Mischa Alexandrovich
Von Schloïmoh Weintroïb *
Die Kuppel der Synagoge schien nahe daran, sich zu öffnen, um die durch ihre Dramatik und ihren aus dem tiefsten Inneren der menschlichen Seele kommenden Schmerzen überwältigenden Kol Nidrei-Töne gen Himmel steigen zu lassen, so sang der Oberkantor MISCHA (Moische) ALEXANDROVICH dieses einmalige Prachtstück des jüdischen Liturgiegesanges, Chasanuth, am Yom Kippur in der Chor-Synagoge Ohel Yakov in der damaligen litauischen Hauptstadt Kaunas (Kovno) vor dem Krieg.
Beim Gottesdienst konnte man hier die Creme der jüdischen Gemeinde, darunter bekannte Ärzte, Anwälte, Bankiers, Wissenschaftler, Literaturschaffende, Maler und Musiker, an ihren ständigen Plätzen sehen. Viele von ihnen haben in Paris, Wien oder Heidelberg studiert. Diejenigen, die kein Abonement besassen, warteten geduldig hinter der Schranke. Dann ging ein Raunen durch die Synagoge – die Stars der Litauischen Oper seien gekommen. Unter ihnen der grosse lyrische Tenor Kipras Petrauskas, der zusammen mit seinem engen Freund und dem bekanntesten Bassisten aller Zeiten, Fjodor Schalapin, in Sankt Petersburg vor der bolschewistischen Revolution auf der Kaiserlichen Oper auftrat. Da der hochgewachsene und eindruckvolle Kipras (wie man ihn nannte) hinter der Schranke stand, konnte man ihn in der Synagoge von überall gut sehen.
Hier wäre eine kleine «lyrische Abweichung» notwendig. Warum entschied sich M. Alexandrovich, der ja mit 20 Jahren Kantor der grossen Synagoge von Manchester wurde (1934) und zwar als der jüngste, doch auch als weltweit bekannte Chasan galt, für eine vergleichsweise kleine Stadt mit 150.000 Einwohnern, welche vor dem Ersten Weltkrieg eine Provinzstadt des russichen Reiches war und unverhofft kommissarische Hauptstadt des jungen litauischen Staates wurde, weil Vilnius in polnischer Hand war? Die Atmosphäre gab den Ausschlag. Beim Spazieren durch die schmalen und winkeligen Strassen dieser ehemals Hanse-Stadt stösst man auf das Schild Mapu Strasse. Hier hat der erste Romanautor der jüdischen Literaturgeschichte, Abraham Mapu (1807-1867), dessen Schaffen von den biblischen Motiven geprägt war, gewohnt. Keine Hundert Meter entfernt verläuft die Zamenhofo Strasse mit dem Esperanto-Zentrum Litauens und einem Museum. Der Erfinder der internationalen Esperanto-Sprache, Ludwig (Leizer) Zamenhoff (1859-1917) hat lange dieses Haus mit seiner Frau, einer Tochter des einheimischen jüdischen Geschäftsmannes, geteilt. Der 97-jährige Chatzkel Lemchen, ehemaliger Gefangener des KZ Dachau, der gegenwärtig in Vilnius lebt, machte bereits vor dem Krieg von sich als einem bedeutenden Lituanisten und Verfasser von vielen Wörterbüchern reden. Die Ghetto-Statuen des Bildhauers Arbit Blat, der vor dem Kriegsausbruch ebenfalls in Kaunas gelebt hatte, stehen nun in Venedig und New York vor dem UN-Hauptgebäude. Setzte man diese Aufzählung fort, käme ein Lexikon der jüdischen Gemeinde dieser kleinen, doch aufgrund ihres intellektuellen Potenzials einmaligen Stadt zu Stande. Nicht weniger bedeutend war die religiöse Seite: beispielsweise die bekannte Einrichtung vom Akademierang Slabodker Yeschiweh, deren Lehrer und Studenten in den ersten Tagen des Krieges, noch bevor die deutschen Soldaten einmarschiert waren, beim Pogrom von einheimischen Gewalttätern bestialisch ermordet wurden, während sie den Rabbi Salman Ossowsky beim Gebet geköpft haben, um seinen Kopf im Fenster auszustellen. Mit diesen Tagen beschäftigt sich Ephraim Oshry in seinen Erinnerungen The Annihilation of Lithuanian Jewry (erschienen 1995 in New York, Übersetzung aus dem Jiddisch).
So lebte und wurde vernichtet die 40.000 mitglieder-starke jüdische Gemeinde von Kaunas, die in Jiddisch sogar sechs Tageszeitungen herausgab, ebenso viele Gymnasien, darunter vier welche Hebräisch als Unterrichtssprache hatten. Sie hat deutliche Spuren in der eigenen, litauischen und internationalen Kulturgeschichte hinterlassen hat. Die Einladung dieser Gemeinde nahm der junge Chasan 1935 mit Freude an.
Ich hatte das Glück, ihn gleich nach der Ankunft in Kaunas kennenzulernen. Mein Onkel, ein bekannter Rechtsanwalt und freiwilliger Teilnehmer der litauischen Unabhängigkeitskämpfe, Jossif Schukstelisky, welcher am 9. August 1941 zusammen mit 530 anderen jüdischen Intellektuellen erschossen wurde, nahm mich an Festtagen mit in die Synagoge. Bald sah ich den Kantor auch beim Onkel zu Hause: sie freundeten sich an und verbrachten die Abendstunden bei der Preferense (russisches Kartenspiel aus dem XIX.Jhd.). Während meiner Bar-Mitzva stand M. Alexandrovich in der Synagoge neben mir und später sass er bei uns zu Hause am Festtisch und sang vom ganzen Herzen.
Geboren wurde Mischa, 1913, in dem benachbarten Lettland, im jüdischen Stetl Berspils unweit von Riga. Sein Talent begann sich im Alter von fünf Jahren zu entfalten und mit acht Jahren hatte das Wunderkind bereits seine erste triuphale Tournee durch Europa mit jüdischen Volksliedern und Klassik gestartet. Nach seinem Auftritt in Kaunas schrieb die dortige jüdische Zeitung «Di Welt» vom 9. Mais 1924: «Der zehnjährige Sänger hat ein riesiges Aufsehen in den musikalischen Kreisen erregt wegen Umfang und Schönheit der Stimme, vor allem wegen der Tiefe und Innigkeit des Ausdrucks». Eine Rigaer Zeitung fragte sich verwundert: «Wie ist das möglich? Ein Kind kann von solchen Empfindungen nichts wissen! »
Auf dem Umschlag der 1999 in Dortmund erschienenen CD von M.Alexandrovich «The Tree of Life» heisst es: «Der von seiner Stimme faszinierte grosse italienische Tenor Benjamino Gigli holte den 18-jährigen nach Mailand und gab seinem lyrischen Tenor den später unverwechselbaren Belcanto-Schliff». Seine Interpretationen jüdischer Gebetstexte, in der sich die Virtuosität seiner belcanto-gebildeten, ungewöhnlich modulationsfähigen und eindringlichen Stimme mit seinem tiefempfundenen Glauben zu einer fast magischen Wirkung verband, zog er auch Nichtjuden und Opern-Kollegen in die Synagogen. In seiner Gestaltung wurden jiddische Lieder zu einer neuen Kunstform und landesweit populär.
Als die Litauische Oper 1938 vor Abreise zu einem einmonatigen Gastauftritt auf der Colon-Szene in Argentinien ein Abschiedskonzert in Kaunas gab, wurde auch Mischa zum Singen eingeladen.
Sein tiefgläubiger Grossvater hatte für die religiöse Ausbildung des Enkelkindes von klein an gesorgt, um ihn auf den Gottesdienst, er sollte Chasan werden, vorzubereiten. Im Kindes- und später im Jugendalter verspürte er auch die Neigung zur profanen Musik, was zum Aufbau seines universellen Repertoires beigetragen hatte. Als die Sowjets 1940 Litauen besetzt und die Synagogen zu schliessen begonnen haben, erlitt die künstlerische Laufbahn des Chasans M.Alexandrovich einen schmerzhaften Knick. Er musste sich mit Konzertauftritten zufriedengeben. Konzerte gab er auch während des Krieges, nachdem er den Nazis unter glücklichen Umständen hatte entkommen können. Darüber habe ich ebenso als Flüchtling, den es in die Moscheen-Stadt Kokand in der Nähe der Grenze zum Iran verschlagen hatte, erfahren. Beim Lesen einer Zeitung der usbekischen Hauptstadt Taschkent habe ich einmal zu meiner grossen Freude eine seltsam anmutende Anzeige mit guter Botschaft bemerkt: «Das grosse Konzert der Kammermusik mit dem Solisten der Litauischen Oper, Michail Alexandrovich (Tenor), und dem Solisten der Warschauer Oper, Mojsej Kusevitzky (Bariton)». Die grossen Kantoren hatten sich gerettet und waren am Leben geblieben ! Obwohl sie jetzt von der sowjetischen Ideologie in «Opernsolisten» umgetauft worden waren, freute ich mich. Später an der Front bei Leningrad habe ich die Stimme Mischas oft, fast jeden zweiten Tag, im Radio von Moskau gehört. In einer Moskauer Zeitung habe ich auch gelesen, dass sein Repertoire mehr als 100 Stücke, darunter russische, jüdische, litauische, georgische und italienische Lieder, Arien sowie Romanzen, umfasst, dass er oft an der Front, in den vordersten Linien und in Feldlazaretten Auftritte gibt.
Als ich vor dem Kriegsende nach Moskau kam, sah ich dort Poster, auf denen ein Konzert von M. Alexandrovich in grossen Buchstaben annonciert wurde. In der P.Tschaikowsky-Konzerthalle, wohin ich mich schnellstens begeben hatte, sagte mir eine Kassiererin, es sei völlig unmöglich noch Karten zu bekommen – sie würden total und ständig ausverkauft. Da halfen auch keine Beteuerungen, ich sei gerade von der Front gekommen. Nachdem ich mich in der Direktion für einen Verwandten ausgegeben hatte, erfuhr ich zumindest das Hotel, wo er abgestiegen war – «Moskwa». Unser wiedersehen war rührend, von vielen Küssen und starken Umarmungen gekennzeichnet. Ich wurde auch zum Konzert eingeladen. Doch finde ich bis heute keine Ruhe, mich damals bei ihm nicht erkundigt zu haben, wie er es geschafft hatte zu flüchten und wie es ihm ging. Ich erfuhr nur, dass Mischa mit der bekannten Schauspielerin Liubov Orlova, «der sowjetischen Marlene Dietrich», 1943 vor den Teilnehmern des historischen Gipfeltreffens von Teheran, J. Stalin, W. Churchill und F. Roosevelt, aufgetreten ist.
Die Popularität Mischas wurde nach dem Krieg noch grösser, als Konzertreisen kreuz und quer durch die Sowjetunion fast ohne Atempause begannen. «M. Alexandrovich ist ein besonders talentierter Sänger, der das Zeug dazu hat, eine hervorragende Stellung unter unseren Solisten einzunehmen», befand die Moskauer Zeitung Literatura i Iskustvo (Literatur und Kunst). Ich war Augenzeuge, wie junge Mädchen und reife Damen gleichermassen während seiner Konzerte der neapolitanischen Liebeslieder in Ohnmacht fielen. Seine individuellen Auftritte wurden für die Führer der UdSSR, J. Stalin oder N. Chruschtschiow, wie für arabische Scheichs, organisiert. M. Alexandrovich wurden die höchsten künstlerischen Ehrentitel, wie der Nationalkünstler Russlands und Stalinpreisträger, zuerkannt. 3.000 Konzerte und Plattenauflage von 20 Millionen belegen eindrucksvoll die Popularität M. Alexandrovichs.
Im Oktober 1944 kam er in das kürzlich von Nazi-Besatzern befreite Vilnius. Nach dem Konzert in der Nationalphilharmonie schrieb die kommunistische Zeitung Tiesa (Prawda, Die Wahrheit) im Stil der sowjetischen Ideologie (11 10 1944): «Die Zuhörer zwangen mit donnerndem Applaus den Solisten zu immer neuen Zugaben. Noch vor dem Krieg war er unter den Musikliebhabern in Kaunas als begabter Kammersänger bekannt, der seine Zuhörer mit sanfter lyrischer Stimme verzauberte. Im faschistischen Litauen (es wird die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen gemeint) hatte M. Alexandrovich keine Chance seine Konzertaktivitäten zu verfolgen; erst mit dem Wechsel zum sowjetischen System entfielen alle Störschranken».
Leider entstanden richtige «Störschranken» recht bald im sowjetischen Litauen: im Vorfeld einer Gasttournee des mittlerweile in Moskau lebenden Sängers sagte ein kommunistischer Ideologe dem Direktor der Philharmonie ins Gesicht, macht Schluss mit diesen zionistischen Demonstrationen! Anlass für die Aufregung waren die überlebenden Juden, die zahlreich zu Konzerten von M. Alexandrovich kamen und ihn laut in Jiddisch und Hebräisch begrüssten. Das war den damaligen Führern ein Dorn im Auge.
Später kamen zusätzliche Verbote: der Sänger bekam oft Angebote für Auftritte im Ausland, doch er wurde nevyjezdnoj, «ausreiseunberechtigt»; im sowjetischen Sprachgebrauch hiessen so Personen, denen es nicht erlaubt wurde, ins Ausland zu reisen. Er war ja ehemaliger Chasan. Als er dann den Antrag auf die Ausreise ins Israel stellte, wurde er «otkaznik», «Der Abgelehnte». So bezeichnete man Personen mit Emmigrationsverbot. Weiter verlief alles nach dem üblichen Szenario: seine Konzerte wurden verboten, seine Platten verschwanden vom Handel und aus den Phonotheken und sein Name fand keine Erwähnung in der Musikpresse mehr. Es entbrannte ein internationaler Skandal, in den sich sogar die UNO eingeschaltet hatte. 1971 musste man ihn gehen lassen. Nach dem ersten Konzert in New York hat die New York Times M. Alexandrovich als «einen der bestgehüteten Kulturgeheimnisse Russlands» bezeichnet. Als er wieder Chasan in der grossen Ramat Gan Synagoge wurde, bemerkte die Moskauer Zeitung Literaturnaja gazeta (Literatur Zeitung) spöttisch, er war bei uns ein geliebter Sänger, dort ist er nur ein Gebetsänger einer Synagoge.
Nun beganen die Reisen M. Alexandrovichs durch die weite Welt. 1997 kam er in das neue Russland. Der prestigeträchtige Konzertsaal von Moskau Rosija war überfüllt. Insgesamt 40 Konzerte gab er während drei Tournees und alle Karten wurden lange vor Konzerten ausverkauft. M. Alexandrovich wanderte von Israel in die USA aus und 1999 liess sich der 86-Jährige Chasan in München nieder. Das hat mir Frau Christine Leppert, eine Lehrerin aus Baden-Baden, die ich gut kenne und die sich für die Judaika interessiert, mitgeteilt. Ich bin ihr dafür sehr verbunden. Im letzten Jahr habe ich von ihr einen Ausschnitt aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung über diesen Kantor und seine Anschrift – Kellerstrasse 14, München – bekommen. Leider kam mein Brief mit dem Postvermerk «Empfänger unbekannt» zurück. Das ist vorerst das Letzte, was ich über die Lebensperipetien des göttlichen Kantors und einer der bekanntesten Vertreter der Goldenen Ära der virtuosen Chasanuth habe in Erfahrung bringen können.

* Schloïmoh Weintroïb (Saliamonas Vaintraubas) ist Journalist und Schriftsteller in Vilna.