Simeon Solomon ( 1840-1905)
Von Philip Vann *
Der anglo-jüdische Maler Simeon Solomon, der im viktorianischen Zeitalter lebte, nimmt erst jetzt allmählich den ihm zustehenden Platz in der Kunstgeschichte ein. Zu seinem bemerkenswerten Werk gehören auch einige ergreifende und realistische Darstellungen des Alltags und der Feiertage von englischen Juden, sowie mystische und symbolistische Visionen nachdenklicher junger Männer und Rabbiner. Die Ausstellung «From Prodigy to Outcast: Simeon Solomon – Pre-Raphaelite Artist», die vor kurzem im Londoner Jewish Museum stattfand, machte ihn einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Es zeigte sich, dass er in mancherlei Hinsicht den viel berühmteren präraffaelitischen Malern in Grossbritannien – wie z.B. Dante Gabriel Rossetti, Edward Burne-Jones und William Holman Hunt - ebenbürtig war; sie alle waren voll des Lobes für die frühen Werke Solomons, liessen ihn aber als erwachsenen Mann und Künstler offensichtlich im Stich, als er das Opfer eines öffentlichen Skandals wurde.
Sowohl zu Lebzeiten wie auch nach seinem Tod litt sein Ruf unter zahlreichen Vorurteilen. Die Kritiker der viktorianischen Zeit betrachteten sein Werk nur selten mit Unvoreingenommenheit – der Kritiker der Times war im Jahr 1872 schockiert durch eine «gewisse weibische Art und morbide Mystik», wie er es nannte; diese Ansicht nahm einer der führenden Kunstkritiker Englands über ein Jahrhundert später, im Jahr 1983, wieder auf, als er über «die schmierige und lüsterne Düsterkeit von … Simeon Solomon» berichtete. Die Tatsache, dass Solomon in einer Zeit, da ein jüdischer Künstler bestenfalls mit wohlwollender Herablassung rechnen durfte und im schlimmsten Fall unverblümten Antisemitismus erwarten musste, nicht nur offen und überzeugt zu seinem Judentum stand, sondern es auch ablehnte, seine Homosexualität zu verstecken, machte ihn – zum Teil bis heute – zu einer sehr umstrittenen Figur in der Kunstgeschichte. Doch nun scheint seine Zeit glücklicherweise endlich gekommen zu sein.
Er kam 1840 als Sohn einer wohlhabenden Londoner Familie zur Welt. Seine Mutter Kate Levy war Künstlerin, und zwei seiner acht Geschwister, Abraham und Rebecca, wurden anerkannte Maler. Er begann bereits als Zehnjähriger im Atelier seines Bruders Abraham Kunst zu studieren und wurde 1855 als Student an der Royal Academy School aufgenommen, wo auch Solomon Hart, ein bekannter Maler von Synagogenszenen zu seinen Lehrern gehörte. Aus dieser Zeit sind uns zwei seiner Skizzenbücher überliefert. Seine von Bibelgeschichten inspirierten Entwürfe und Zeichnungen, die unter dem Einfluss der italienischen Primitiven und der zeitgenössischen Präraffaeliten entstanden – wie beispielsweise ein kräftiger, stolzer, schrulliger «König David, vor der Bundeslade tanzend», eine Darstellung von «Samson und Dalilah», die reich mit vielen Details ausgeschmückt ist, ein liebenswertes «Zusammentreffen von Joseph und Jakob» und eine ätherische Zeichnung von «Abraham und die Engel», die unter Palmen feiern –, zeigen überschäumenden Einfallsreichtum, einen geistreichen Witz und hervorragendes Handwerk bei der Federführung. 1858 wurde für ihn zum entscheidenden Jahr: Im Alter von achtzehn Jahren lernte er Dante Gabriel Rossetti kennen und wurde von ihm aufgefordert in seinem Atelier zu arbeiten; im selben Jahr zeigte er auch eine biblische Zeichnung, «Isaaks Opfer», an der Sommerausstellung der Royal Academy. Edward Burne-Jones behauptete gar vom jungen Solomon, er sei «der grösste Künstler von uns allen: im Vergleich zu dir sind wir nur dumme Schulbuben». Es existiert ein Foto aus den 1860er Jahren, auf dem man Solomon mit dunklem Bart, einem weissen Turban und einer über und über bestickten Tunika sieht – in diesem orientalischen oder griechischen Kostüm besuchte er manchmal Künstlerfeste, wo er für seinen «leichtfüssigen Charme» und die Art und Weise bekannt war, «seine Freunde durch seine eigenartige und seltsame Phantasie zu Lachstürmen hinzureissen». Alisa Jaffa hielt fest, dass die Präraffaeliten und ihr Kreis «ihn als eine Art Maskottchen aufnahmen» und ihn our little jew-jube nannten. Dies war bestimmt liebevoll gemeint, doch in ihren Umgang mit diesem überaus humorvollen jungen Mann, der sich offen zu seinem Judentum und zu seiner Homosexualität bekannte und sich regelmässig exotisch kleidete, mag sich sehr wohl auch ein väterlicher, herablassender Ton gemischt haben. Als ihre Freundschaft, anlässlich seiner Verhaftung 1873, einer Prüfung unterzogen wurde, standen sie kaum hinter ihm.
Ein hübsches, mit Bleistift angefertigtes Selbstporträt aus dem Jahr 1859 (heute befindet es sich in der Sammlung der Tate Gallery) – überraschend modern in seinem treffenden Realismus - zeigt Solomon als einen extrem sensiblen, zutiefst aufrichtigen jungen Mann mit grossen Augen und feinen Gesichtszügen. Ein weiteres mit Bleistift ausgeführtes Selbstbildnis (1865), das sich heute im Art Institute von Chicago befindet, stellt in seiner anspruchsvollen Fertigkeit ein Meisterstück dar: es zeigt einen herrlichen, lodernden Haarschopf über einem verschlossenen, nachdenklichen Antlitz.
1862 wurden Solomons Zeichnungen von zehn jüdischen Festlichkeiten in einer Fotoserie veröffentlicht. (1866 reprodizierte das Magazin «The Leisure Hour» diese Zeichnungen als Stiche unter dem Titel «englische Juden»). Diese Werke sind es wert, dass sie heute ein breiteres Publikum kennen lernt (das Jewish Museum in London befasst sich mit dem Gedanken, sie als eine Serie von Drucken oder Postkarten neu herauszugeben – eine wirklich gute Idee!). Es sind seltene, sehr ausdrucksstarke Darstellungen von englischen Juden der viktorianischen Mittelschicht (zweifellos der Familie Solomons sehr ähnlich) am Familientisch, anlässlich einer Beschneidung, beim Anzünden der Schabbat-Lichter, bei einer Prozession in der Synagoge, beim Begehen von einer Schiwah, am Boden kniend in der Schul an Jom Kippur usw. Der subtile Realismus dieser Bilder entsetzte einige der zeitgenössischen jüdischen Kritiker, die ihre jüdischen Szenen in konventionellerer Art, romantisch und exotisch verbrämt lieber sahen. Solomon jedoch erfüllte diese düsteren Werke mit der Atmosphäre von Ehrfurcht und Verehrung, indem er das leuchtende Weiss des Papiers als Hintergrund durchscheinen liess: wie beispielsweise in der Darstellung der Kerzen, die an Chanukkah angezündet werden, und der leichentuchähnlichen weissen Gebetsschals am Tag der Sühne.
Ein diskretes, doch eindeutiges homoerotisches Element zieht sich durch zahlreiche Werke Solomons. Auf Zeichnungen aus seinen frühen Skizzenbüchern z.B. sind David und Jonathan, sich zärtlich anblickend, eng umschlungen zu sehen. Eine frühe Bleistiftzeichnung eines nackten, tanzenden Davids (dieses Thema wird in verschiedener Weise behandelt) zeigt diesen mit erhobenen Armen und stolz emporgerecktem Kopf, der männliche Körper erscheint in sinnlicher, herrlicher Anmut. 1878 wurden seine «Acht Entwürfe» für das Hohelied als Fotomappe herausgegeben; die geschmeidigen, stilisierten Abbildungen androgyner, jugendlicher Körper transzendieren die in seinen Augen falsche Trennung von sexueller und religiöser Liebe. Darin und in manchen seiner symbolistischen Gemälde von einsamen jungen Männern feierte Solomon (wie William Blake) «die göttliche Form des Menschen».
1873 wurde Solomon verhaftet und wegen homosexuellen Geschlechtsverkehrs an einem öffentlichen Ort vor Gericht gestellt. Man verurteilte ihn zu einer Busse von 100 Pfund, er kam jedoch nicht ins Gefängnis. Damit endete seine offizielle Laufbahn. Seine Künstlerfreunde wendeten sich fast alle von ihm ab, er durfte seine Werke nicht mehr an der Royal Academy oder in Kunstgalerien in London ausstellen. Seine Familie aber hielt zu ihm, und obwohl er ihre finanzielle Unterstützung ablehnte, so halfen sie ihm wahrscheinlich dabei, künstlerische Aufträge von privater Seite zu bekommen. Er wurde zum Trinker und lebte eine Zeit lang wie ein Landstreicher, schlief im Freien, verdiente seinen Lebensunterhalt mit dem Verkauf von Streichhölzern und Schuhbändeln; danach ging es ihm noch schlechter, er steckte man ihn gar eine Zeit in ein Irrenhaus, obwohl er nicht verrückt war. Die letzten zwanzig Jahre seines Lebens verbrachte er in der Arbeitsanstalt St. Giles in Holborn, London, wo er 1905 starb.
Solomons bestes Bild ist wohl «Rabbi mit der Torah» (1871), ein Ölgemälde mit grosser Leuchtkraft, das einen jungen Mann mit halbgeschlossenen Augen in Extase zeigt, der die Gesetzesrollen in der Synagoge küsst; eine schattenhafte Figur (vielleicht seine Mutter) beobachtet ihn vom höhergelegenen Balkon aus. Doch selbst nach seiner öffentlichen Schmach und seiner Verarmung fertigte er weiterhin Zeichnungen und Gemälde von Juden (und ab und zu von koptischen Christen) im Gebet an. Zwei Porträts von Rabbinern (diverses Material, 1889; und Aquarell, 1899) – exotische, der Phantasie entsprungene Figuren in orientalischen Kleidern – berühren uns durch ihren undurchdringlich weisen, leidenden und liebevollen Ausdruck.

* Philip Vann wirkt als Kunstkritiker und Schriftsteller in England.