Pinchas Tibor Rosenbaum

Von Menachem Michelson *
Budapest, 18. Januar 1945. In der Nähe des «Glashauses» betritt ein russischer Soldat durch die aufgebrochene Tür einen Laden für Armeebestände, schaut um sich, sieht eine Trompete am Boden liegen und lässt diese mit aller Kraft in der verschneiten Strasse erschallen. Das ist seine Art, die Befreiung anzukündigen. An diesem Tag kann PINCHAS TIBOR ROSENBAUM endlich seine Kriegsverkleidung ablegen, die Uniform der «Nilasz», der ungarischen Faschisten und Mitglieder der Pfeilkreuze. Er verhehlt seine Freude nicht, als er sie ablegt, zusammenfaltet und im «Glashaus», aus dem die Bewohner allmählich ausziehen, auf einen Hocker legt. Dieser Uniform haftet etwas Deprimierendes und gleichzeitig etwas Beruhigendes an. Er berührt sie leicht mit den Fingerspitzen und denkt daran, dass unzählige Juden dieser Verkleidung, die er, der Sohn des Rabbiners von Kleinwardein (Kisvarda im Nordosten Ungarns), während Monaten getragen hat, immerhin ihr Leben verdanken.
Jehuda Aschkelon steht neben ihm, beobachtet ihn. Damals, im Arbeitslager, hatte der Jugendliche für Pinchas die Räuberleiter gemacht, so dass dieser fliehen konnte. Pinchas wirft einen Blick auf seinen Freund und sagt leise zu ihm: «Jehuda, ich habe meine Pflicht getan.» Daraufhin nimmt er sein mageres Bündel und geht, die Uniform der Nilasz hinter sich lassend. Er verlässt das Gebäude, geht über den Hof, schreitet durch das Tor und tritt auf die Strasse, ohne einen Blick zurück zu werfen. Er geht einer ungewissen Zukunft entgegen. Er ist noch keine 22 Jahre alt und trägt doch schon das Gewicht unerträglichen Leids für immer in sich.
Er geht auf der Strasse dahin. In seinem Kopf jagen sich die Gedanken; Namen, Daten, Orte, Landschaften haben sich vor kurzem in feurigen Lettern in die Geschichtsbücher eingegraben. Viele Gesichter tauchen vor seinem inneren Auge auf; es sind diejenigen zahlreicher Freunde, denen das Glück nicht zuteil wurde, diesen lange herbei gesehnten Tag zu erleben, und vor allem die Gesichter seiner Eltern und Geschwister, die im Grauen, im Rauch der Krematorien dahingegangen sind und ihm nicht einmal ein Grab hinterlassen haben, auf dem er sie beweinen könnte. Mit den Schreckensbildern vermischen sich auch die Erinnerungen an eine glückliche Kindheit, an die Zeit an der Jeschiwah, die Entdeckung der Bewegung «Bne Akiva», das Talmudstudium, das er bei seinem Vater in Kleinwardein absolviert hat, die bewegte Zeit in Budapest. Und später wurde alles auf den Kopf gestellt, Zwangsarbeit im Lager, waghalsige Flucht, dann seine gefährlichen Aktivitäten unter dem Deckmantel der Pfeilkreuz-Uniform, dieser Kampf gegen die Zeit, um dem Todesengel zuvorzukommen, die unmöglichen Aktionen, die von jüdischem Blut rot gefärbte Donau und die beiden Schüsse aus seiner Waffe in einer dunklen Nacht, nach denen die Leichen zweier echter Nilasz auf der Strasse liegen blieben. Er erinnert sich an alles. Und heute also die lang erhoffte Befreiung.
So lässt sich die unglaubliche Geschichte von Pinchas Rosenbaum in groben Zügen zusammenfassen, die Geschichte des Mannes, der monatelang sein Leben aufs Spiel setzte und dem es gelang, Hunderte von Juden zu retten, einzelne Menschen und ganze Familien, und dies im Ungarn der schwärzesten Tage während des Zweiten Weltkriegs.
Pinchas Rosenbaum, Nachkomme einer langen Reihe von Rabbinern, wird am 2. November 1923 (23. Cheschvan 5684) in Kleinwardein in Ungarn geboren. Seine Vorfahren waren die Schüler des ‘Chatam Sofer’ und direkte Nachkommen des Maharal von Prag. Zu ihnen gehörten herausragende Gelehrte, geistliche Führer und Gemeindeverantwortliche, Torah-Kommentatoren und Autoren von Werken der Halachah und der Aggada. Sein Grossvater, Verfasser des Le’hem Rav über den Sidur (Gebetsbuch), war der Rabbi von Kleinwardein. Nach seinem Tod folgte ihm Pinchas’ Vater, Rav Schmuel Schmelke Halevi, in diesem Amt nach. Als letzter Rabbiner von Kleinwardein vor der Schoah wurde Rav Schmuel Schmelke mit seinen Familienangehörigen und seiner Gemeinde nach Auschwitz deportiert. Pinchas konnte als Einziger dieser berühmten Familie gerettet werden.
Pinchas, selber ein bemerkenswerter Torah-Gelehrter, war mit 18 Jahren von bedeutenden ungarischen Rabbinern für das Rabbinat qualifiziert worden. Während seines Studiums an der Jeschiwah hatte er sich der Bewegung des «Bne Akiwa» angeschlossen und übernahm mit Begeisterung seine zionistischen Prinzipien von «Torah und Erfüllung». Innerhalb kurzer Zeit war er in die nationale Direktion des «Bne Akiwa» von Ungarn aufgestiegen.
Während der Besatzungszeit der Nazis engagierte sich Pinchas mit Leib und Seele für die jüdische Jugendorganisation, welche Rettungs- und Fluchtaktionen organisierte, um die Juden aus den Klauen der Nazis zu befreien. Zusammen mit seinen Genossen gelang es ihm auf diese Weise, Hunderte von Glaubensbrüdern, manchmal gar ganze Familien, zu retten, indem er ihnen Unterschlupf verschaffte und sie mit dem Nötigsten versorgte.
Pinchas setzte Tag und Nacht sein Leben aufs Spiel. Er nahm falsche Namen an und schaffte es dank seinem arischen Aussehen, die Nazibehörden in Ungarn und manchmal sogar seine jüdischen Mitmenschen zu täuschen. Mehr als einmal drang er, mit der gefürchteten Uniform der Nilasz versehen, bei einer Familie ein, von der er wusste, dass bei ihr demnächst eine Razzia stattfinden sollte, und verjagte sie schreiend und fluchend aus ihrer Wohnung; die Unglücklichen wurden mit Gewalt und unter Drohungen und Gebrüll in die schwarzen Autos der Pfeilkreuze gestossen. Dadurch sollte den nichtjüdischen Nachbarn weisgemacht werden, dass diese Juden von den Nazis mitgenommen würden. Er brachte sie dann in das «Glashaus», den berühmten Unterschlupf an der Vadatz-Utca (Strasse), wo Tausende von Juden dank falscher Zertifikate unterkamen. Pinchas hatte ebenfalls viel mit der Herstellung dieser Dokumente zu tun. Erst nachdem er die Leute sicher und unversehrt ins «Glashaus» gebracht hatte, gab sich Pinchas jeweils zu erkennen, entschuldigte sich bei seinen Glaubensbrüdern dafür, dass er sie terrorisiert und beleidigt hatte, und erklärte ihnen: «Es war der einzige Weg, euch zu retten.» Natürlich begriffen diese Männer, Frauen und Kinder, die dadurch einer echten Razzia entkommen waren, warum er so gehandelt hatte und bedankten sich überschwänglich, da sie sich bewusst waren, in welche Gefahr er sich selber begeben hatte. Wenn er geschnappt worden wäre, hätte man ihm zweifellos sofort eine Kugel in den Kopf gejagt.
Sein Vorgehen wurde immer wagemutiger und überstieg jede Vorstellungskraft.
Als er eines Abends vom Dachboden des «Glashauses» herunterkam, auf dem er hauste, sagte er zu seinem Freund Avigdor (genannt Viki) Friedman: «Viki, du musst mir heute Abend deinen Anzug leihen.» «Meinen Anzug?», fragte Viki erstaunt. «Ja», erläuterte Pinchas. «Heute ist ein Fest in der ungarischen Gendarmerie und ich muss dort eine gute Figur machen. Ich kann nicht in der Militäruniform aufkreuzen. Wenn ich nicht auffliege, kriegst du deinen Anzug natürlich zurück. Wenn ich erwischt werde, dann hast du den Anzug leider verloren…». Angesichts des Galgenhumors von Pinchas konnte Viki ein bitteres Lächeln nicht unterdrücken. Ohne weitere Fragen zu stellen, zog er seinen guten Anzug aus, den letzten, der ihm geblieben war, und gab ihn seinem Freund. «Viel Glück», murmelte Viki. «Mit G’ttes Hilfe», antwortete Pinchas, wie immer. Daraufhin schlüpfte er in den Anzug, prüfte sein Aussehen und ging aus dem «Glashaus» hinaus zu seinem geheim gehaltenen Ziel. Am nächsten Morgen war er wieder da, blass und erschöpft. Viki rannte zu ihm. «Gott sei Dank, da bist du wieder. Aber weshalb bist du so blass, was haben sie mit dir gemacht?» Pinchas liess sich schwer auf einen Stuhl fallen und erwiderte: «Hör zu, ich habe die ganze Nacht lang mit ihnen getrunken, ich hatte keine Wahl. Beim Saufen erwähnte einer von ihnen den Namen der jüdischen Familie, die sie heute im Morgengrauen heimsuchen wollten. Ich wartete ab, bis alle ziemlich betrunken waren, und schlich mich davon. Ich rannte zu der besagten Adresse und es gelang mir, die betroffene Familie zu warnen. Jetzt bin ich kaputt, ich brauche Schlaf, gute Nacht. Ach, fast hätte ich es vergessen: dein Anzug ist unversehrt, ich gebe ihn dir zurück, sobald ich aufwache.» Mit diesen Worten sank er in einen tiefen Schlaf.
Im November 1944 wurden der heimliche Widerstand und die Rettungsaktionen von einer grossen Gefahr bedroht. Zvi (Zeidi) Zeidenfeld war von der Gestapo verhaftet worden. Zeidi, dessen falscher Name Kovacs war, trug Zertifikate des Internationalen Roten Kreuzes bei sich; es handelte sich um Hunderte von Blankozertifikaten, die auf das Fälschen warteten. Die Nazis wollten ihn befragen, ihm die Namen anderer Widerstandskämpfer entlocken und die Herkunft dieser Dokumente herausfinden. Zeidi weigerte sich zu sprechen und wurde aufs Grausamste gefoltert. Doch die Gestapo wollte ihn am Leben behalten. Zeidi überlebte die erste Serie von Verhören, ohne sein Wissen preisgegeben zu haben. Vor dem Beginn der zweiten Phase gewährten ihm die Nazis einige Tage Erholung. Als seine Gefährten aus dem «Glashaus» von seiner Verhaftung erfuhren, befand er sich bereits im Krankenhaus, geschunden von den Qualen der Folter. Es war ein improvisiertes Spital an der Vessleny-Strasse 44. In diesem Gebäude hatte sich früher eine jüdische Grundschule befunden, die von den Behörden beschlagnahmt worden war. Im Laufe einer bis in die Morgenstunden währenden Versammlung im «Glashaus» wurde beschlossen, in das Krankenhaus einzudringen und Zeidi herauszuholen. Noch nie hatte die Gruppe eine derart riskante Aktion durchgeführt. Mehrere junge Leute, Angehörige verschiedener zionistischer Bewegungen, meldeten sich als Freiwillige. Nach reiflicher Überlegung fiel die Wahl auf Pinchas und ein junges Mitglied des «Haschomer Hatzair» namens Yossi. Sie traten um drei Uhr früh in die kalte und regnerische Nacht hinaus. Unter ihren SS-Uniformen und den langen Ledermänteln trugen sie geladene Maschinengewehre. Vor dem Krankenhaus stand ein Wächter, ein Jude auf dem Weg der Genesung, wie sich später herausstellte. «Wir sind von der Gestapo», sagten sie ihm, «du musst uns sofort den jüdischen Gefangenen bringen, Zimmer 243, zweiter Stock. Wir haben ein Hühnchen mit ihm zu rupfen.» «Ich darf niemanden hinauslassen. Ich bin nur der Wächter, ich muss dieses Gesuch meinen Vorgesetzten vorlegen», antwortete der verschreckte Wärter. Pinchas schaute ihm in die Augen und fragte in barschem Ton: «Bist du Jude?» «Ja», stammelte der andere, starr vor Angst, dass ihn die beiden Nazis gleich erschiessen würden. «Wir sind ebenfalls Juden», flüsterte Pinchas in einem Jiddisch, das keinen Zweifel über seine wahre Identität zuliess. «Wir sind gekommen, um einen der Unsrigen hier herauszuholen, sonst bringt ihn die Gestapo um. Du musst uns helfen.» «Aber wenn ich ihn euch übergebe, dann werden sie mich töten.» «Mach dir keine Sorgen», beruhigte ihn Pinchas, «wir nehmen dich auch mit und bringen dich an einen Ort, wo du in Sicherheit bist. Geh jetzt und hol den Patienten.» Der Wächter verschwand im Spital, Pinchas und Yossi blieben am Eingang zurück. Einige Minuten später sah man zwei SS-Leute einen halb ohnmächtigen Kranken hinter sich herschleifen, während ein anderer Mann mit einer kleinen Ledertasche in der Hand hinter ihnen hertrottete. Diejenigen, die sich um diese nachtschlafende Zeit noch auf der Strasse aufhielten, waren nicht erstaunt. Ähnliche Szenen fanden andauernd statt: SS-Männer drangen ins Krankenhaus ein und kamen mit einem Verletzten oder Kranken wieder heraus, den man nie wieder lebendig sah. Die kleine Gruppe entfernte sich schnell in Richtung des «Glashauses», wo sie um halb vier Uhr morgens eintraf. Das Tor öffnete sich und Zeidi wurde sofort in die Obhut des Ärzteteams gegeben. So wurden er und die Dokumente, die er besass, gerettet.
Wenn man alle von Pinchas Rosenbaum gewagten Unternehmungen aufzählen wollte, ergäbe sich daraus ein dickes Buch. Pinchas persönlich machte nie ein grosses Aufhebens darum. Manchmal begegnete ihm im Lauf seiner Reisen auf der ganzen Welt ein Mann oder eine Frau, die ihm das Leben verdankten, und wenn dieser Mensch von seinen Taten zu sprechen begann, von seinem Heldenmut und seiner Kühnheit, hörte Pinchas interessiert zu, als ob es sich um jemand anderes handelte…
Nach dem Krieg heiratete Pinchas Tibor Rosenbaum Stephanie Stern und liess sich in Genf nieder, wo er im Bankwesen arbeitete. Sie bekamen drei Kinder, zwei Söhne und eine Tochter – die heute alle in Israel leben. Neben seinen finanziellen Aktivitäten erwies er sich weiterhin als militanter und dynamischer Zionist, der sich nach Kräften für die Sache des israelischen Staates einsetzte; er führte sogar einige geheime Missionen für den Mossad und die israelische Sicherheitspolizei aus. Er starb am 23. Oktober 1980 (13. Cheschwan 5741) im Alter von nur 57 Jahren und wurde auf dem Har Hamenuchot begraben.
Die Erinnerung an ihn überlebt dank seinen mutigen Taten, vor allem aber dank den Hunderten, ja Tausenden von Söhnen und Töchtern, von Enkeln und Urenkeln derjenigen Juden, die er durch seine Kühnheit und seine Hartnäckigkeit gerettet hatte und die ohne ihn nie das Licht der Welt erblickt hätten.

* Menachem Michelson arbeitet als Journalist bei der israelischen Tageszeitung Yedioth Achronoth. Er schreibt gegenwärtig an einer ausführlichen Biografie über das Leben von Pinchas Tibor Rosenbaum s.A., die demnächst in hebräischer und englischer Sprache erscheinen wird.