Neues Leben - Neue Hoffnung
Von Roland S. Süssmann
Rosch Haschanah, der Beginn des jüdischen Jahres, verkörpert immer einen Augenblick des Innehaltens, des Nachdenkens, der Sorge und auch, warum nicht, des Glücks. Es ist für jeden von uns die Gelegenheit, auf das vergangene Jahr zurückzublicken, sich bewusst zu machen, wie viele schöne Momente wir erleben durften und festzustellen, dass die unangenehmen oder schwierigen Zeitabschnitte letztendlich viel schlimmer hätten sein können. Der Anbruch einer neuen Phase bedeutet aber auch, dass wir uns eine Reihe von Fragen stellen. Wir können auf zweierlei Arten mit diesen Fragen umgehen: wir ertränken unsere Befürchtungen in gastronomischem Überfluss und alkoholischen Exzessen, oder wir gebieten unseren Gedanken kurz Einhalt und prüfen eingehend den Sinn unserer Existenz, unsere Art zu Leben und zu Handeln. Es ist die zweite Variante, den Jahreswechsel zu "feiern", welche die jüdische Tradition uns nahelegt.
Um zu wissen, in welchem Sinne wir während des diesjährigen Rosch Haschanah 5763 an diese tiefgreifenden Überlegungen herangehen können, sind wir dem Rabbiner YOSCHUA MAGNES begegnet, dem Direktor der berühmten Yeschiwah Merkaz Ha-Rav von Jerusalem, die 1924 von Rabbi Awraham Itzchak Kook (1865-1935), dem Vater der nationalreligiösen Bewegung und dem ersten aschkenasischen Grossrabbiner von Eretz Israel, gegründet wurde.

Ist es in diesen schwierigen Zeiten wirklich sinnvoll, tiefschürfende Überlegungen anzustellen? Soll man Rosch Haschanah nicht lieber mit Trinken und Lachen feiern?

Vergnügungen sind in diesem Moment wirklich nicht angebracht, und die Zeit ist mehr denn je reif für ernsthafte Gedanken. Wir müssen zwischen den beiden Aspekten unterscheiden, die der Bedeutung des Jahreswechsels im Judentum innewohnen: die individuelle Dimension und die nationale Dimension, und ich werde mich bei der Beantwortung der Frage hauptsächlich auf das Individuum beziehen, denn letztendlich sind beide Aspekte eng miteinander verbunden. Das vergangene Jahr war für alle Juden ganz besonders hart, insbesondere in Israel. In diesem Land gab es viel Trauer und Bitterkeit, doch Verzweiflung ist dabei nie aufgekommen. In dieser Hinsicht muss ich betonen, dass ich einen grossen Unterschied zwischen der Diaspora und Israel gespürt habe. Während der schrecklichen Serie von Terroranschlägen im März 2002 befand ich mich für eine Reihe von Kursen in den Vereinigten Staaten. Überall traf ich dieselbe Frage an: "Bedeutet dies das Ende des jüdischen Traums?". Die Schlagzeilen in der Presse lauteten sogar: "Kann der jüdische Staat überleben?". In Israel stellten wir uns keine derartigen Fragen. Wir haben sehr viel schlimmere Zeiten durchgemacht und ich erinnere mich daran, wie kurz vor dem Sechstagekrieg die Umwandlung eines des grössten Parks Israels, des "Gan Ha-Leumi", in einen Friedhof geplant wurde, der Zehntausende von Toten aufnehmen sollte. Während des Kippurkrieges wären die syrischen Panzer um ein Haar im Gallil eingefahren, und es gibt noch viel mehr Beispiele für harte Zeiten. Aus diesem Grund blieben wir von der Verzweiflung verschont. Ein weiterer Gesichtspunkt ist es jedoch wert, dass wir ihn näher betrachten. Im Allgemeinen haben Kinder und Jugendliche kein natürliches Verhältnis zu Friedhöfen. Diese Welt ist zu weit von ihrem Alltag entfernt und ist etwas seltsam, nie suchen sie einen Friedhof auf und sie wissen nicht, wie sie sich dort verhalten sollen. Leider wissen unsere Teenager in Israel seit zwei Jahren nur zu genau, was ein Friedhof ist und wie man sich dort aufführt. Die Ereignisse haben sie für den Rest ihres Lebens geprägt, sie sind sehr schnell erwachsen und reifer geworden. Jeder von uns hat einen Sohn, einen Bruder, einen Cousin, einen Freund, einen Bekannten oder einen Schüler verloren. Daher bin ich überzeugt, dass an Rosch Haschanah 5763 das Gebet: "Am Tag von Rosch Haschanah werden sie eingeschrieben, am Tage von Kippur besiegelt... wer leben soll und wer sterben. Du bezeichnest denjenigen, der durch das Feuer, durch das Wasser, durch das Schwert umkommen wird..." für viele von uns und ganz besonders für unsere Jugend eine spezielle und neue Bedeutung besitzen wird. Dies wird einer der vorherrschenden Gedanken bei den feierlichen Anlässen dieses Jahres sein. Ich glaube, dass dieser Umstand der ganzen Frage um den eigentlichen Sinn des Lebens eine neue Dimension verleihen wird.

Denken Sie, dass dieses in Israel vorherrschende Gefühl der Traurigkeit ohne Verzweiflung von den Juden der Diaspora geteilt werden kann, und meinen Sie, dass sie dieses Gebet mit derselben Einstellung sprechen werden wie ihre Glaubensbrüder in Israel?

Die Juden in der Diaspora stehen vor zwei riesigen, verwirrenden Problemen. Zunächst ist da die Schwierigkeit, aus der Distanz die tatsächliche Situation in Israel zu beurteilen. Daraus entsteht ein Gefühl der Ohnmacht, das allmählich von ihnen Besitz ergreift. Alle fühlen sich Israel, Jerusalem und den Ereignissen, die sich hier abspielen, nahe, und alle stellen sich die Frage: was passiert denn nun wirklich und wohin führt diese Situation? Dazu kommt das Gefühl der Ungewissheit, wenn nicht gar der Unsicherheit, weil der Antisemitismus sein hässliches Haupt wieder erhoben hat und auch in dieser Beziehung niemand weiss, was aus dieser neuen Gegebenheit noch entstehen wird. Die Juden, insbesondere in Europa, haben den Eindruck, dass ihnen der Boden langsam unter den Füssen weggezogen wird. Die Juden der Diaspora befinden sich im Grunde auf intellektueller und gefühlsmässiger Ebene in einer viel erschreckenderen Situation als ihre in Israel lebenden Brüder. Zunächst, weil wir hier genau wissen, dass unsere Armee immer eingreifen kann, falls die Lage zu sehr ausser Kontrolle gerät. Die nicht in Israel lebenden Juden müssen mit zwei Befürchtungen gleichzeitig fertig werden, wobei ihnen die Hände gebunden sind: sie fürchten den rasanten Anstieg des Antisemitismus in ihrem jeweiligen Land und sie sind besorgt angesichts der Situation in Israel, ihrer "Lebensversicherung".
Ich bin daher der Meinung, dass im gesamten Konzept von Rosch Haschanah, wie es uns in den Gebeten dargelegt wird, die Vorbereitung auf diese feierlichen Augenblicke und die innere Einkehr Elemente der Ermutigung darstellen, die uns das Weiterleben und das weitere Handeln ermöglichen, wobei wir ständig auf Grund einer tieferen Gedankenarbeit nach Höherem streben. Dafür gibt es kein Wunderrezept, doch einmal im Jahr haben wir die Gelegenheit in uns zu gehen, zu unseren Wurzeln und zu unserer echten jüdischen Identität zurückzukehren, und zwar sowohl auf individueller als auch auf nationaler Ebene.

Demnach erlebt das gesamte jüdische Volk gegenwärtig die beiden von Ihnen beschriebenen Aspekte der Besorgnis. Was bringen uns unter diesen Umständen die Feste und Gebete von Rosch Haschanah im Allgemeinen und dieses Jahr im Besonderen?

Einer der Hauptgedanken von Rosch Haschanah und von Jom Kippur besteht aus der These, dass ein Mensch jedes Mal eine Portion Leben für ein weiteres Jahr erhält, und so stellt jedes neue Jahr, das vor uns liegt, auch ein neues Leben dar. Wir nehmen es nicht wahr, da der Übergang von einem Jahr zum anderen vollkommen spurlos an uns vorübergeht und da letztendlich die Jahre aufeinander folgen und sich oft sehr ähnlich sehen. In diesen schwierigen Zeiten fühlt aber jeder von uns in sich eine Reihe von Befürchtungen und Fragen aufsteigen, die dazu führen, dass man die Zukunft anders und in ihrer ganzen Komplexität wahrnimmt. Jeder wird dazu gezwungen, sich in Frage zu stellen. Einige werden mit gestärktem Glauben aus dieser Phase hervorgehen, andere werden sich hingegen vom Glauben abwenden. Es ist das erste Mal seit der Schoah, dass wir direkt mit sehr grausamen Tatsachen konfrontiert werden, die das Vorstellungsvermögen übersteigen. Wir wissen beispielsweise nicht mehr, was wir davon halten sollen, wenn ein Mann vor den Augen der Eltern ein kleines fünfjähriges Mädchen in seinem Bett ermordet, oder wenn ein anderer einem Jugendlichen die Kehle durchschneidet, der gerade im Studiersaal einer Yeschiwah die Torah studiert, usw. Ich denke, wir werden uns alle in diesem Jahr auf nie dagewesene Weise fragen, was es wirklich bedeutet, ein Jude zu sein und unserem Volk anzugehören, und wie wir unsere Beziehung zu Israel sehen. Meines Erachtens liegt die grundlegende Antwort zu Ihrer Frage im Konzept der "Keduscha", der Heiligkeit. Ich weiss, dass dieser Begriff auf den ersten Blick sehr pathetisch und auch abstrakt klingt, aber ich glaube, dass jeder von uns durch sein Verhalten direkten Zugang zu diesem Zustand besitzt. Wir leben leider in einer Zeit, in der Feinfühligkeit und Würde sehr selten geworden sind. Alles wird auf banalste, vulgäre Weise erlebt und dargestellt, das Niveau wird heutzutage immer mehr nach unten ausgerichtet. Einer der wesentlichen Aspekte in Bezug auf das Verhalten, das jeder von uns an den Tag legen sollte, beruht aber auf dem Gedanken, dass alles in dieser Welt auf dem höchstmöglichen Niveau stattfinden muss. Ich habe vom Streben nach Höherem gesprochen; dazu muss man wissen, dass es im Judentum nie in Frage käme, sich aus der Welt zurückzuziehen und als Eremit oder Asket zu leben, denn bei uns muss das Dasein voll ausgelebt werden. Wir leben auch in einer Epoche, in der jeder dank Individualismus und Liberalismus das tun kann, was ihm gefällt, und diese Auffassung der Permissivität gilt auch in den Schulen. Das Judentum lehnt diese letztendlich rein materialistische Einstellung strikte ab. Es verbietet aber nicht die Freuden des Lebens: "Ausser dem Körper habt ihr auch eine Seele". Und die feierlichen Traditionen von Rosch Haschanah-Yom Kippur sagen uns: seht in eures Innere und findet heraus, was ihr wirklich wollt, welches eure Bedürfnisse sind und was ihr sein wollt. Die Torah lässt der individuellen Entfaltung viel Spielraum, unter der Bedingung, dass sie mit Moral einher geht und vor allem mit dem eindeutigen Bewusstsein um die Verantwortung, die jeder von uns trägt. Weil wir nämlich die Verantwortung tragen für das, was wir sind, und wir Grosses vollbringen können, sind wir in der Lage, schwierige Momente wie die gegenwärtigen durchzustehen, sei es auf individueller, sei es auf nationaler Ebene.
Ich denke, dass ein Mensch, der sich seiner Verantwortung nicht bewusst ist, sehr viel Mühe haben wird, im Einklang mit seiner jüdischen Identität zu leben. Er wird in anderen Kulturen nach Erfüllung streben und nach anderen Werten suchen, bevor er zu seinen Wurzeln, d.h. zum Judentum zurückkehrt. Letztendlich ist es die einzig mögliche Art zu leben, in der jeder die Übereinstimmung und das perfekte Gleichgewicht zwischen den Gefühlen und den Gedanken finden kann. Deshalb ist Rosch Haschanah 5763 meines Erachtens Träger einer besonderen Botschaft, die uns an unsere Wurzeln und an das Fundament unserer jüdischen Persönlichkeit verweist.

Der Gedanke von der Bedeutung der individuellen Verantwortung und von der Rückkehr zu unseren eigentlichen Wurzeln stellt eine unveränderliche Botschaft des Judentums dar. Sie gilt nicht nur für Rosch Haschanah und gewiss nicht nur für Rosch Haschanah 5763. Nun bleibt also die Frage offen, welches denn die besondere Botschaft dieser neuen Reihe von Feiern ist, die uns bevorstehen?

Das vergangene Jahr war ein Jahr der aufeinanderfolgenden Schocks und der Erschütterung für alle, die sich Israel und dem Schicksal des jüdischen Volkes verbunden fühlen. In gewisser Weise ist es, als ob man uns einen Spiegel vorhielte und uns sagte: Schaut genau hin und seht, was ihr seid, Juden - verhaltet euch auch wie Juden! Die gegenwärtige Situation sowohl in Israel als auch in der Diaspora weist eine Gemeinsamkeit auf: die Ereignisse wollen uns etwas sagen und rufen uns zur Ordnung. Wenn wir die Botschaft verstehen und uns entscheiden, zu unserer Identität zu stehen und unsere Verantwortung zu übernehmen, sind alle Hoffnungen erlaubt. In diesem Jahr ist es besonders wichtig, dass wir diesen Schritt der Erkenntnis unternehmen und uns sagen: ja, ich möchte mein Leben verändern, indem ich es verbessere. Die Zeit um Neujahr beinhaltet zwei wesentliche Elemente, das Urteil und die Vergebung. Das eine geht nicht ohne das andere, denn wenn über uns nur geurteilt würde, hätten wir keine Hoffnung mehr, und wenn wir von Anfang an wüssten, dass uns vergeben wird, wäre allen Exzessen Tür und Tor geöffnet.
Wir erhalten an jedem Rosch Haschanah, wie ich bereits sagte, eine neue Portion Leben, die für ein Jahr gültig ist. Uns wird also ein neues Leben angeboten, alles liegt nun in unserer Hand, sofern wir unsere Verantwortung ernst nehmen. In unseren Gebeten sagen wir: "G'tt ist voller Langmut, Gnade und Wahrheit; dein Erbarmen reicht bis in die tausendste Generation; du erträgst unsere Sünden, unsere Überschreitungen und du vergibst uns." Dies ist natürlich die reine Wahrheit, doch G'tt hilft uns nur, wenn wir es wirklich wollen und auch bereit sind, uns entsprechend um den Erfolg zu bemühen.
Dieses Rosch Haschanah fällt in eine ganz besondere Zeitspanne unserer Geschichte. Jeder Mensch, den die Ereignisse in Israel nicht gleichgültig lassen, und sei es nur für eine kurze Zeit, drückt nämlich diesen Wunsch, diese notwendige Solidarität zwischen der jüdischen Nation und sämtlichen jüdischen Menschen in aller Welt aus. Objektiv gesehen handelt es sich um ein völlig unerklärliches Phänomen, doch dieses grundlegende Gefühl ist tatsächlich vorhanden. Wir befinden uns im Zentrum eines Prozesses, in dem die Identifizierung und die Solidarität der Juden weltweit mit Israel immer stärker wird. Heute wird jede Überlegung, jede Handlung der Juden überall auf dem Planeten von ihrer Beziehung zu Israel und seinen Bewohnern bestimmt. Ihre einzige Möglichkeit, ihre Verbundenheit zu vertiefen, besteht darin, Israel zu besuchen, und sei es nur für ein paar Tage. Ihre Gefühle betreffend die Frage, was es wirklich bedeutet, Teil des jüdischen Volkes zu sein, würden dadurch gefestigt. Anders gesagt: die schwierigen Zeiten, die wir durchmachen, vereinfachen in gewissem Sinne den inneren Einblick jedes Juden in Bezug auf seine eigentliche Identität.
Die Hoffnung ist nie eine Sache der Vernunft, doch wir Juden haben das Glück, unseren Glauben zu haben sowie, ich wiederhole, unseren angeborenen Sinn für die individuelle Verantwortung, der uns erlaubt, mit allen Schwierigkeiten fertig zu werden. Er diktiert uns übrigens auch unser Verhalten, zeigt uns unseren Platz an in Bezug auf die anderen Nationen und erinnert uns an unsere ständige Pflicht, als Beispiel voranzugehen.
Doch wir haben auch Rosch Haschanah und die ganze Periode der Feierlichkeiten darum herum, Elul, die Slichot, die zehn Tage der Rückbesinnung, Jom Kippur und Hoschanah Rabbah. Jedes Mal erhalten wir eine weitere Portion Leben und gleichzeitig ein neues Mass an Hoffnung! Es ist nun an uns, richtig damit umzugehen, denn alle Türen stehen uns damit offen.