Jerusalem - Istanbul
Von Roland S. Süssmann
Bulgarien - Griechenland - Georgien - Armenien - Iran - Irak - Syrien - Schwarzes Meer im Norden und Mittelmeer im Süden mit einer territorialen Präsenz auf Zypern. Von diesen Fakten ist die Türkei unmittelbar umgeben. Das Land kann heute angesichts des Kräftemessens zwischen den herrschenden Grossmächten mehr denn je eine Schlüsselrolle in Bezug auf die Entwicklung der politischen Situation in dieser Region der Welt spielen. Die Türkei liegt einige hundert Kilometer von Israel entfernt, wodurch ihre Beziehungen zum hebräischen Staat von entscheidender Bedeutung sind. Jerusalem ist sich dessen auch bewusst und setzt daher auf einen regen Austausch auf höchstem ministeriellen und militärischen Niveau. Darüber hinaus verbinden zwei Linienflüge Tel Aviv täglich mit Istanbul, unabhängig vom israelischen Tourismus in Anatolien.
Wir trafen in Istanbul mit dem israelischen Konsul MORDECHAI AMIHAI zusammen, einem seit 2005 in Istanbul stationierten Karrierediplomaten, um uns von ihm die Beziehungen zwischen den beiden Ländern schildern zu lassen.

Wodurch ist der Austausch zwischen beiden Staaten in erster Linie gekennzeichnet?

Zunächst muss daran erinnert werden, dass die Türkei als erster muslimischer, wenn auch laizistischer und kemalistischer Staat Israel sofort nach Erlangung seiner Unabhängigkeit anerkannte. Lange Zeit, eigentlich bis fast zu Beginn der 90er Jahre, befanden sich die Beziehungen auf sehr bescheidenem, um nicht zu sagen minimalistischem Niveau. Zu Beginn des letzten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts entschloss sich die amtierende türkische Regierung zu einer Kehrtwende und verlieh den Kontakten zwischen den beiden Ländern neuen Schwung. Zu diesem Zeitpunkt wurden denn auch die Verträge über militärische Zusammenarbeit und Verteidigung unterschrieben. Damals erreichte die Handelsbilanz rund 100 Mio. Dollar im Jahr. Heute liegt der Betrag bei 2,5 Mrd. Dollar, und zwar ohne den militärischen Bereich und den Tourismus mitzurechnen, in denen die Zahlen nicht genannt werden oder schwer zu beziffern sind. Vergessen wir nicht, dass jährlich ca. 400\'000 Israelis in die Türkei reisen. Dazu kommen direkte Investitionen in beiden Ländern, und zwar in beträchtlicher Höhe.

Auf den ersten Blick scheinen all diese Kontakte sich in die richtige Richtung zu entwickeln. Doch welche politische Position nimmt die Türkei gegenüber Israel ein?

Nach der Wahl der Hamas wurde der Anführer dieser Organisation, Ismail Haniye, offiziell in die Türkei eingeladen, obwohl diese Aufforderung mit dem subtilen Haken versehen war, dass sie nicht auf Regierungsebene erfolgte. Diese Geste missfiel nicht nur Israel, sondern auch den USA. Während des zweiten Libanonkriegs herrschte sowohl in den Medien (insbesondere bei Fernsehreportagen) als auch bei der Bevölkerung in der Türkei ein sehr israelfeindliches Klima. Der israelische Standpunkt und das Leid der zum Leben in Notunterkünften gezwungenen Menschen wurden nie auch nur erwähnt. Vor dem israelischen Konsulat fanden täglich Demonstrationen statt, die ganz offensichtlich durch sehr tendenziöse, einseitige Presseberichte sowie gegen Israel gerichtete Aussagen der arabischen Politiker, vor allem aus Ägypten, Jordanien und Saudi-Arabien, angeregt worden waren. Von entscheidender Bedeutung waren letztlich aber zweifellos die Erklärungen des türkischen Staatschefs, die noch viel krasser ausfielen als diejenigen der oben erwähnten arabischen Spitzenpolitiker.

Wie erklären Sie sich dies?

Möglicherweise kamen hier die innersten Überzeugungen der türkischen Führungsschicht offen zum Ausdruck. Man darf nicht ausser Acht lassen, dass sehr enge Verbindungen zwischen der türkischen Bevölkerung und der islamistischen Bewegung bzw. den palästinensischen Anliegen existieren und dass wir uns in einem Wahljahr befinden? Die Beziehungen wurden jedoch nicht eingestellt und unser Premierminister hat mit dem Staatschef der Türkei gesprochen. Darüber hinaus kann man interessanterweise feststellen, dass diese ganze schwierige und feindselige Atmosphäre den Handel zwischen beiden Ländern in keiner Weise beeinflusst hat. Die Türkei hat auch ihre guten Dienste bei einer Mediation betreffend unsere gekidnappten Soldaten angeboten, die aber erfolglos verlief. Die Geschäftsleute haben sehr wohl begriffen, dass beide Volkswirtschaften aus der Verbesserung des Handels miteinander nur Vorteile haben können. Heute befinden wir uns wieder beim Status quo ante, der vor dem Krieg bestand, und ich kann ohne zu zögern bekräftigen, dass diese Situation bewiesen hat, dass Politik und Wirtschaft zwei völlig unterschiedliche Bereiche sind. Die Politiker sind sich allerdings der Tatsache bewusst, dass die Türkei und Israel viele Gemeinsamkeiten aufweisen. Zunächst einmal handelt es sich um die beiden einzigen Demokratien im Nahen Osten; die Türkei gehört der NATO an und möchte der EU beitreten, mit der sie bereits eine Reihe von wichtigen Abkommen abgeschlossen hat. Die Situation ist demnach weder eindeutig weiss noch schwarz. Obwohl es in diesem Land eine auf den Westen ausgerichtete Elite gibt, herrscht im Allgemeinen doch eine eher amerikafeindliche und folglich israelfeindliche Atmosphäre. Die Feindseligkeit gegenüber den USA wird in erster Linie und konstant durch die amerikanische Präsenz im Norden Iraks genährt, wo die Kurden und ihr Erdöl zu finden sind. Die Türken möchten, dass die Amerikaner gegen den PKK (die bewaffnete kurdische Opposition) vorgehen, oder lieber noch, dass sie ihnen freie Hand lassen, um militärisch einzugreifen, was aber nicht eintritt. Während des Libanonkriegs stellten die Kommentatoren überdies gern folgende Frage: «Warum lassen es die USA zu, dass Israel im Libanon interveniert, und untersagen der Türkei das Vorgehen gegen die Kurden?». Es muss einem auch klar sein, dass eine der grossen Befürchtungen der Türken darin besteht, dass im Norden Iraks ein kurdischer Staat entsteht, wo doch in der Türkei rund 15 Millionen Kurden leben, d.h. knapp 25% der Bevölkerung. Dazu kommen ein oder zwei weitere, nicht zu unterschätzende Fakten. Man darf nicht vergessen, dass sich im Irak die bedeutenden Erdölvorkommen im Norden in den Händen der Kurden und im Süden in denjenigen der Sunniten befinden. Im Zentrum, wo die Sunniten leben, gibt es praktisch kein Öl. Darüber hinaus leben auch in Iran ca. eine Million Kurden, was in gewisser Weise auch die Beziehungen der Türkei zu Iran verstärkt. Letztere gelten seit jeher als unklar und wechseln zwischen Einigkeit und Krieg hin und her.

Welche Position nimmt Israel in diesem politischen und geopolitischen Spiel ein, bei dem die kurdischen Anliegen letztendlich nur einen Teilaspekt darstellen?

Man muss sich deutlich vor Augen führen, dass Israel für die Türkei seit einigen Jahren in erster Linie ein gewichtiges prowestliches Element im Nahen Osten darstellt, mit dem sie unter den gegebenen Umständen an möglichst guten Beziehungen interessiert ist, insbesondere im Bereich der Verteidigung. Die Türkei geht davon aus, dass der Schlüssel, der in Washington die richtigen Türen aufschliesst, in Jerusalem und in der Macht der jüdischen Lobby in Amerika zu finden ist. Dank den positiven Kontakten zu Israel kann die Türkei den Europäern beweisen, dass sie im Nahen Osten sowohl von den Israelis als auch von den Arabern geschätzt wird, was mittelfristig ihrem Dossier als Beitrittskandidatin zur EU nur förderlich sein kann. Dieser Beitritt liegt der Türkei sehr am Herzen, da sie in der arabischen Welt nicht so hoch im Kurs steht: diese hat die teilweise Kolonisierung durch das Osmanische Reich noch nicht vergessen. Abschliessend möchte ich sagen, dass die Beziehungen zu Israel das Ergebnis von raffiniertem politischem Kalkül sind, das letztendlich beiden Ländern in mancherlei Hinsicht zugute kommt.

Ein israelischer Abgesandter, sei er nun Konsul oder Botschafter, fungiert nicht nur als Vertreter seines Landes an dem Ort, wo er stationiert ist, sondern ist auch für die jüdische Gemeinschaft zuständig. Wie sehen Sie die jüdische Gemeinde der Türkei?

Es handelt sich um eine alternde Gemeinschaft, die immer mehr schrumpft. Wie überall in der Türkei, haben die mittleren und höheren Gesellschaftsschichten nur wenig Kinder, und zahlreiche junge Juden verlassen das Land. Heute leben rund 25\'000 Juden in der Türkei, davon fast 20\'000 in Istanbul, 2\'000 - 2\'500 in Izmir und die übrigen verstreut in anderen Städten. Die Religion kann aber völlig frei ausgeübt werden, solange sie nicht offiziell zionistisch auftritt. Obwohl an den Schulen keine zionistische Erziehung stattfindet und in den Synagogen oder in den Büros der Gemeindeverantwortlichen nie eine israelische Flagge hängt, ist die jüdische Gemeinschaft der Türkei sehr eng mit Israel verbunden und wir pflegen äusserst herzliche Kontakte. In Bezug auf den Antisemitismus gibt es einige wissenswerte Aspekte. Während des zweiten Libanonkriegs machten die Presse und all jene, die gegen Israel aufhetzten, zunächst keinerlei Unterschied zwischen Israelis und Juden. Es kam aber zu keinen eigentlichen antisemitischen Handlungen, zumindest zu keinen physischen Gewaltakten. In den Buchhandlungen tauchten aber antisemitische Karikaturen auf, und aufgrund einer langen Tradition der Angst vor einer Verschwörung gingen auch zahlreiche Bücher in der Art der Weisen von Zion, in denen die jüdische Hegemonie in der Welt dargelegt wurde, offen über den Ladentisch. Darüber hinaus gilt Mein Kampf in der türkischen Übersetzung seit Jahren als Bestseller.
Abschliessend würde ich sagen, dass die jüdische Gemeinschaft gut in das türkische Leben integriert und mit ihrer Funktionsweise ausreichend vertraut ist, um die Fallen zu umgehen, die ihr nur unnötige Schwierigkeiten zu bereiten drohen.