlazarett bestimmt ist. Zum Schluss möchte ich noch sagen, dass uns die Armeevertreter aus aller Welt aufsuchen, um sich von unserem Vorgehen inspirieren zu lassen, und ich persönlich reise überall hin, um unsere Tätigkeit vorzustellen und andere Armeen zu informieren. Es ist in unserem Bereich toll, dass wir im Gegensatz zu anderen militärischen Aspekten über unsere Tätigkeit sprechen und unsere Erfahrungen mit all jenen teilen dürfen, die dasselbe Ziel verfolgen: Leben retten!