Musikalische Traditionen im Islam
Von Rachel Hasson*
Israel ist ein Land, in dem sich westliche und östliche Kulturen vermischen, und stellt daher einen faszinierenden Treffpunkt zwischen der Musik des Abendlandes und den musikalischen Traditionen und Instrumenten dar, welche die Juden des Orients aus ihren verschiedenen Herkunftsländern mitgebracht haben. Diese Synthese findet ihren Ausdruck in der Musik und im Gesang Israels. Der israelische Staat ist nämlich der einzige Ort auf der Welt, in dem noch alle sieben musikalischen Traditionen des Islams weiter bestehen. Aus diesem Grund präsentiert das Museum for Islamic Art in Jerusalem die Ausstellung «The Mood of the Ud».

Die Vielfalt der in dieser Ausstellung gezeigten Musikinstrumente widerspiegelt die musikalische Kunst in den Regionen, die vom Islam beeinflusst werden, von den Ländern des Nahen Ostens über den Maghreb, die Türkei, Iran, Zentralasien und den Regionen der Beduinen bis zum indischen Subkontinent. Die Ausstellung umfasst folglich die musikalische Kunst der arabisch sprechenden Völker sowie auch diejenige der Gruppen und Stämme, die den Islam und seine Kultur angenommen haben. Obwohl die musikalische Kultur der islamischen Welt sich über Tausende von Kilometern erstreckt, ist die klassische arabische Musik in allen Ländern einem ähnlichen Stil treu geblieben und man findet vergleichbare Register, Stilrichtungen, gesungene Ausschmückungen, Rhythmen und Instrumente. So kommt einem marokkanischen Reisenden in Turkmenistan die einheimische Musik vertraut vor, auch wenn gewisse kleinere Unterschiede bestehen. In der volkstümlichen Musik trifft man hingegen grössere Abweichungen an, doch auch in diesem Bereich herrscht eine grundlegende Ähnlichkeit vor. In allen islamischen Ländern werden die Gäste einer Hochzeitsfeier mit dem Klang einer Zurna (Hirtenoboe) oder mit Tamburinen, Naqqara, begrüsst, und in allen von Nomaden bewohnten Regionen werden die Sänger von einem einsaitigen Instrument begleitet, dem Rabab. Diese Instrumente zeugen von einer sehr alten und raffinierten musikalischen Tradition, die schon in den ersten Jahrhunderten des Islams Sternstunden erlebte und sich seither in den islamischen Ländern von Generation zu Generation immer weiter entwickelte.
Die islamische Musik wird in erster Linie über das Ohr weitergegeben und nur selten mit Hilfe von Noten aufgeschrieben, sie zeichnet sich vor allem durch Improvisation und Verzierungen (Koloraturen) aus. In der islamischen Welt sind die gleich bleibenden, vorbestimmten musikalischen Sequenzen der westlichen Musik unbekannt: hier muss der Musiker vielmehr von alten Melodien (Maqam) ausgehend, je nach Anlass improvisieren und sich dabei auf das Publikum und die gerade herrschende Stimmung ausrichten. Die orientalische Musik möchte das Leben abbilden und ausdrücken: sie wechselt ständig, wie das Leben selbst. Folglich gibt es keine «ideale» Version eines Liedes, sondern eine Vielzahl von möglichen Interpretationen. Diese Ausdrucksfreiheit wird nicht nur vom Solisten in Anspruch genommen, sondern auch von den Formationen, die ihrem Gutdünken und ihrem Talent entsprechend gleichzeitig improvisieren und verzieren. Die so entstehenden Töne, die im Ohr des westlichen Menschen so fremd klingen, sind für den arabischen Zuhörer vollkommen normal und angenehm. Das gleichzeitige Spielen verschiedener Varianten derselben Melodie ist eine Technik, die unter dem Namen «Heterophonie» bekannt ist. Die arabische Musik erfüllt auch eine soziale Funktion: das Vorspiel erfolgt im Allgemeinen nicht auf einer Bühne, sondern im Publikum selbst, das übrigens mitmachen soll.
Die arabische Musiktradition hat sich im Laufe der islamischen Eroberungen in der Welt verbreitet. Letztere setzten im 7. Jh. ein und betrafen zunächst die arabische Halbinsel, später dehnten sie sich auf riesige Gebiete in Asien, Afrika und Europa aus. Die Begegnung zwischen dem Islam und den lokalen Kulturen führte zur Assimilation und zu einer gegenseitigen kulturellen Befruchtung, die sich auch in der Welt der Musik im Allgemeinen niederschlug. Traditionelle Musikelemente, die in diesen Kulturen im Schwange waren, wurden in die arabische Musik integriert und kristallisierten sich in einem neuen Stil heraus, der «die Grosse Musiktradition» genannt wurde. Diese multinationale Tradition breitete sich rasch über die gesamte islamische Welt aus. Die muslimischen Herrscher - die wichtigsten Musikkonsumenten - zeigten sich geneigt, die früheren kulturellen Elemente der eroberten Länder zu übernehmen und sie in einem einzigartigen Stil verschmelzen zu lassen, der in der ganzen dominierten Region akzeptiert wurde. Sie trugen auf diese Weise in weitem Ausmass zur Entwicklung der Grossen Tradition bei.
Der Charakter dieser musikalischen Tradition und ihre Entwicklungsweise unterlagen dem Einfluss von vier Faktoren, die da sind: das Arabische, die Sprache des Korans, die als gemeinsamer Nenner in allen islamischen Völkern verwendet wurde und eng mit ihrer Musik verbunden war; das allmähliche Zusammenwachsen von zahlreichen Völkern und Rassen aufgrund der politischen und wirtschaftlichen Bedingungen; die geografische Einheit der islamischen Regionen; die ähnliche, manchmal gar identische Struktur der diversen Musikinstrumente. Ab dem 9. Jh. begannen jedoch die gemeinsamen Traditionen und der einheitliche Stil angesichts des Aufkommens regionaler, unabhängiger Stilrichtungen zurückzuweichen, die jede von typischen Merkmalen und besonderen Instrumenten geprägt waren.
Die Ausstellung zeigt sieben bedeutende musikalische Traditionen, die sich einen unabhängigen regionalen Charakter erworben haben: es sind die Traditionen des Nahen Ostens, der Türkei, Persiens, Zentralasiens, Andalusiens (maghrebinische Tradition), Nordindiens, Pakistans (herrlich dargestellt in der Kunst der mongolischen Miniatur) und schliesslich der Beduinen. Sie alle erreichten ihre Blüte auch in unserer Region.

Die musikalischen Traditionen der islamischen Welt

Die musikalische Tradition der Araber hatte sich in weiten Teilen des Nahen Ostens sowie in der Türkei, in Iran und Zentralasien durchgesetzt, und trotz winziger Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern bleiben die wesentlichen musikalischen Elemente identisch. Die arabische Musik, entstanden durch die Verschmelzung verschiedenster Einflüsse, geht in ihren Ursprüngen auf die vorislamischen Lieder der arabischen Halbinsel zurück. Später wurde sie durch die klassische griechische Theorie, durch Theorien aus Südindien und spanische Traditionen, (nach den Invasionen durch die Araber) und durch die westlichen neobyzantinischen Überlieferungen geprägt. Ihre wichtigste Quelle der Inspiration war jedoch die persische Tradition, die so stark war, dass man heute fast keinen Unterschied mehr zwischen beiden wahrnimmt. Trotz ihrer vielschichtigen Ursprünge und Einflüsse besitzt die arabische Musik spezifische Eigenschaften. Obwohl sie zunächst ausschliesslich für die Königshäuser und den Adel bestimmt war, verbreitete sie sich mit der Zeit in allen Gesellschaftsschichten. In den meisten Fällen wird die arabische Musik durch einen Sänger und mehrere Musiker gespielt und ist somit in erster Linie Vokalmusik. Die Instrumente sind sekundär und dienen vor allem dazu, den Gesang zu begleiten. Das arabische Wort für Musik lautet nämlich Ghina (Lied). Auch wenn sie über Regeln und Konventionen verfügt, so hebt sich diese Musik hauptsächlich durch die Freiheit des Ausdrucks und die Improvisation hervor. Der begabte Künstler passt durch seine Improvisation die Musik den Umständen an und fügt dabei Verzierungen, wie z.B. Triller, hinzu. Deshalb wohnt dieser einstimmigen Musik, die auf einer einfachen und schlichten Melodie mit regelmässigen und repetitiven Intervallen beruht, ein variantenreicher Klangreichtum inne und fordert der menschlichen Stimme alle ihre Fähigkeiten ab.
Die Vielzahl der Instrumente, die in den islamischen Ländern eingesetzt werden, widerspiegelt zugleich die Einheitlichkeit und die Unterschiedlichkeit ihres Stils. Manchmal wurde die Struktur des Instruments durch die jeweils zur Verfügung stehenden Materialien bestimmt, manchmal ist es seine spezifische Funktion, die regionale Unterschiede bewirkt. Es gibt in den verschiedenen Ländern auch diverse Bezeichnungen für ein und dasselbe Instrument. So wird der Rabab auch Rubab oder Rababa genannt, der Tambur oder Tanbur ist auch unter der Bezeichnung Tambura und Tampura bekannt. Das gemeinsame Element der grössten und diversifiziertesten Instrumentengruppe ist der Tar («Saite» auf Persisch): es existiert nämlich der indische Ektar mit einer Saite, der usbekische Dutar mit zwei Saiten, der persische Sehtar mit vier Saiten und der indische Sitar (mit einer unterschiedlichen Anzahl Saiten). Ein weiteres Beispiel für die regionalen Varianten desselben Instruments: die Oboe mit zwei Rohrblättern, genannt Zurna in der Türkei, Sorna in Iran und Sahnai im Norden Indiens. Trotz den unterschiedlichen Sprachen und den Tausenden von Kilometern, welche die islamischen Länder voneinander trennen, sind erstaunliche Ähnlichkeiten bei den Namen der Musikinstrumente zu beobachten.

Der Koran und die Musik

In der islamischen Welt bezeichnete man mit dem griechischen Begriff Musiki die wissenschaftliche Musiktheorie, während man das arabische Wort Ghina (Gesang) brauchte, um die Kunst der eigentlichen Interpretation zu benennen. Doch beide Begriffe beziehen sich auf die weltliche Kunst der Musik, die sich in den städtischen Zentren des Islams entwickelte. Als Gegenbewegung zu dieser weltlichen Kunst kam eine religiöse Musik auf, die man Sama (es bedeutet zugleich «der Musik lauschen» und «musikalische Klänge ») nannte; es handelt sich dabei um die mystische Musik der Derwisch-Orden.
Die Musik an sich wird im Koran nicht erwähnt. Keiner der beiden Begriffe Musiki oder Ghina, kommen darin vor. Einige sehen in dieser Unterlassung eine Anspielung auf die Einstellung des Korans gegenüber der Musik. Andere versuchen in der Exegese des Textes mögliche Interpretationen zu finden, die von einem Verbot oder einer Genehmigung sprechen. In der Hadith, den gesamten Überlieferungen des Propheten, die als ungeschriebenes Gesetz dienen, findet man hingegen ausdrückliche Hinweise, die in gewissen Abschnitten entweder die Musik gut heissen oder sie verdammen. Ähnliche Widersprüche erscheinen in den Schriften des religiösen Gesetzes. Es scheint demnach, dass weder der Koran noch die Hadith die Musik an sich als etwas Schlechtes ansehen; die Stellung der Musik wird eher im Zusammenhang mit den Umständen, dem Zeitpunkt und dem Kontext bestimmt. In bestimmten Situationen ist Musik verboten, in anderen ist sie gestattet, und dazwischen gibt es ein riesiges Niemandsland ohne genaue Vorschriften. Orthodoxe Muslims verboten künstlerische, weltliche Musikdarbietungen formell, liessen aber zu, dass religiöse Musik gespielt wurde, in der die Worte an oberster Stelle stehen und die Melodie den Text einfach untermalt.

Die Musik in der islamischen Kunst

Die Musik besitzt in der dekorativen und darstellenden Kunst des Islams eine zentrale Bedeutung. Seit den Anfängen der Zeit der Omaijaden (7. und 8. Jh.) und bis zum Ende des 19. Jhs. haben muslimische Künstler eine unendliche Palette von Gegenständen geschaffen, die mit musikalischen Szenen, Musikern und Instrumenten geschmückt sind. Die darstellende Kunst war in der gesamten islamischen Welt verbreitet. Sie diente dazu, Objekte aller Art mit verschiedenen Materialien und Techniken zu verzieren und zu verschönern: Münzen, silbernes Geschirr, Kästchen aus Elfenbein, Gegenstände aus Keramik, Metall, Glas oder mit Emailüberzug, Reliefs, Mosaiken und Wandmalereien. Stiche und Miniaturen in Alben und Manuskripten bleiben jedoch das bevorzugte Medium dieser Kunst. Im 18. und 19. Jh., während der Epoche der Kadscharen in Iran, kommen auch Ölgemälde hinzu. Die orientalistischen Maler im Europa des 19. Jhs. beschreiben ihrerseits in ihrer Begeisterung für die Magie des Orients Szenen der musikalischen Unterhaltung in den Palästen und Serails. Die heraufbeschworenen musikalischen Szenen beinhalten detaillierte und realitätsnahe Darstellungen von Hoftänzerinnen, Musikern und Solistinnen, von tanzenden Derwischen in religiösen Zeremonien und von Militärorchestern, welche die in den Krieg marschierende Armee begleiten. Auf allen diesen Kunstgegenständen werden die unterschiedlichsten Streichinstrumente, Trompeten, Oboen, Flöten und Tamburinen aller Art beschrieben. Diese Vielfalt zeugt zweifellos von einem überschäumenden musikalischen Leben, das mit seinen Klängen die Herrscher aller islamischen Dynastien und Länder in ihren Bann riss. Nach den Worten des Dichters al-Isfahani in seinem bedeutenden Werk Kitab al-Aghani (Das Buch der Lieder) genossen Komponisten und Musiker die Schirmherrschaft der arabischen Fürsten und Herrscher.
Europa hat der islamischen Musik viel zu verdanken, sowohl im Bereich der musikalischen Stilrichtungen, als auch in demjenigen der Instrumente. Mehrere arabische Musikinstrumente gelangten im Mittelalter über das byzantinische Reich, das muslimische Spanien und die Kreuzzüge nach Europa und dienten den europäischen Instrumenten quasi als Prototypen.

* Rachel Hasson ist Chefkuratorin des «L.A. Mayer Museum for Islamic Art» in Jerusalem.