Jüdisches Leben in Brüssel
Von Roland S. Süssmann
Am 5. Dezember 2001 gab es für die grossen belgischen Tageszeitungen nur ein Thema auf den Titelseiten: den Angriff auf ALBERT GUIGUI, den Oberrabbiner von Brüssel. Die Schlagzeilen fielen alle etwas unterschiedlich aus, doch diejenige von Libre Belgique umriss die Lage am besten: «Antisemitische Schande auf offener Strasse». Drei Jahre danach trafen wir den Oberrabbiner, der uns sehr gastfreundlich bei sich zu Hause empfing. Die Aggression hat sich ihm als Erfahrung ins Gedächtnis eingebrannt, die Täter sind bis heute unauffindbar. Wir baten den Oberrabbiner, uns neben diesem eher unglücklichen persönlichen Erlebnis auch von seiner Gemeinde zu erzählen, seinen Standpunkt zum jüdischen Leben im Belgien der Gegenwart darzulegen und uns zu erläutern, wie er die Zukunft dieser Gemeinschaft sieht.

Könnten Sie uns in wenigen Worten die aktuelle Situation des belgischen Judentums beschreiben, wie Sie sie gegenwärtig erleben?

Mir scheint es wichtig, dass ich Ihren Lesern vor der Beantwortung dieser Frage die Strukturen unserer Gemeinde erläutere. Belgien existiert erst seit 1830 als unabhängiges Land. Davor gehörte ein Teil zu Frankreich, ein anderer zu Holland. Aus diesem Grund weisen wir ähnliche, aber nicht identische Strukturen wie die jüdische Gemeinde Frankreichs auf und besitzen ein zentrales Verwaltungsorgan (Konsistorium). Ein wesentlicher Unterschied zwischen Frankreich und Belgien liegt jedoch darin, dass Frankreich ein laizistischer Staat ist, während Belgien ein neutrales Land ist, was bedeutet, dass der Staat die Religionen unterstützt. Das belgische Judentum ist in gewisser Weise pyramidenförmig aufgebaut. Die Basis bilden die Gemeinden, von denen die wichtigsten sich in Brüssel (sephardische, orthodoxe Gemeinden, Rue de la Régence, Waterloo usw.) und in Antwerpen (Machsike HaDat, Schomrei HaDat usw.) befinden, und die kleineren u.a. in Charleroi, Lüttich, Gent angesiedelt sind. Jede dieser Gemeinden wird autonom von ihrem eigenen Verwaltungsrat geleitet und ist mit ihren typischen Eigenarten unabhängig und getrennt von den anderen tätig. Je nach Grösse entsendet jede Gemeinde eine bestimmte Zahl von Abgeordneten in die Konsistorial­versammlung, die 43 Vertreter umfasst; letztere werden, wie die Verwaltungsräte, innerhalb jeder einzelnen Gemeinde gewählt. Die Konsistorialversammlung tritt vier Mal im Jahr zusammen, um über alle Fragen betreffend das belgische Judentum zu diskutieren, und verfügt über ein Exekutivbüro, das sich um die laufenden Geschäfte kümmert. Dieses Büro besteht aus fünf Mitgliedern der vier grössten Gemeinden des Landes (zwei aus Brüssel, zwei aus Antwerpen und einem Vertreter aller kleinen Gemeinden). Der Präsident des Konsistoriums gehört ebenfalls diesem Büro an. An der Spitze der Pyramide befindet sich der Präsident des Konsistoriums, der dem Geschick der gesamten Struktur vorsteht und sie auch als Sprecher bei den Behörden vertritt. Seiner Funktion angegliedert ist der Mann, der früher Oberrabbiner von Belgien genannt wurde und heute den Titel eines an das Israelitische Konsistorium von Belgien angegliederten Oberrabbiners trägt. Die oberste Verantwortung liegt folglich bei zwei Personen: alle politischen Angelegenheiten werden vom Präsidenten des Konsistoriums geregelt, alle religiösen Dinge liegen in der Hand des Oberrabbiners, dessen Amt ich gegenwärtig bekleide. Einigen sehr vagen Schätzungen zufolge umfasst dieser Zusammenschluss von Gemeinden fast 40'000 Menschen, doch die genaue Zahl der in Belgien lebenden Juden ist eigentlich nicht bekannt.

Sie haben gesagt, dass Belgien ein neutrales Land sei, in dem die Religion gefördert werde. Was bedeutet dies konkret?

Alle Gemeinden, auch die streng orthodoxen, besitzen durch eine Mitgliedschaft im Konsistorium nur Vorteile, da diese Organisation die offizielle Vertretung des belgischen Judentums darstellt. In Belgien sind alle Rabbiner, Repräsentanten einer Glaubensgemeinschaft sowie die Geistlichen in Armee, Krankenhaus und Gefängnis Staatsbeamte. Sie beziehen nämlich ein Monatsgehalt vom Staat. Folglich sind die Gemeinden, die dem Konsistorium nicht angehören, nicht anerkannt, ihre Rabbiner und Kantoren erhalten kein Gehalt vom Staat. Ausserdem muss man dazu auch wissen, dass jeder Schüler in allen Schulen, auch in konfessionellen Instituten, während seiner gesamten Schulzeit (von der Primarstufe bis zum Abschluss der Sekundarstufe) zu zwei Stunden wöchentlichem Religions- oder Ethikunterricht berechtigt ist. Diese Kurse werden vom Konsistorium organisiert, das eine Gruppe von Lehrern mit Staatsbesoldung betreut, welche den jüdischen Religionsunterricht in allen Schulen Belgiens erteilen. Diese Vorschrift wird peinlich genau eingehalten, und selbst wenn es in einer Klasse nur einen einzigen Schüler gibt, hat dieser ein Anrecht auf den Kurs. Dies erweist sich als sehr wertvoll in den kleinen Ortschaften, wo es keinerlei Form des jüdischen Lebens gibt. Der Lehrer, der die Kinder unterrichten kommt, wird bei der Gelegenheit zum geistlichen Führer und oft auch zum Freund der ganzen Familie. Diese zwei Stunden vermitteln den Kindern, die sicher keine jüdische Schule besuchen würden, ein Minimum an jüdischem Wissen, was oft schon ausreichend ist? für die Eltern. Die Lehrer, die diesen Unterricht erteilen, sind als Rabbiner, Repräsentanten der Glaubensgemeinschaft oder Ehefrauen von Rabbinern meist bereits dazu ausgebildet. Darüber hinaus veranstalten wir ein Mal im Jahr pädagogische Tage, an denen diese Lehrer teilnehmen müssen. In Brüssel gibt es drei jüdische Schulen, von denen zwei von der Kinderkrippe bis zur Matura reichen (die eine von ihnen ist fromm, die andere nicht religiös und laizistisch), während die dritte nur die Primarstufe abdeckt.

Wie sehen Ihre Beziehungen zu den Behörden und den anderen Kirchen aus?

Von Seiten der Behörden wird uns viel Aufmerksamkeit geschenkt und Unterstützung geboten, es gelingt uns, die Schwierigkeiten in echter Zusammenarbeit und zu unserer Zufriedenheit zu lösen. Wir stehen jedoch vor einem riesigen Problem in Bezug auf den Anstieg der muslimischen Bevölkerung. Diese Entwicklung erfolgt langsam, aber stetig. Die Muslime besitzen das Stimm- sowie das aktive und passive Wahlrecht und setzen sich in der Politik rasant durch. Sie sind heutzutage sowohl im Parlament als auch in den Regionen und Gemeinden vertreten. Ich weiss nicht, wie sich die Lage entwickeln wird, doch eines steht fest: die jüdische Gemeinschaft ist recht klein und die darin vertretene Jugend interessiert sich nicht für Lokalpolitik. Was die Beziehungen zu den anderen Kirchen betrifft, so sind sie mal besser, mal schlechter. Als beispielsweise das Problem mit den Karmeliterinnen in Auschwitz auftrat, erlebten wir eine kurze Krise, welche die Beziehungen zwischen Christen und Juden einige Zeit belastete. Als Mel Gibsons Film über die Passion Christi in die Kinos kam, baten wir darum, dass die katholische Hierarchie offen Position bezieht und erklärt, dass das jüdische Volk nicht aus Gottesmördern besteht. Insgesamt gelten aber die Beziehungen zur katholischen, protestantischen, anglikanischen und orthodoxen Kirche sowie zur Leitung der Muslime von Belgien als gut. Ich muss dazu festhalten, dass der Dialog, der auf der obersten Hierarchiestufe so positiv stattfindet, weil dort gewisse Anstrengungen unternommen werden, um das gegenseitige Verständnis zu fördern oder zumindest jedem die Gelegenheit zum Ausdruck seiner Position zu geben, in der Bevölkerung nicht zu spüren ist und die öffentliche Meinung nicht prägt. Es wäre jedoch wichtig, die grosse Masse zu sensibilisieren, um jede Gefahr des Antisemitismus im Voraus zu bannen.

Haben Sie Ihr jüngstes Buch, «Le Judaïsme - Vécu et Mémoire (Verlag Éditions Racine)» vor diesem Hintergrund herausgegeben?

Allerdings. Ich wollte eine Brücke bauen zwischen den verschiedenen religiösen und nicht religiösen Gemeinschaften, denn man muss unbedingt auch die weltliche Gemeinschaft ansprechen. Ich wollte, dass sie das Judentum nicht mehr nur durch die Brille der Vorurteile sehen, die seit Jahren, wenn nicht gar Jahrhunderten im Umlauf sind, sondern so, wie es wirklich gelebt wird. Ziel dieses Buches ist die Aussage, dass unsere Botschaft zwar alt ist, von Zeit und Raum aber nicht beeinflusst wird. Ich möchte auch zeigen, dass die von der Bibel vorgeschlagenen Lösungen uns immer noch ansprechen, originell sind und sich auch für die Menschen des 21. Jahrhunderts als sinnvoll erweisen. Ich habe anhand einiger Beispiele wie Ökologie, Alter usw. dargelegt, was das Judentum unserer Epoche und unserer Gesellschaft bringen kann, wenn wir in ihnen manchmal etwas die Orientierung verlieren. Was zählt, ist die Tatsache, dass die verschiedenen Positionen sich dank unserem Einsatz einander annähern.

Wir sehen Sie die Zukunft der jüdischen Gemeinschaft in Belgien?

Ich glaube, dass unsere Gemeinschaft ungeachtet aller Vorwürfe, die man ihr machen könnte, eine von denjenigen ist, die wirklich bei allen wichtigen Kämpfen des jüdischen Volkes der letzten Jahre an vorderster Front stand. Im Jahr 1970 fand der berühmte so genannte «Brüsseler» Kongress statt, an dem auch Golda Meir teilnahm und der den Ausgangspunkt der internationalen Bewegung für die Befreiung der Juden aus der UdSSR darstellte. Die gesamte Emigration der Juden Äthiopiens erfolgte dank einer Luftfahrtgesellschaft, die einem belgischen Juden gehörte und von diesem dem Staat Israel zur Verfügung gestellt wurde. Damals konnte Äthiopien seine jüdischen Staatsbürger aus politischen Gründen nicht direkt nach Israel ausreisen lassen. Es war notwendig, dass eine europäische Fluggesellschaft sie zunächst an eine Destination in Europa brachte. In Belgien wurde ein Durchgangslager geschaffen, in dem die Flüchtlinge erst einige Zeit verbrachten, bevor sie mit israelischen Flugzeugen weiterreisen konnten. Die Luftbrücke zwischen Äthiopien und Belgien existierte in dieser Weise während Jahren? bis ein israelischer Journalist alles an die grosse Glocke hängte und diese raffinierte Aktion damit beendete. Und schliesslich ging auch die ganze Polemik um den Karmeliterorden in Auschwitz von Brüssel aus. Bevor die Angelegenheit an die Öffentlichkeit kam, hatte eine kleine Gruppe von belgischen Juden, zu der auch ich gehörte, Kardinal Mascharski aus Krakau getroffen. Er empfing uns zu einer sechsstündigen Sitzung, in deren Verlauf wir ihm die Bedeutung von Auschwitz für die Juden erklärten. Zwei Überlebende, die sich unserer Gruppe angeschlossen hatten, berichteten ihm von ihren persönlichen Erfahrungen. Am Ende der Begegnung sagte er uns ganz einfach: «Leider ist es nun zu spät, denn die Presse hat sich die Geschichte schon unter den Nagel gerissen». Er sagte uns auch, er sei sich bis zu unserem Gespräch nicht bewusst gewesen, was Auschwitz für die Juden bedeute. Und zum Abschluss dieser kleinen Liste von Beispielen möchte ich an dieser Stelle daran erinnern, dass die Europäische Gemeinschaft vor rund zehn Jahren eine Richtlinie herausgegeben hatte, die zu einem strikten Verbot der rituellen jüdischen Schächtung in der gesamten EG führen sollte. Wir bildeten eine sehr starke Lobby und erreichten nach und nach einen einmaligen Sieg, da man letztendlich auf dieses Verbot verzichtete. Unsere Gemeinde nimmt demnach trotz ihrer geringen Mitgliederzahl sehr aktiv an der dynamischen Entwicklung des europäischen Judentums teil.
Was die Zukunft angeht, wird es meiner Ansicht nach keine typisch belgische Situation geben. Ich glaube, dass die Zukunft unserer Gemeinschaft ähnlich aussehen wird wie in anderen Zentren des jüdischen Lebens in Europa. Die Europäische Union und ihre Erweiterung verkörpern entweder eine Chance, oder aber etwas sehr Schlimmes: eine Chance, wenn es uns gelingt, die europäischen Kommissare für die Bedeutung des Wiederaufbaus der jüdischen Gemeinden in Osteuropa zu sensibilisieren. Sobald diese wieder solide Wurzeln geschlagen haben und eine entsprechende jüdische Erziehung anbieten, werden sie sich als sehr nützlich für Israel erweisen. Die Tragödie unserer Gemeinden besteht aus der Assimilierung, und in meinen Augen reicht die Erziehung allein nicht aus. Das Judentum muss wirklich gelebt werden, die Eltern müssen mitmachen. Mein Optimismus in Bezug auf die Zukunft entspringt eigentlich einer Lehre von Rabbi Yehudah Halevi, der sagte: «Seien wir wie der Sämann, der einen Samen setzt, der zunächst in der Erde verfault, um eines Tages auf wunderbare, herrliche Weise zu blühen und lebendig zu werden». Wir arbeiten auf dieses Ziel hin, und auch wenn wir keine sofortigen Ergebnisse sehen, dürfen wir deswegen nicht den Mut verlieren.
Ich möchte noch genauer auf Ihre Frage betreffend mein Gefühl zur Zukunft unserer Gemeinschaft eingehen, und dies gilt für sämtliche jüdischen Gemeinden auf dieser Welt. Meines Erachtens ist nicht der Antisemitismus unser grösster Feind, viel schlimmer ist die Ignoranz! Dazu möchte ich meinen verstorbenen Lehrer, Professor André Néher s.A., zitieren: «Die Tatsache, dass die Juden sich vom Judentum abwenden, fällt nicht wirklich ins Gewicht; viel schlimmer ist es, dass sie nicht wissen, wovon sie sich abwenden!». Ich kann nicht sagen, ob ich wirklich optimistisch bin, doch ich bin voller Hoffnung, genau wie die israelische Nationalhymne, die Hatikwah (Hoffnung)!