Stalins Kreis
Von Roland S. Süssmann
Die Geschichte eines Landes oder eines Volkes wird immer verständlicher, greifbarer und wirklichkeitsnäher, wenn sie durch einen konkreten Erfahrungsbericht veranschaulicht wird. In Estland wurde das vor der Schoah bestehende jüdische Leben in drei aufeinanderfolgenden Phasen zerstört: Deportation von 500 Juden nach Sibirien, Flucht von ca. 3'000 Juden in das Innere Russlands und schliesslich die Ermordung von ungefähr tausend estnischen Juden, die nicht geflohen waren, durch die Deutschen und ihre einheimischen Komplizen. In Tallinn sind wir LEO GINOVKER begegnet, der 1940 zusammen mit seiner Familie von den Sowjets deportiert wurde.

Es ist immer schwierig, ein Leben in wenigen Worten zusammenzufassen, doch das, was Ihre Familie durchgemacht hat, widerspiegelt das Schicksal, das zahlreiche Juden durch die Sowjets erlitten haben. Können Sie uns kurz die konkreten Ereignisse berichten?

Ich wurde 1914 in Tallinn geboren, in eine Familie von jüdischen Industriellen. Meine Eltern besassen eine Schokoladefabrik und hatten vier Söhne. Als 1940 die Sowjets einmarschierten, wurde die gesamte Industrie verstaatlicht, auch unser Unternehmen machte da keine Ausnahme. Als Industrielle galten wir als Volksfeinde, und so wurden mein Vater, meine Brüder und ich nach Kirow in das Innere Russlands deportiert, das damals eine geschlossene Stadt war. Mein grosser Bruder wurde in ein Arbeitslager im Wald des Uralgebirges gesteckt, wo er fünf Jahre lang als Holzfäller arbeitete. Ich selbst kam zum Arbeiten in eine Kolchosebrigade. Während des ganzen Kriegs waren die Lebensbedingungen sehr hart, vor allem was die Nahrung angeht, aber wir haben alle überlebt. 1945 wurden wir befreit und natürlich reiste ich sofort nach Tallinn zurück, obwohl ich mich vertraglich dazu verpflichtet hatte, nicht in die Stadt zurückzukehren, aus der ich ins Exil geschickt worden war. Nach sechs Monaten beschloss das NKVD (Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten), dass unsere Befreiung keine gute Idee gewesen sei und dass wir nach Kirow zurückzukommen hätten, was ich unter keinen Umständen wollte. Dazu muss man wissen, dass eine Rückkehr eine lange Reise von Gefängnis zu Gefängnis bis zum endgültigen Ziel bedeutet hätte, das nichts anderes als ein weiteres riesiges Gefängnis war. In Tallinn besass ich weder eine Aufenthaltsbewilligung noch Arbeit, ich lebte eigentlich praktisch in der Illegalität. Mein grosser Bruder, der fünf Jahre lang als Holzfäller gearbeitet hatte, war ebenfalls auf freien Fuss gesetzt worden. Er durfte die Region nicht vor einem Jahr verlassen, konnte sich letztendlich aber in Taschkent niederlassen, wo er sich seinen Lebensunterhalt verdiente. Es gelang ihm, mir ein wenig Geld zukommen zu lassen und ich reiste zusammen mit meiner Frau zu ihm nach Usbekistan. Zu Beginn lebten wir ausschliesslich durch seine Unterstützung, da ich keine Arbeit fand. Ich besass eine Ausbildung als Buchhalter, und obwohl ich irgendeine Beschäftigung angenommen hätte, wollte mich niemand anstellen. Eines Tages sah ich eine Anzeige in der Zeitung, in der ein Wirtschaftsexperte für ein Team von Geologen gesucht wurde. Sie wollten sich zwei Jahre lang in der Wüste von Karakum niederlassen, dem trockensten Teil der aral-kaspischen Tiefebene in Turkmenistan. Ich war wohl der einzige Kandidat, denn als ich mich im Personalbüro vorstellte, fragte mich der Personalchef mit misstrauischer Miene: "... und warum will sich ein junger Este in einer Wüste am Ende der Welt vergraben?" Ich wusste nicht recht, was ich antworten sollte und sagte: "Meine Frau hat Asthma und ihre Ärzte haben ihr zu einem Klimawechsel geraten. Dieser Posten stellt, denke ich, eine günstige Gelegenheit dar." Ich weiss nicht, ob er mir glaubte, aber ich wurde eingestellt. Wir haben also zwei Jahre in dieser Wüste verbracht, was an sich eine interessante Erfahrung war, obwohl es kaum Wasser und Nahrung gab. Nach dieser Zeit wurde der Expeditionschef ersetzt, da er mit einem schweren Alkoholproblem kämpfte. Sein Nachfolger, ein ehemaliges Mitglied der NKVD, erfasste meine Situation sofort und rief mich in sein Büro. Er beschlagnahmte meinen Pass und teilte mir mit, ich würde bis an mein Lebensende in dieser Wüste bleiben. Als ich ihm erklärte, ich sei der Sprache nicht mächtig und würde daher keine Arbeit finden, erlaubte er mir, nach Nukus zu ziehen, in die Hauptstadt der Republik Karakalpakien in der Nähe des Aralsees, wo ich eine Stelle als Buchhalter fand. Da aber meine Brüder ein zweites Mal nach Kirow deportiert worden waren, bat ich darum, zu ihnen ziehen zu dürfen, um weniger isoliert zu leben als in Nukus. Der Kreis, den die NKVD für uns vorgezeichnet hatte, schloss sich damit. Kirow war immer noch eine geschlossene Stadt und wir haben elf Jahre dort verbracht. Ich arbeitete in einem Dorf neben der Stadt, und der dortige Kommissar, der viel von mir halten musste, verlieh mir die Medaille für den "besten Arbeiter". Dank dieser Ehre wurde ich als erster der Region befreit. Ich kehrte mit meiner Frau nach Tallinn zurück und habe die Stadt seither nicht mehr verlassen.

Sie haben von Ihrem Vater und Ihren Brüdern gesprochen. Was ist mit Ihrer Mutter geschehen?

1941 sollte sie auch nach Kirow deportiert werden. Da die Frau meines ältesten Bruders hochschwanger war, gestatteten ihr die Behörden, bei der Schwiegertochter zu bleiben. Das Kind kam zur Welt und meine Schwägerin konnte uns mit dem Baby nach Kirow nachreisen. Meine Mutter hingegen sass in Tallinn in der Falle und wurde ermordet, keiner weiss wo, wann oder durch wen. Mein Vater hingegen, der sehr unter der Trennung von seiner Frau, der Verstaatlichung seines Unternehmens, der Deportation und den Schwierigkeiten eines Lebens im Exil litt, starb im Alter von 75 Jahren in Kirow an einer Krankheit. Heute ist unsere Familie natürlich stark geschrumpft: einer meiner Brüder ist in Israel gestorben, ein anderer in Kirow, wo er hatte bleiben wollen, mein grosser Bruder ist nun 95 und lebt in St. Petersburg, ich selbst bin hier. Ich hatte Gelegenheit, meinen Bruder in Israel zu besuchen und plante auch dort zu bleiben, doch ich gehörte nicht dorthin, es war alles so anders als der Lebensstil, an den ich gewöhnt war, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass ich wohl keine Arbeit gefunden hätte. Ich beschloss also nach Tallinn zurückzukehren.
Letztendlich muss ich zugeben, dass wir in gewissem Sinne Stalin zu Dankbarkeit verpflichtet sind, da er uns durch die Deportation das Überleben ermöglichte.