Das Institut Zydowski
Warschau besitzt kein jüdisches Museum im eigentlichen Sinne. Im Rahmen des Jüdischen Historischen Instituts erhält man allerdings dank einer ständigen Ausstellung in zwei Teilen einen knappen Überblick über das, was das jüdische Leben in Polen einmal darstellte. Bevor wir uns aber dieser Ausstellung zuwenden, drängen sich einige Angaben zum Institut an sich auf. Es besteht aus fünf Abteilungen - Museum, Archiv, Forschungstätigkeit, Bibliothek und Dokumentationszentrum – und wurde 1946-47 von polnischen Juden gegründet. Sie wollten einen Ort schaffen, wo an das jüdische Leben und die jüdische Kultur in Polen erinnert würde, die nach 800-jährigem Bestehen in einem einzigen Augenblick während der Schoah vernichtet wurden. Als Gebäude, das diese aktive und lebendige Gedenkstätte beherbergen sollte, wählte man den Sitz des Jüdischen Historischen Instituts, das zwischen 1928 und 1936 erbaut wurde und als erstrangige jüdische Bibliothek geplant war. Neben diesem Haus befand sich die grosse Synagoge von Warschau an der Thomackie-Strasse, die aufgrund ihrer Lage ausserhalb des Ghettos ab 1942 den Deutschen als Möbellager diente. Am 16. Mai 1943 liess der SS-Offizier Jürgen Stroop nach der Niederschlagung des Aufstands im Ghetto die Synagoge mit Sprengstoff zerstören, um allen deutlich zu verstehen zu geben, die Endlösung für die Judenfrage sei in Warschau schon erreicht worden.
Die Zahlen betreffend das kontinuierliche Schrumpfen der jüdischen Gemeinschaft in Polen sprechen für sich: 1900 waren es 2,5 Millionen Juden; 1939, 3,46 Millionen; 1946 blieben nur 192'000 übrig; 1956, 15'000; 1968, 6'000 und heute umfasst die Gemeinschaft nicht mehr als ca. 3'500 Menschen.
Angesichts dieses dramatischen Dahinschwindens, um nicht zu sagen der fast vollständigen Vernichtung der jüdischen Gemeinschaft Polens, hat das Institut heute drei verschiedene Aufgaben zu erfüllen. Zunächst stellt es das grösste Dokumentationszentrum für das kulturelle Erbe der polnischen Juden dar. Zweitens dient es als Bindeglied zwischen den aus Polen stammenden Juden, die heute überall auf der Welt verstreut leben, und ihrem Herkunftsland. Und schliesslich hat es ein weiteres sehr wichtiges Ziel zu erreichen, nämlich die Rehabilitierung der Rolle, welche die Juden in der Geschichte Polens gespielt haben, sowie ihres aussergewöhnlichen Beitrags in allen Bereichen in Bezug auf akademische Fächer oder den Handel. Dazu muss man wissen, dass dieser Aspekt der polnischen Geschichte während der gesamten Ära des kommunistischen Regimes völlig totgeschwiegen und in den Geschichtsbüchern nicht erwähnt wurde.
Für den Besucher sind zwei Abteilungen von speziellem Interesse: das Archiv und das Museum. Im Archiv befindet sich die bedeutendste Dokumentensammlung zur Geschichte der polnischen Juden während des Zweiten Weltkriegs, sie umfasst 700 Regalmeter und betrifft in erster Linie die Nachkriegszeit. Es sind ebenfalls Dokumente zum Gemeindeleben und zu Einzelschicksalen betreffend die Vorkriegszeit vorhanden. Das Archiv enthält ausserdem 7’300 Zeugenberichte von Menschen, die aus den Lagern gerettet wurden; dabei sind Personen aus allen Ghettos und aus allen Lagern, auch den kleinsten, vertreten. Sie beschreiben die Vernichtung der unbedeutenderen Gemeinden und die Ermordung ihrer Mitglieder. Auch ein genauer Bericht über die völlige Zerstörung der jüdischen Gemeinschaften in den Dörfern Jedwaben und Radzilow durch polnische Nichtjuden liegt im Archiv vor, sowie zahlreiche Berichte über die Ermordung von Juden durch die Polen, als jene nach ihrer Befreiung in ihre Dörfer und Häuser zurückkehrten.
Die Liste der Dokumente, Tagebücher, Namen von Kriegsgefangenen usw. ist endlos und kann in einem kurzen Artikel nicht erschöpfend aufgezählt werden. Es ist allerdings festzuhalten, dass sich unter den unzähligen Papieren auch das Archiv der jüdischen Gemeinden von Wien und Prag befinden, ausserdem jenes der deutschen Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes in Paris, und zwar mit 785 Karteikarten, auf denen die geraubten Besitztümer der Juden genau beschrieben werden.
Der wertvollste Teil dieser Sammlung ist jedoch das Archiv Ringelblum, benannt nach ihrem Gründer. Eine kleine Gruppe unter der Leitung dieses bekannten Historikers wollte den Alltag der Juden unter deutscher Besatzung, insbesondere im Warschauer Ghetto, dokumentieren. Alle von Flüchtlingen oder Deportierten stammenden Informationen aus anderen Regionen Polens wurden sorgfältig gesammelt, alle Dokumente betreffend die Politik des Besatzers, die Vernichtungslager und die Ghettos wurden registriert und geordnet. Ein Teil des Archivs von Ringelblum wurde am 3. August 1942 im Ghetto selbst versteckt, d.h. während der grossen Deportation der Einwohner in das Vernichtungslager Treblinka, ein zweiter Teil wurde in Milchkannen in einer Schule verborgen, und der letzte Teil wurde am 19. April 1943 während der letzten Nacht des Aufstands in einem Gebäude hinterlegt. Die beiden ersten Teile des Archivs wurden 1946 bzw. 1950 im zerstörten Ghetto entdeckt, der dritte ist bis heute verschollen. 1999 nahm die Unesco das Archiv Ringelblum, das 6'000 Dokumente auf insgesamt 30'000 Seiten umfasst, in die Liste der wertvollsten Werke des Weltkulturerbes auf.
Wenden wir uns jetzt dem Museum zu: der erste Abschnitt ist dem Warschauer Ghetto gewidmet; die Etappen ab der ersten Verordnung bis zum Einsperren von fast 450'000 Personen im Ghetto, bevor diese vor Ort oder in den Vernichtungslagern getötet wurden. Fotos und Schriftstücke erzählen von allen Aspekten des Alltags im Ghetto, einschliesslich der kulturellen Aktivitäten, der Sklavenarbeit, der Hungersnot, der Epidemien, der gegenseitigen Hilfe, des bewaffneten Aufstands usw. Der zweite Abschnitt befasst sich mit jüdischen Kultusgegenständen, darunter auch Druckerzeugnissen, Textilien und gar der Rekonstruktion des Innenraums einer Synagoge. Der grösste Teil der Sammlung ist jedoch nicht ausgestellt, sie befindet sich im Lager. Weiter sind vor allem auch Gemälde und Statuen mit jüdischem Charakter zu sehen.
In Warschau ist ein neues jüdisches Museum mit virtuellen und didaktischen Elementen geplant. Doch selbst nach der Eröffnung dieser neuen Institution wird das Jüdische Historische Institut von Warschau sowohl in Bezug auf einzelne Menschen als auch auf Gemeinden die bedeutendste Einrichtung für die Erforschung der Geschichte der polnischen Juden bleiben.