Jude und Pole
Von Roland S. Süssmann
Im Zusammenhang mit unseren Reportagen, insbesondere in den osteuropäischen Ländern, ist die Tatsache, dass in den Gemeinden oder im Bildungswesen eine Erneuerung beobachtet werden kann, natürlich von grossem Interesse, doch wirklich spannend wird das Ganze erst durch die Menschen, denen wir begegnen. Es ist faszinierend, ihre Lebenserfahrungen und ihre Ansichten zu ihrer Zukunft als Juden in diesem Land kennen zu lernen. In Warschau hat PIOTR KOWALIK unseren Weg gekreuzt, der Vizedirektor für jüdische Lehrpläne an der Schule Lauder Morasha von Warschau. Sein Leben und seine Laufbahn in der jüdischen Welt zeichnen sich einerseits als etwas Besonderes ab, können andererseits aber auch als repräsentativ für den Lebensweg angesehen werden, den viele junge Juden in den letzten Jahren zurückgelegt haben.

Können Sie kurz über Ihr bisheriges Leben berichten?

Ich bin polnischer Jude und fühle mich daher als 100%iger Pole und als 100%iger Jude. Ich wurde in Wroclaw geboren, und zwar in eine gemischte Familie, wobei meine Mutter Jüdin war. Bis zu Beginn der 1990er Jahre blieb jedoch die Tatsache, dass ich Jude bin, ein Familiengeheimnis, obwohl ich bereits 25 Jahre alt war! Erst infolge der politischen Umwälzungen in Polen und angesichts des Wiedererwachens des jüdischen Lebens erzählte mir meine Mutter die wahre Geschichte unserer Familie. Daraufhin schloss ich mich recht schnell der jüdischen Gemeinde von Wroclaw an, die rund 300 Mitglieder umfasst, und lernte da auch Helise Lieberman kennen, die mir eine Stelle bei der Ronald S. Lauder Foundation anbot, wo ich als Geschichtsstudent anfing dieses Fach zu unterrichten.
Nach der Schoah lebte meine Familie in Galizien, wurde dann allerdings gezwungen, das Land zu verlassen und nach Polen zurückzukehren. Damals wurde geplant, eine grössere «jüdische Region» im westlichen Staatsgebiet von Polen zu schaffen. Der Gedanke an sich war gar nicht so übel, denn da die jüdische Gemeinschaft, die vor der Schoah bestanden hatte, so brutal dezimiert worden war, bot dieses Projekt den Gemeinden die Möglichkeit, neues jüdisches Leben aufzubauen. In gewissen Ortschaften bestand gar eine jüdische Mehrheit, doch wegen der in Polen herrschenden antisemitischen Atmosphäre wurde dieser Plan zu Beginn der 1950er Jahre vom kommunistischen Regime ad acta gelegt: es setzte offiziell einen Schlussstrich unter alles, was irgendwie an Unabhängigkeit gemahnte, einschliesslich der jüdischen Autonomie. Dennoch wurde eine bestimmte jüdische Lebensform aufrechterhalten, finanziert mit ausländischen Mitteln und unter dem wachsamen Auge der Schergen des kommunistischen Regimes. Es gab aktive Synagogen und sogar so genannte jüdische Schulen, die natürlich den Behörden unterstellt waren. Erst jetzt, seit der Einsetzung einer echten demokratischen Regierung, können wir «frei atmen» und unser Judentum wirklich und richtig ausleben.

Weshalb hat Ihre Familie plötzlich beschlossen, das «grosse Geheimnis» zu lüften?

Irgendwann gegen Ende der 80er Jahre, als jedermann bereits wusste, dass das kommunistische Regime dem Ende zuging, kam in Polen aus unerfindlichen Gründen eine grosse Begeisterung für alles auf, was irgendwie mit dem Judentum zusammenhing. Die Bevölkerung im Allgemeinen und vor allem die Intelligenzija gaben dem Gefühl Ausdruck, ein wesentliches Element der polnischen Geschichte und Kultur würde eigentlich fehlen, in erster Linie im Bildungswesen: der Jahrhunderte lange Beitrag der Juden zum Aufschwung Polens. In dieser Zeit wurden überall in Polen Tausende von Büchern, die sich von nah oder von fern mit jüdischen Themen befassten, sowie zahlreiche andere Dinge verkauft, die auch nur einen entfernten jüdischen Touch besassen. Damals entstanden die ersten jüdischen Musik-, Film- und Literaturfestivals. Zwei bedeutende Tabu-Themen wurden unentwegt in der Öffentlichkeit diskutiert: die Beziehungen zwischen Polen und Juden während der Schoah sowie das jüdische Erbe infolge einer über achthundertjährigen Präsenz im polnischen Leben. Parallel dazu begannen die Gemeinden sich neu zu konstituieren und wieder aktiv zu werden. Wir lebten demnach in einer ganz aussergewöhnlichen Epoche, in einer Atmosphäre, wie wir sie zuvor noch nie gekannt hatten und die den Enthüllungen in Bezug auf die Identität natürlich förderlich war. In diesem Kontext ist auch die Geschichte meines jüngsten Bruders sehr bezeichnend. In den zwei Jahren nach der Enthüllung der Wahrheit war er sehr unsicher und sagte zu mir: «Du bist Jude, aber ich nicht». Als er dann arbeitslos wurde, wurde er angefragt, ob er bei der Renovierung des jüdischen Friedhofs von Wroclaw mithelfen würde. Da er kein Hebräisch lesen konnte, begann er sich für die Inschriften auf den Grabsteinen zu interessieren. Mit der Zeit informierte er sich über die Geschichte der Gemeinde, besuchte Gottesdienste in der Synagoge, war für die Lauder Foundation tätig und reiste schliesslich nach Israel, um an einer Jeschiwah zu studieren… heute lebte er als Chassid und Anhänger von Bobow in New York!

Wie sehen Sie Ihre Zukunft als Jude in Polen?

Heute scheint sich alles sehr positiv zu entwickeln. Wir besitzen die völlige Glaubensfreiheit, die Zahl der bekennenden Juden scheint täglich zu steigen, es finden immer mehr Aktivitäten und Veröffentlichungen statt und man unternimmt grosse Anstrengungen, um die jüdische Erziehung und Identität zu fördern. Angesichts der politischen Entwicklung in Polen mache ich mir aber grosse Sorgen um die Zukunft. Sie ist nämlich beängstigend, und ich frage mich zum ersten Mal seit der Einführung der Demokratie, ob diese wirklich gefestigt ist. Man muss sich vor Augen führen, dass in Polen auf allen Ebenen ein Machtwechsel stattfindet, insbesondere in Bezug auf die Kontrolle der Presse (vor allem des öffentlichen Fernsehens) und des Bildungswesens, wo offen antisemitisch eingestellte Personen immer mehr Einfluss besitzen und Schlüsselpositionen einnehmen. Ich fürchte, dass es ihnen über kurz oder lang gelingt, die Mentalitäten und die Denkweise der jungen Generation zu steuern. Wir haben daher allen Grund, uns ernsthafte Gedanken zu machen. Ich hoffe, die Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Regierung sind so gross, dass die Koalitionsmitglieder aus der rechtsradikalen Partei gezwungen sind, die Macht abzugeben. Wenn sie es aber schaffen, bis zum Ende der Legislaturperiode in vier Jahren bei der Stange zu bleiben, besteht die Gefahr, dass sie Mechanismen einführen, die von einer eventuellen neuen demokratischen Regierung nicht so leicht wieder rückgängig gemacht werden können. Darüber hinaus haben die gegenwärtig amtierenden Politiker gute Aussichten auf eine Wiederwahl. Mit diesem Ziel versuchen sie eine grosse, rechts stehende Einheitspartei zu schaffen, die bei den nächsten Wahlen viele Sitze zu gewinnen droht. Dabei geht es nicht einfach um den Antisemitismus, sondern um ein grundlegendes Problem betreffend das Überleben der Demokratie. Kurz, meiner Ansicht nach steht Polen am Scheideweg und muss eine Entscheidung treffen, die nicht lange wird auf sich warten lassen und unsere Zukunft bestimmen wird.

Wie gedenken Sie diese neue Realität zu bekämpfen?

Glücklicherweise verfügen wir in Polen über eine einflussreiche private Presse, von der es teilweise heisst, sie sei «die stärkste amtierende Partei». Ich vertraue auf sie und bete.

Was unterrichten Sie und wo haben Sie Ihre Ausbildung genossen?

Ich lehre die jüdischen Fächer. Da uns keine Bücher in polnischer Sprache zur Verfügung stehen, übersetze, vervollständige und adaptiere ich jüdische Lehrwerke und literarische Texte in polnischer Sprache. Ich bin Historiker und habe mich auf jüdische Themen spezialisiert. Ich habe kein eigentliches Studium in jüdischen Fächern absolviert, habe es aber als Autodidakt und durch den regelmässigen Besuch von Kursen und Seminaren geschafft, ein Niveau zu erreichen, das zum Unterrichten ausreicht. Da ich meine Aufgabe effizient und gut erfüllen möchte, bilde ich mich kontinuierlich weiter.

Wie wir sehen, verfolgt Piotr Kowalik sein Ziel mit Entschlossenheit, auch wenn einige Unsicherheiten bestehen bleiben.


DIE SCHULE LAUDER MORASHA

Nach der Befreiung der kommunistischen Regimes hat es sich die Ronald S. Lauder Foundation zum Ziel gesetzt, Tausenden von jungen Juden in ganz Osteuropa den Zugang zu einem Mindestmass an jüdischer Bildung zu ermöglichen. Zwischen 1987 und 2005 wurden in insgesamt 16 Ländern Kindergärten, Schulen, Gemeindezentren, Ferienlager (an denen rund 5000 Kinder teilnehmen) und sogar eine Business School eröffnet. Die erste Initiative ergreift in der Regel eine Gruppe von Eltern oder eine Gemeinschaft, welche mit der Stiftung Kontakt aufnehmen, damit sich diese an der Gründung der Schule beteiligt. Wenn genügend Kinder da sind und die Eltern einen echten Willen zeigen, ihnen eine jüdische Erziehung angedeihen zu lassen, stehen die Aussichten gut, dass die Stiftung ihrem Antrag stattgibt. Dies war auch in Polen der Fall, und zwar in Warschau, wo es nun einen Kindergarten, eine Primar- und eine Sekundarschule sowie ein Ferienlager für Sommer und Winter gibt, und auch in Wroclaw (Breslau), wo aber nur eine Schule existiert. Die Schule Lauder Morasha in Warschau wird heute von 250 Kindern besucht, die dort bis zum Alter von 16 Jahren ihre Schulpflicht absolvieren. Der Lehrplan entspricht den Programmen des polnischen Erziehungsministeriums, die um einige Kurse in jüdischen Fächern ergänzt werden. Im Schnitt werden pro Woche 5-7 Lektionen mit jüdischem Inhalt erteilt: Hebräisch, Judentum, Vorbereitung auf die Feiertage usw. Die Direktion geht davon aus, dass etwas mehr als die Hälfte der Schüler «jüdische Wurzeln» besitzen und dass nur weniger als 10 von 250 Schülern authentisch jüdisch sind; dennoch nehmen alle jüdischen und nichtjüdischen Kinder an sämtlichen jüdischen Aktivitäten teil. In diesem Zusammenhang informierte uns Helise E. Lieberman, die Direktorin der Schule, sehr deutlich: «Wir unterrichten nicht Religion, sondern das Judentum», was im vorliegenden Fall zu reichen scheint. Neben diesen zusätzlichen Schulfächern lernen die Kinder die Traditionen kennen, die Folklore, die Ernährungsgewohnheiten (täglich werden zwei koschere Milchgerichte angeboten, doch die Kinder dürfen auch ihr eigenes Essen von zu Hause mitbringen) und vieles mehr. Zu den obligatorischen Sprachen gehören Polnisch, Englisch und Hebräisch, wobei die letztgenannte als Fremdsprache nicht für die Matura anerkannt wird, während Deutsch oder Französisch fakultativ sind. Das Gebäude, in dem die Schule untergebracht ist, wurde 1928 von einem jüdischen Architekten gebaut und diente zunächst als Altersheim für die jüdischen Intellektuellen. Lassen wir zum Schluss noch Helise E. Lieberman ihre Aufgabe zusammenfassen: «Unser Ziel ist es, Kindern mit jüdischen Wurzeln eine Ausbildung zu geben. Bisher haben wir Programme durchgeführt, an denen auch die Eltern beteiligt waren, was in Polen völlig ungewöhnlich ist. Wir hoffen, dass wir auf diese Weise unseren Beitrag zur Stärkung der jüdischen Gemeinschaft in Polen leisten können, denn eines unserer wichtigsten Ziele ist es, die Beziehung der Juden untereinander zu intensivieren, um ihr Interesse an allem zu wecken, was mit dem Judentum zusammenhängt. Dazu gehört auch eine bestimmte Form der zionistischen Bildung, auch wenn wir die Juden eigentlich nicht zur Emigration aus Polen auffordern».