Jerusalem – Budapest - Sarajevo

Judith Varnai Schorer. Foto: Bethsabée Süssmann
Von Roland S. Süssmann
Anlässlich unserer verschiedenen Reportagen in den Ländern Osteuropas konnten wir die Entwicklung der Beziehungen zwischen den Staaten des ehemaligen kommunistischen Blocks und Israel beobachten. Dieses Bild wollten wir nun vervollständigen und sind deswegen nach Ungarn gereist, wo wir von I.E. JUDITH VARNAI SCHORER, der israelischen, in Budapest residierenden Botschafterin und nichtansässigen Botschafterin in Sarajevo, sehr herzlich empfangen wurden.

Wir möchten Ihnen heute als erstes folgende Standardfrage stellen, die uns alle israelische Botschafter, mit denen wir gesprochen haben, beantwortet haben: Können Sie uns in wenigen Worten den gegenwärtigen Stand der Beziehungen zwischen den beiden Ländern beschreiben?

Ohne dabei einfach hohle Phrasen zu dreschen, kann ich mit Nachdruck behaupten, dass unser Verhältnis ausgezeichnet und sehr eng ist. Man darf dabei nicht vergessen, dass die Ungarn die diplomatischen Beziehungen zu Israel 1967 nach dem Sechstagekrieg abbrachen, so wie die meisten kommunistischen Staaten. Diese Beziehungen wurden nach dem Fall der Berliner Mauer, der Einführung der Perestroika und dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems wieder aufgenommen. Von 1967 bis 1989 bestand folglich keinerlei diplomatischer Austausch. Ein erstes Repräsentationsbüro wurde Ende 1988 eingerichtet, 1989 öffnete die Botschaft offiziell ihre Tore. Höchste Priorität besass damals die Forderung «Kaputtes wieder zu flicken». Es handelte sich hier um einen Staat, der sich von einem sehr tief verwurzelten kommunistischen System zu befreien versuchte und der gleichzeitig seine ersten Schritte in Richtung Freiheit wagte – hin zur Einführung eines liberalen und demokratischen Systems. Darüber hinaus bestand eine grosse jüdische Gemeinschaft, die vom kommunistischen Joch befreit worden war. Die Situation war folglich sehr komplex.
Heute, fünfzehn Jahre nach der Befreiung, präsentiert sich uns ein ganz anderes Ungarn als 1989. Budapest ist völlig verwestlicht worden, alle bedeutenden internationalen Unternehmen sind hier vertreten, die Stadt wurde teilweise renoviert und es wird alles unternommen, um die Lebensqualität zu verbessern und zu steigern. Parallel dazu haben sich die Beziehungen zu Israel konstant und positiv weiterentwickelt. Es haben zahlreiche offizielle Besuche auf beiden Seiten stattgefunden, wobei der letzte von Präsident Katsav im vergangenen Frühjahr durchgeführt wurde, als das neue Holocaust-Museum eröffnet wurde. Doch schon ab 1990 reisten hochrangige ungarische Persönlichkeiten nach Israel, wie z.B. Präsident Arpad Gonz und Premierminister Jozef Antall, während auf israelischer Seite Präsident Chaim Herzog nach Ungarn kam. Während der Alijah der sowjetischen Einwanderer in Israel hat uns Ungarn sehr unterstützt, indem es ein Transitzentrum in Budapest einrichtete. Ich möchte auch daran erinnern, dass 1992 Terroristen einen Bus angriffen, der sowjetische Juden an Bord hatte. Von ihnen wurde zwar niemand verletzt, doch zwei ungarische Polizisten wurden verwundet.
Einer der Gründe dafür, dass sich die Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern ständig verbessern, rührt von der Tatsache her, dass fast 250’000 Israelis ungarischer Abstammung sind. Die Bedeutung dieser Realität widerspiegelt sich vor allem in der Art und Weise, wie sich die wirtschaftlichen Beziehungen entwickelt haben. Im Verlauf der letzten zehn Jahre beliefen sich die israelischen Investitionen in Budapest auf zwei Milliarden Dollar, was deutlich höher ist als die Investitionen in die Nachbarländer wie die Ukraine, die Slowakei und Rumänien. Auch wenn die Handelsbeziehungen im Vordergrund stehen, so sind doch die Beziehungen in Politik und Kultur auch sehr intensiv.

In Ihrer Eigenschaft als israelische Botschafterin vertreten Sie nicht nur Israel bei der ungarischen Regierung, sondern auch bei der jüdischen Gemeinschaft. Mit welcher Einstellung gehen Sie an diesen Teil Ihrer Pflichten heran?

Meine Aufgabe im Rahmen der jüdischen Gemeinschaft ist zweifellos ebenso wichtig wie diejenige in Bezug auf die Beziehungen zwischen den beiden Staaten. Man geht im Allgemeinen davon aus, dass 120'000 Juden in Ungarn leben, was sie zur drittgrössten Gemeinde Europas macht. Die erste Schwierigkeit, welche diese Gemeinschaft nach dem Fall der Berliner Mauer bewältigen musste, war die Erlangung der Fähigkeit «den Kopf hoch zu tragen». Ich meine damit die Tatsache, furchtlos zur jüdischen Identität zu stehen, und zwar sowohl als Individuum wie auch als Gemeinde. Man muss sich vor Augen führen, dass ich hier von einem Schritt spreche, der weder leicht noch offensichtlich ist. Vergessen wir nicht, dass diese Gemeinschaft während der Schoah fast vollständig vernichtet wurde und nun aus Überlebenden besteht, die nach dem Krieg versucht haben, wieder ein einigermassen stabiles jüdisches Leben zu etablieren. Ab 1948 unterlag es nämlich der kommunistischen Diktatur, so dass die Juden in gewisser Weise ein jahrzehntelanges Trauma durchlebt haben. Merkwürdigerweise war der Antisemitismus während des Kommunismus offiziell verboten, obwohl er zu den Unterdrückungs- und Propagandainstrumenten gehörte. Es gab effektiv keine Meinungsfreiheit in den Medien, wo alle tendenziösen Ansichten frei veröffentlicht werden durften, wie dies heute noch der Fall ist. Es existiert heute also eine Gemeinschaft mit ca. 120'000 Seelen, von denen 80'000 authentische Juden gemäss den Vorschriften des jüdischen Rechts sind. Die übrigens entsprechen einem Gemisch, doch heute sind immer mehr Menschen bereit, offen zu ihrem Judentum zu stehen und dies ihrer Umgebung auch unmissverständlich mitzuteilen. Die Furcht vor der Identifizierung hat stark abgenommen. Man kann behaupten, dass sowohl das Judentum als auch der Antisemitismus fester Bestandteil der öffentlichen Debatte sind und dass die Juden keine Angst mehr haben, die Antisemiten zu bekämpfen. Natürlich gibt es auf der Ebene der Regierung oder des Parlaments keinen staatlichen Antisemitismus, und der offene Angriff auf Juden gilt auch nicht als «politisch korrekt». Dies heisst aber nicht, dass es keine Judenfeindlichkeit oder judenfeindliche Vorfälle gibt, selbst in den Schulen, doch dieses Phänomen hat bisher noch nicht dieselben Ausmasse angenommen wie in bestimmten anderen europäischen Ländern.

Weshalb?

Ganz einfach, weil die Ungarn den Antisemitismus im Blut haben und dieses Gefühl nicht von grossen muslimischen Minderheiten oder vom Bestreben beeinflusst wird, sich bei diesen Gemeinschaften anzubiedern. Die Ungarn hassen Minderheiten und jeden, der nicht weiss ist. Es gibt jedoch ein Problem mit den Juden, die sie nicht ganz so heftig hassen können wie die anderen, weil diese seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts nachhaltig zum Aufschwung Ungarns beigetragen haben, sowohl auf wirtschaftlicher wie auch auf kultureller Ebene: 85% der Ungarn, die den Nobelpreis erhalten haben, waren Juden. Es ergibt sich also die paradoxe Situation, dass die Ungarn die Juden von Kindsbeinen an hassen, gleichzeitig aber irgendwie nicht so genau wissen, wie sie mit ihnen umgehen sollen. Ein interessantes Beispiel veranschaulicht diesen Umstand besonders gut und betrifft den Nobelpreisträger für Literatur 2002, den jüdisch-ungarischen Schriftsteller Imre Kertesz. Die Ungarn wussten nicht, was sie mit dieser Angelegenheit anfangen sollten. Die Veröffentlichung seines Buches Auschwitz, für das er diese prestigeträchtige Auszeichnung erhalten hatte, war in Ungarn nämlich verboten worden. Die erste Ausgabe kam demnach in hebräischer Sprache in Israel heraus, wie übrigens auch alle seine anderen Bücher.
Wir befinden uns gegenwärtig im 60. Jahr nach der Deportation der ungarischen Juden. Fast jede Woche reise ich in eine andere Stadt oder in ein Dorf, um an einer Gedenkfeier teilzunehmen. Überall höre ich dieselbe Rede des Bürgermeisters: «Seitdem die Juden von hier weggebracht wurden – oder gegangen sind -, gibt es bei uns keinen Handel mehr.» Als erstes erinnere ich den braven Bürgermeister daran, dass die Juden nicht «weggebracht» wurden und nicht «gegangen» sind, sondern dass sie von der lokalen Bevölkerung und den Autoritäten in die Züge des Todes gesteckt wurden. Danach frage ich, wie es kommt, dass sie es sechzig Jahre später immer noch nicht geschafft haben, eine neue Existenz aufzubauen. Die Antwort fällt immer gleich aus: «Seit die Juden nicht mehr da sind, gibt es kein wirtschaftliches Leben mehr». Dann sage ich jeweils: «Bei Ihnen wurden die Juden vor Ihren eigenen Augen verfolgt und ermordet und Sie haben nichts für sie getan. Warum sollten sie zu Ihnen zurückkehren?». Sie sehen, die Gefühle, welche die Beziehungen zwischen der ungarischen Bevölkerung und der jüdischen Gemeinschaft prägen, sind sehr zwiespältig. Im Grossen und Ganzen geniessen die Juden einen recht angenehmen Lebensstandard in Ungarn. Bis heute bleiben ungefähr 18'000 bis 20'000 Überlebende der Schoah, die zum grössten Teil von der jüdischen Gemeinde finanziell unterstützt werden. Trotz allem glaube ich, dass die jüdische Gemeinschaft von Ungarn eine durchaus positive Phase durchmacht, vor allem wenn man bedenkt, welche Ausgangslage vorlag. Ich behaupte gar, es geht ihr besser als vielen Gemeinden in den osteuropäischen Ländern und zum Teil gar in Westeuropa.

Sie haben den Antisemitismus erwähnt und die Gefahr, dass die vollständige Meinungsfreiheit zu Exzessen führen kann. Gibt es Gesetze gegen den Rassismus und das Schüren von Hass?

Sie legen da den Finger auf einen wunden Punkt. Die aktuelle Regierung setzte sich für ein Gesetz ein, das jede Form von Aufruf zum Hass strikt untersagt. Der Gesetzesentwurf wurde vom Parlament gutgeheissen, doch jedes Gesetz muss vom Präsidenten ratifiziert werden, um wirklich in Kraft zu treten, oder sonst vom Verfassungsgericht genehmigt werden. Der amtierende Präsident, ein Jurist und Hochschulprofessor, hat beschlossen, diesen Gesetzesentwurf an das Verfassungsgericht weiterzuleiten. Letzteres hat das Projekt sechs Monate lang studiert und liess es im Mai 2004 mit dem Hinweis an den Justizminister zurückgehen, es sei verfassungswidrig. Es ist sonnenklar, dass es sich hierbei um einen rein politischen Beschluss handelt. Es wird also kein Gesetz geben. Ein neuer Text wird nun geprüft, doch letztendlich glaube ich, dass wir werden warten müssen, bis die Europäische Union ein einheitliches Gesetz zu diesem Thema verabschiedet, damit es auch in Ungarn gilt. Ich muss allerdings einräumen, dass die Regierung in einzelnen Fällen Position gegen öffentliche oder wichtige antisemitische Vorkommnisse bezieht und sie in der Folge verbietet. Als ich hier ankam, sangen gewisse Fussballfans an den Matchs: «Der Zug nach Auschwitz fährt wieder», das Ganze untermalt mit anderen judenfeindlichen Sprüchen! Ich setzte mich energisch gegen derartige Parolen ein, die schliesslich verboten wurden. Heute gibt es gar ein Gesetz, das bei solchem Verhalten schwere Strafen vorsieht.

Wie steht es in der ungarischen Presse um verbale Angriffe gegen Israel?

In diesem Zusammenhang glaube ich, dass die meisten in westeuropäischen Ländern residierenden israelischen Botschafter mich um meine Position beneiden. In Ungarn erleben wir keine sehr ausgeprägte Aggressivität uns gegenüber. Es existiert zwar eine rechtsextreme Presse, die mich regelmässig angreift. Ich reagiere aber nie darauf, und wenn ich dazu befragt werde, erwähne ich nie den Namen der Zeitung und bezeichne sie nur als «Phänomen». Sie hat nicht viele Leser, aber es gibt sie eben doch.

Ab sofort ist Ungarn Mitglied der EU, die im Allgemeinen eher eine pro-arabische und offen anti-israelische Politik vertritt. Denken Sie, dass Ungarn aus Kollegialität nun seine Einstellung gegenüber Israel ändern wird?

Ich glaube nicht. Es stimmt, im vergangenen Jahr haben sich alle neuen Mitgliedstaaten bereits nach der EU-Politik ausgerichtet, doch es gibt Bereiche, in denen sie ihre Unabhängigkeit behalten haben. In Bezug auf die UNO beispielsweise hat sich Ungarn nur dann der EU angepasst, wenn in der UNO homogen abgestimmt wurde. Trat aber eine Divergenz ein, schloss sich Ungarn Deutschland, den Niederlanden, Grossbritannien und den NATO-Staaten an.

Welchen Umfang erreicht das Handelsvolumen zwischen beiden Ländern?

Die Zahlen beliefen sich im letzten Jahr auf 150 Mio. Dollar. Ungarn kauft alles, was Israel exportieren kann, und Israel findet hier eine Reihe von Materialien für die Schwerindustrie, einige chemische Produkte und seit einiger Zeit auch Nutzvieh. Wir haben hier effektiv gesunde Viehbestände vorgefunden, während in den Ländern, die uns zuvor mit Fleisch belieferten, Fälle von Rinderwahnsinn aufgetreten waren.

Wie sehen Sie die Entwicklung der Beziehungen zwischen den zwei Staaten?

Ungarn ist ein kleines, sehr stabiles und in Zentraleuropa ideal platziertes Land. Der Dialog kann als sehr positiv bezeichnet werden und ich bin überzeugt, dass Ungarn aufgrund seines unabhängigen Charakters wie schon Polen und die Tschechische Republik in der EU eine Rolle als Vermittler zu unseren Gunsten wird spielen können. Ausserdem ist hervorzuheben, dass Länder wie Polen, die Tschechische Republik und Ungarn eng mit den Vereinigten Staaten verbunden sind. Es gibt zahlreiche Gründe dafür, wobei der eine besonders wichtig ist: es ist die Erinnerung an das, was während des jüngsten Balkankrieges geschehen ist. Die Europäer haben nämlich tatenlos zugesehen, wie sich diese Völker gegenseitig abschlachteten, insbesondere in Bosnien; der Krieg konnte erst dank dem direkten Einsatz der USA beendet, die Massaker eingestellt werden. So etwas vergisst man nicht.

Neben Ihrem Auftrag in Ungarn, sind Sie auch in Bosnien-Herzegowina akkreditiert. Wie sehen die Beziehungen dieses Landes zu Israel aus, wie geht es der jüdischen Gemeinde in diesem Land, das sich eben erst wieder aus der Asche erhebt?

Die Beziehungen sind ganz anders als im Falle von Ungarn. Im vergangenen Dezember begab sich der bosnische Aussenminister nach Israel. Es gab keine politischen Streitpunkte mit Bosnien. Man muss allerdings wissen, dass die einzigen Investitionen in diesem Land von arabischen Staaten stammen und nur dazu dienen, immer mehr Moscheen zu erbauen. Jede dieser Kultstätten kostet ca. 30 Millionen Dollar. Dieses Geld wäre bestimmt sinnvoller investiert, wenn es in die Entwicklung des Landes oder ins Bildungswesen flösse, doch dies ist nicht der Fall. Man kann sich fragen, ob diese muslimischen Ausbildungsinstitutionen mittel- oder langfristig eine Gefahr für die jüdische Gemeinschaft darstellen. Ich glaube, dass dieses Risiko in Bosnien quasi inexistent ist, solange sich internationale Streitkräfte dort aufhalten. Die Bosnier würden die Handelsbeziehungen zu Israel gern ausbauen und wie Ungarn in den Genuss israelischer Investitionen kommen, doch es gibt zurzeit keine Infrastruktur, die für potenzielle Investoren attraktiv wäre.
Heute leben 1000 Juden in Bosnien, davon 700 in Sarajevo, 300 weitere hauptsächlich in Mostar, Doboj und Banja Luka. Während der Kämpfe waren die Frauen und Kinder nach Israel evakuiert worden. Die Juden geniessen ein hohes Ansehen in der muslimischen Bevölkerung, denn sie haben ihnen während des Kriegs sehr geholfen. Eine der Verantwortlichen der Gemeinde sagte: «Die bosnischen Muslims sehen in uns die Wallenbergs von Sarajewo». Während der Kampfhandlungen haben die Juden sie in der Tat medizinisch und durch seltene Medikamente unterstützt. Heute spielen die Juden eine Vermittlerrolle bei der Suche nach Lösungen für zahlreiche Probleme. Die Gemeinschaft ist sehr gut organisiert. So gibt es z.B. keine jüdischen Arbeitslosen, obwohl die Arbeitslosenquote offiziell bei 40%-50% liegt (in Wirklichkeit bei 25% wegen des Schwarzmarktes für Arbeitnehmer). Vor kurzem sprachen rund zwanzig Jugendliche beim Gemeindeverantwortlichen vor und sagten, sie würden Arbeit suchen; die Gemeinde hat für jeden einzelnen von ihnen eine Stelle gefunden.
Ich kann bestätigen, dass in Sarajewo eine kleine sephardische Gemeinschaft lebt, die zahlreiche traumatische Erfahrungen überlebt hat und heute sowohl auf national als auch in der Familie der weltweiten jüdischen Gemeinden ihren Platz gefunden hat.