So Weit das Auge reicht
Von Roland S. Süssmann
Jeder jüdische Tourist, der Warschau besucht, bekommt es zu hören: «Die Gemeinde ist nicht mehr, was sie einmal war und wird es auch nie mehr sein», oder auch: «Vor dem Krieg lebten 300'000 Juden in Warschau» usw. All diese Erklärungen sind zwar beeindruckend, bleiben aber recht abstrakt. Die wahre Bedeutung dieser Worte und die Dimension, die sie darstellen, leuchten erst dann ein, wenn man den jüdischen Friedhof der Stadt aufsucht, der 250'000 individuelle Grabstätten umfasst, da es keine Familiengräber gibt!
Der Friedhof umfasst eine Gesamtfläche von 33,5 Hektaren, das sind 335'000 m2, und besteht seit 1806, die erste Beerdigung fand 1807 statt. Obwohl sich die jüdische Gemeinschaft von Warschau aus Juden aller Ausrichtungen zusammensetzte, wünschten sich auch die dem Judentum am stärksten entfremdeten Personen ein jüdisches Begräbnis auf diesem Friedhof, der nach Sektoren aufgeteilt ist: orthodox, traditionell, liberal usw. Grosse Namen aus Kunst, Literatur und Politik (der Gründer der sozialistischen Partei Polens), berühmte Rabbiner und «chassidische Rebben», aber auch bekannte Exegeten liegen hier begraben. Hier finden viele Persönlichkeiten, die nicht nur das jüdische Leben, sondern auch die polnische Kultur und die jiddische Literatur geprägt haben, eine letzte Ruhestätte. So kann man auf diesem Friedhof die Gräber von Ludwig Zamenhof, dem Esperanto-Erfinder, von E.R. Kaminska, der Gründerin des jiddischen Theaters, von J.L. Peretz, dem Vater der jiddischen Literatur in Polen, besichtigen. Der Friedhof ist auch heute noch in Betrieb, 15 bis 20 Beerdingungen finden jährlich in einer neuen Sektion statt, in der etwas mehr als 1'000 Gräber Platz finden werden, was für die kommenden 50 Jahre reichen sollte. Niemand weiss, weshalb die Deutschen ihn nicht zerstört haben. Unter dem Regime von Moskau hat man den Friedhof vernachlässigt, zahlreiche Grabsteine wurden gestohlen. Heute bildet ein grosser Teil des Friedhofs einen richtigen Wald und niemand ist wirklich sicher, wie viele Gräber unter den Bäumen und zwischen den knorrigen Wurzeln liegen. Im Krieg wurde das Friedhofsarchiv völlig zerstört. Direktor Przemystaw Isroel Szpillman, der bei der jüdischen Gemeinde von Warschau angestellt ist, versucht diese Liste zu rekonstruieren. Seit drei Jahren sucht er täglich nach versunkenen Gräbern, von denen er bis heute 34'500 entdeckt hat. Er geht ganz allein auf diese Erkundungsgänge und meint, dass er wohl noch 12 bis 15 Jahre brauchen wird, um alle Grabstätten zu registrieren… Immer wieder wenden sich in Israel, den USA oder in Südamerika lebende Menschen an ihn, weil sie nach Hinweisen zu den Gräbern ihrer Verwandten suchen. Nicht selten kann er ihnen dabei weiterhelfen. Ein grosses Problem bleibt jedoch die Pflege der zerstörten Grabmäler, da die meisten Nachkommen deportiert worden sind. Darüber hinaus hat man in der kommunistischen Ära die schönsten Steine, vor allem diejenigen aus schwarzem Granit, entwendet und dann weiterverkauft.
Der Friedhof wird täglich von zahlreichen Menschen aus aller Welt besucht, insbesondere von israelischen Gymnasiasten, aber auch von normalen Warschauer Bürgern, die den Unterschied zwischen einem jüdischen und einem katholischen Friedhof sehen möchten. Für die Besichtigung des Friedhofs muss man zahlen, denn der Ticketverkauf stellt die einzige Einnahmequelle für die Pflege dieses sowohl gigantischen wie gruseligen Ortes dar.
Während eines kurzen Gesprächs haben wir Herrn Szpillman gefragt, welches seiner Ansicht nach das bedeutendste Grab sei. Er antwortete: «Das hängt von Ihrer Einstellung ab. Für die einen ist es das Grab des Rabbiners, an dem Leute aus aller Welt zum Beten kommen, für die anderen dasjenige eines Schriftstellers, eines Künstlers oder einfach eines Verwandten. Für mich ist es das Gemeinschaftsgrab. Während der Epoche des Ghettos sammelten die Totengräber jeden Tag anonyme Leichen ein, Menschen, die aus Hunger oder an einer Krankheit gestorben waren, luden sie auf Schubkarren und warfen sie in die Grube des dazu bestimmten Gemeinschaftsgrabs. Sie ist heute durch weisse Steine sichtbar abgegrenzt, ein symbolischer Grabstein gibt die Stelle an. Dies ist die einzige Ehre, die wir diesen Unglücklichen erweisen können. 1941 kamen 43'000 Personen auf diese Weise ums Lebens, dies entspricht einem Zehntel der Ghetto-Bevölkerung von Warschau. Das wichtigste Grab ist für mich letztendlich dasjenige meines Urgrossvaters, das ich aber noch nicht ausfindig machen konnte».
Beim Verlassen dieses sowohl düsteren als auch eindrucksvollen Ortes stellte ich mir die Frage, was schrecklicher ist: Zu wissen, dass ein Familienangehöriger in ein Todeslager deportiert und dort ermordet wurde, weil sein Name auf einer deutschen Liste zu finden ist, oder nicht zu wissen, wo er verschollen ist und mir vorstellen zu müssen, dass er vielleicht völlig anonym im Gemeinschaftsgrab auf dem Friedhof von Warschau liegt. Da muss jeder seine eigene Antwort finden.