Gideon Sa’ar

Gideon Sa'ar. Foto: Bethsabée Süssmann
Von Roland S. Süssmann
Im Rahmen unserer Serie über junge Leader in Israel stellten wir in der letzten Ausgabe Yuval Steinitz vor, den Präsidenten der Verteidigungskommission in der Knesset. Heute haben wir GIDEON SA’AR interviewt, einen Abgeordneten der Knesset und den Präsidenten der Parlamentariergruppe des Likud. Sa’ar hat gegenwärtig den wichtigen und undankbaren Posten eines Koordinators der Koalition inne, was viel Geduld und diplomatisches Geschick verlangt.
Gideon Sa’ar ist 37 Jahre alt, verheiratet und Vater von zwei Kindern. Von Beruf Anwalt, besitzt er ein Diplom in Politischen Wissenschaften und Recht. Nach Abschluss seines Studiums arbeitete Sa’ar von 1995-1997 im Büro des Generalstaatsanwalts, später von 1997 bis 1998 als Assistent im Büro des Oberstaatsanwalts. Ende 1998 bot ihm Premierminister Benjamin Netanyahu an, Sekretär in seinem Büro zu werden, doch sechs Monate später war Sa’ar arbeitslos, da Ehud Barak an die Macht gelangt war. Zusammen mit einem Freund gründet er dann eine auf alle in Israel geltenden Rechtsformen spezialisierte Anwaltskanzlei in Tel Aviv. Nach der ersten Wahl von Ariel Sharon 2001 wurde Sa’ar in das Amt eines Regierungssekretärs gewählt, gab aber diese Position im November 2002 auf, um bei den Parlamentswahlen kandidieren zu können. Nachdem er als 18. auf der Likud-Liste gewählt worden war, übertrug ihm der Premierminister zwei verschiedene Aufgaben: diejenige als Präsident der Parlamentariergruppe des Likud in der Knesset, die gegenwärtig 40 Mandate umfasst, und diejenige als oberster Koordinator der Koalition. Es wird einem also klar, dass Sa’ar in der israelischen Politik eine wichtige Rolle spielt: er entscheidet, ob die Koalition einstimmig abstimmen soll oder ob die Parteien ihre Entscheidungsfreiheit behalten und die Abgeordneten frei abstimmen können. Sa’ar ist Mitglied der sieben bedeutendsten Kommissionen der Knesset.

Wir leben in einer Zeit, in der die Disziplin der Koalition mit knapper Not gewahrt wird und diejenige der Parteien praktisch inexistent ist. Man erhält den Eindruck, dass jeder Parlamentarier in erster Linie an seine eigenen Interessen und an seine politische Zukunft denkt. Was haben Sie unternommen, um in einem Bereich ein Mindestmass an Ordnung herrschen zu lassen, wo sich eine gewisse Anarchie durchzusetzen scheint?

Schon nur die Tatsache, Regierungspartei zu sein und vom Souverän einen Auftrag bekommen zu haben, stellt einen sehr ernst zu nehmenden Umstand dar, an den man mit Umsicht, Seriosität und Verantwortungsgefühl herantreten muss. Ich bin der Ansicht, dass alles getan werden muss, um die politische Stabilität zu wahren. Daher habe ich dem Premierminister, als er mir diese Stelle anbot, gesagt, ich könne sie nur annehmen, wenn eine Reihe von Bedingungen erfüllt wäre. Erstens müssten die Schlüsselpositionen an der Spitze der verschiedenen Knessetkommissionen in den Händen des Likud liegen und nicht Mitgliedern anderer Parteien übertragen werden. In der Vergangenheit hatten wir beispielsweise die Leitung der Finanzkommission einer anderen Partei anvertraut, was uns zahlreiche Probleme einbrachte und zu einem grossen Energieverlust führte, ganz zu schweigen von den konkreten finanziellen Einbussen für den Staat. Ich habe ebenfalls verlangt, dass wir eine stabile Koalition etablieren, aus der individuelle Initiativen so zu sagen verbannt wären. In früheren Legislaturperioden mussten wir fast jeden Montag mit Misstrauensanträgen fertig werden, welche die Regierung gefährdeten. Wir haben ein Gesetz verabschiedet, gemäss dem alle privaten Vorstösse mit einer Gebühr von 1 Million Dollar belegt werden und jede Lesung (zur Verabschiedung eines Gesetzes sind drei Lesungen nötig) mindestens fünfzig Ja-Stimmen erhalten muss. Dadurch konnten diese Vorfälle drastisch reduziert werden… Dank diesen zwei Elementen war es uns möglich, effektiv zu regieren und die wirtschaftlichen Reformen einzuführen, die nun allmählich Früchte tragen.

Gemäss Ihren Erklärungen befand sich der Likudblock in allen Bereichen in einer unangefochtenen Machtposition. Heute hingegen steht ihm nur eine Minderheitenkoalition zur Seite und er muss verhandeln, um sich wieder eine gewisse Glaubwürdigkeit zu verschaffen. Wie ist es soweit gekommen?

Es stimmt, dass wir über die beste, stabilste, einigste und stärkste Koalition verfügten, die das Land seit zehn Jahren gesehen hatte. Als der Premierminister mir seinen Plan anvertraute, sich einseitig aus dem Gazastreifen zurückzuziehen, riet ich ihm, zur Wahrung unserer Stabilität und unserer Machtposition lieber einen Plan vorzulegen, dem das gesamte nationale Lager zustimmen könne. Leider haben sich die Dinge anders entwickelt und so kam es, dass wir zwar noch an der Macht sind, aber tatsächlich etwas Einfluss verloren haben.

Wenden wir uns dem Rückzugsplan zu. Befürworten Sie die Idee, dass Juden von anderen Juden aus ihren Häusern vertrieben werden und dass bestimmte Zonen Israels «judenrein» gemacht werden?

Ich möchte zunächst betonen, dass ich gegen diesen Plan war. Ich glaube jedoch, dass ein derartiges Vorgehen dann legitim ist, wenn es den Interessen des Staates dienlich ist. Es stellt sich nun die Frage – und hier liegt des Pudels Kern -, ob dieser Plan wirklich dem nationalen Interesse dient oder nicht. Gegenwärtig ist es fast unmöglich, diesen Punkt zu beurteilen. Wir befinden uns in einer Situation, die nicht sehr klar ist. Wenn wir uns den letzten Etappen zuwenden, können sie auf folgende vier Elemente reduziert werden: Versprechen Israels gegenüber der amerikanischen Regierung, Entscheid der Regierung, eindeutig befürwortende öffentliche Meinung und deutliche Ablehnung im Rahmen der Konsultation innerhalb des Likud. Meiner Ansicht nach wird letztendlich die Meinung der Öffentlichkeit entscheiden. Wir haben gesehen, was im Libanon passiert ist. Zu Beginn waren alle gegen einen einseitigen Rückzug, doch mit der Zeit veränderte sich die öffentliche Meinung, so dass Ehud Barak aus diesem Thema ein Zugpferd seiner Wahlkampagne machte, was ihm den Wahlsieg ermöglichte. Dasselbe gilt irgendwie auch für die Gazafrage. Bevor sich der Premierminister für diesen Plan entschied, waren alle gegen einen einseitigen Rückzug. Dank seinem Prestige und seinem gewichtigen Engagement zugunsten der jüdischen Besiedlung der Regionen Judäa, Samaria und Gaza setzt sich Ariel Sharon heute nach Kräften dafür ein, den Rückzug tatsächlich durchzuführen; die Bevölkerung vertraut ihm und unterstützt ihn bedingungslos. Es ist überdies interessant festzustellen, dass die einzigen schmerzlichen Zugeständnisse, welche die Öffentlichkeit je akzeptiert hat, immer von einem Premierminister der politischen Rechten vorgeschlagen wurden. Wenn ich mir aber das gesamte Paket ansehe, das als ersten Schritt die Aufhebung der jüdischen Dörfer im Gazastreifen und einiger Siedlungen in Judäa-Samaria plant, als zweiten Schritt dann das Einfrieren des Wohnungsbaus in diesen Regionen und schliesslich die Verwirklichung der «Roadmap» mit dem Ziel, in Israel einen palästinensischen Staat zu schaffen, kann ich das einfach nicht akzeptieren. Dies bedeutet nicht, dass ich strikt gegen jede Form der Räumung von jüdischen Siedlungen in Judäa-Samaria-Gaza bin. Ich muss mich aber ins Unvermeidliche fügen und zugeben, dass der Plan des einseitigen Rückzugs aus Gaza letztendlich wegen der Unterstützung durch die Öffentlichkeit durchgeführt wird und weil er der internationalen Gemeinschaft vorgestellt wurde, die ihn akzeptiert hat und sich für ihn einsetzt. Vielleicht kommen wir aber doch in drei Jahren zum Schluss, dass der Rückzug ein gravierender Fehler war, wie dies schon bei den Osloer Abkommen eintrat. Die Gegner des Plans müssen sich sehr anstrengen, um den Standpunkt der öffentlichen Meinung zu ändern, doch wenn es ihnen gelingt, erscheint die gesamte Problematik in einem anderen Licht.

Sie sagen, Sie seien nicht grundsätzlich gegen eine Räumung jüdischer Dörfer; denken Sie aber im Ernst, dass eine derartige Massnahme unumgänglich ist?

Ich bin nicht davon überzeugt, dass jede der 21 jüdischen Siedlungen in Gaza sicherheitstechnisch eine Notwendigkeit darstellt. Ausserdem galt es immer als ausgemacht, und zwar bei sämtlichen aufeinander folgenden israelischen Regierungen, dass die jüdischen Dörfer in Gaza als «Tauschwährung» erschaffen wurden. In meinen Augen haben wir in den letzten Jahren sehr ungeschickt verhandelt, denn wir haben die Frage der jüdischen Städte und Dörfer in den Gebieten immer auf das Ende der Gespräche verschoben. Mit diesem Hintergedanken haben wir auch immer unbebautes Gelände abgetreten, auf denen keine Juden lebten.

Einer der wesentlichen Punkte, von denen die Zukunft des jüdischen Staates abhängt, betrifft das Thema der Immigration. Wie sollte man Ihrer Ansicht nach sinnvoll vorgehen, um die Alijah zu verstärken?

Anlässlich der ersten Wahl von Ariel Sharon gehörte ich dem «Ausschuss der ersten hundert Tage» an, der eine Prioritätenliste für die ersten drei Monate der Amtszeit unseres Premierministers erstellen sollte. Eine unserer Aufgaben bestand darin, einen Vorschlag im Hinblick auf die Förderung der Alijah zu machen. Damals hatten wir schon von Frankreich, Argentinien, Südafrika und einer Reihe anderer Risikoländer gesprochen. Ich empfahl zu jenem Zeitpunkt, und ich bin immer noch dieser Meinung, dass unbedingt eine mittel- und eine langfristige Strategie entwickelt werden muss, um die Alijah in intelligenter Weise zu fördern. Der Plan beinhaltete zwei Elemente. Das erste betraf die Anziehungskraft Israels und den Gedanken, Israel könne ein umfassendes Aufnahme- und Integrationsprogramm anbieten, das an die Bedürfnisse und die Ausbildung der Neueinwanderer angepasst sei. Das zweite Element bestand aus der Arbeit der Emissäre. Heute senden wir Hunderte von Emissären in die ganze Welt hinaus, wo sie an den abgelegensten Orten Juden aufsuchen. Wir sollten jedoch unsere Bemühungen auf diejenigen Länder beschränken, wo unsere Erfolgsaussichten am höchsten sind, auf grosse Gruppen von Einwanderungswilligen zu stossen. In meinen Augen verkörpert die Alijah eine unserer Prioritäten, die sich weder durch eine natürliche Entwicklung noch durch ein Wunder verwirklichen wird.

Wie sehen Sie die Entwicklung des arabisch-israelischen Konflikts?

Ich glaube nicht, dass es uns gelingen wird, dieses grundlegende Problem in nächster Zukunft zu bewältigen. Wir müssen uns folglich vor allem überlegen, wie wir den Konflikt managen wollen, und ihn nicht aus der Welt zu schaffen versuchen. Wenn wir intelligent und vernünftig vorgehen, ist es durchaus möglich, dass wir eine längere Phase der relativen Ruhe erleben können. Ich meine damit, dass wir zunächst den Sicherheitszaun fertig stellen müssen, denn dieser verschafft uns nicht nur zusätzliche Sicherheit, wie dies die bereits existierenden Abschnitte beweisen, sondern schützt uns auch in demografischer Hinsicht. Dazu muss man wissen, dass sich vor dem Bau des Zauns 100'000 aus Judäa-Samaria stammende Araber illegal auf der westlichen Seite der Grünen Linie niedergelassen haben. Es ist natürlich sehr wichtig, dass diese Linie nicht entlang der Grenze von vor dem Sechstagekrieg gezogen wird. Andererseits müssen wir auf internationaler Ebene eine extrem vorsichtige Politik anwenden und genau festlegen, wann wir flexibel sein dürfen und wann wir unnachgiebig sein müssen.

Glauben Sie – immer noch im Rahmen dieses Konflikts -, dass die Schaffung eines palästinensischen Staates eine realistische Option darstellt?

Die Debatte zu diesem Thema wurde durch und durch künstlich erzeugt. Sowohl rechts wie auch links werden nämlich eine Reihe von Parametern nicht mehr angezweifelt. Niemand erachtet es mehr als notwendig, die Armee endgültig wieder in Jenin, Tulkarem, Bethlehem, Ramallah, Schechhem (Nablus), Jericho oder in Gaza zu stationieren, was aber nicht ausschliesst, dass die Armee dort aus Sicherheitsgründen eingreift, wenn es die Situation erfordert. Parallel dazu sind sich die beiden politischen Lager in Israel darüber einig, dass kein palästinensisches Staatsgebilde, in welcher Form auch immer, die Kontrolle über Wasser, Luft, Strom, Grenzen usw. erhält. Da die an die palästinensische Autonomiebehörde abgetretenen Gebiete heute nicht mehr unter israelischem Befehl stehen, bleibt nur noch zu entscheiden, welche Identität diese Behörde nun eigentlich erhalten soll. Ich bin gegen die formelle Schaffung eines palästinensischen Staates, denn jedes sicherheitstechnische oder militärische Eingreifen unsererseits würde als eine Aggression zwischen zwei Staaten aufgefasst werden, so dass unsere Handlungsfreiheit zu unserem Schutz eingeschränkt wäre. Ausserdem wird es, solange Arafat an der Macht ist, unmöglich sein, in Bezug auf die Beziehungen zwischen Israelis und den von ihrer Behörde verwalteten arabischen Bevölkerungsgruppen ein neues Kapitel aufzuschlagen. Wir haben ja gesehen, was mit Abu Mazen geschehen ist, dessen Auftritt sehr kurz währte und an den sich fast niemand mehr erinnert.

Abschliessend würde ich gern wissen, welche Position Sie in Bezug auf eine Frage einnehmen, die in Israel Thema einer nationalen Debatte ist, nämlich das Problem der jüdischen Identität im Verhältnis zur israelischen Identität. Wie denken Sie darüber?

Sie schneiden da eine grundlegende Frage an. Dazu kann ich Ihnen sagen, dass ich einen Ausschuss leite, der mit der endgültigen Einführung der Verfassung des Staates Israel betraut ist, da eine solche fast sechzig Jahre nach der Staatsgründung immer noch fehlt. Ich denke, dass unser Projekt bis zum Ende der gegenwärtigen Legislaturperiode der Knesset abgeschlossen sein sollte, falls es nicht zu vorzeitigen Wahlen kommt. Die von Ihnen aufgeworfene Frage steht natürlich im Zentrum unserer Arbeit. Gegenwärtig diskutieren wir über zahlreiche Elemente mit dem Ziel, den jüdischen Charakter des Staates zu bewahren und gewisse unverrückbare Axiome stehen bereits fest: Hebräisch als Nationalsprache, das Recht auf Rückkehr, die Nationalhymne und die Flagge. Die Verankerung dieser Elemente in der Verfassung wird allen Denkschulen den Nährboden entziehen, die Israel seiner jüdischen Identität berauben wollen. Ich meinerseits bin der Ansicht, dass diese Tätigkeit von allen meinen Aufgaben die wichtigste ist. Wir wissen nicht, was die Zukunft bringen wird und wie die zukünftigen Generationen aussehen werden. Daher ist es von grundlegender Bedeutung, dass die jüdische Identität und der jüdische Charakter des Staates für immer und unveränderlich in unsere Verfassung aufgenommen werden.