Jude – Bulgare - Abgeordneter
Von Roland S. Süssmann
Da Bulgarien auf eine Tradition der Toleranz zurückblickt, gibt es keinen Beruf, aus dem ein Mensch aufgrund seines Glaubens ausgeschlossen werden kann. Dies gilt auch in der Politik, und so lebt in Sofia ein jüdischer Abgeordneter, Professor NANSEN BEHAR, der Mitglied der Nationalversammlung und Vizepräsident der nationalen Kommission für Verteidigung und Sicherheit ist. Wir wurden von Professor Behar in den historischen Räumlichkeiten des bulgarischen Parlaments sehr herzlich empfangen.

Bevor wir auf die verschiedenen Aspekte Ihrer Persönlichkeit als jüdischer Parlamentsabgeordneter in Bulgarien und auf Ihre Tätigkeit eingehen, möchten wir Sie kurz unseren Lesern vorstellen. Können Sie uns in wenigen Worte sagen, wer Sie sind?

Meine Familie ist tief in der Geschichte des Balkans im allgemeinen und derjenigen Bulgariens im besonderen verwurzelt. Ich konnte unseren Familienstammbaum bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgen. Mein Grossvater war Musiker am königlichen Hof und meine Grossmutter stammte aus der angesehenen Familie Aryé, die in hohem Ausmass zum Aufblühen des kulturellen Lebens beigetragen hat, da sie unter anderem die Nationalbibliothek gründete. Mein Vater war Anwalt und Wissenschaftler und hat mehrere Bücher herausgegeben. Mein Mutter gehörte einer jüdischen Familie aus Plovdiv an. Alle meine Angehörigen haben sich immer aktiv am Gemeinschaftsleben beteiligt. Ich wurde 1940 geboren. Während des Kriegs musste meine Familie in einer kleinen Stadt im Süden des Landes Zuflucht suchen, in der wir zweieinhalb sehr schwierige Jahre verbrachten. Ich erinnere mich noch an unsere Rückkehr nach Sofia, die Stadt lag in Schutt und Asche, es fehlte uns an allem. Das American Jewish Joint Distribution Commitee (AJJDC) schickte uns Lebensmittel und ich habe den Geschmack der Kondensmilch und der gelben Margarine von damals immer noch auf der Zunge. Ich beendete später mein Universitätsstudium in Sofia, wo ich ein Lizenziat in internationaler Wirtschaft erlangte . Dann absolvierte ich verschiedene Aufenthalte an westlichen Universitäten, insbesondere in Genf und Paris, bevor ich in die akademische Welt von Bulgarien zurückkehrte, wo ich mit der Zeit Assistenzprofessor wurde und später den Lehrstuhl für Wirtschaft an der Universität Sofia erhielt. Trotz meiner Aktivitäten im Parlament wollte ich meinen Posten an der Universität nicht aufgeben. Neben all meinen beruflichen Tätigkeiten entwickelte ich ein besonderes Interesse für jüdische Geschichte und trug eine umfassende Privatbibliothek mit Spezialwerken zur Geschichte der Juden im Balkan und in Bulgarien sowie zu den Ursprüngen des Antisemitismus in dieser Region zusammen.

Wie traten Sie in die Welt der Politik ein?

1994 bat mich der Verteidigungsminister, die Leitung des Zentrums für strategische Studien zu übernehmen mit der besonderen Aufgabe, die Frage unseres Beitrittsgesuchs zur NATO und zur Europäischen Union zu bearbeiten. Dreieinhalb Jahre lang habe ich dieses Institut geleitet. Nach dieser Zeitspanne fanden in Bulgarien Parlamentswahlen statt. Eine Zentrumspartei nahm Kontakt mit mir auf, um mich auf ihre Liste zu setzen. Ich nahm das Angebot unter der Bedingung an, der Partei nicht beitreten zu müssen und als unabhängiger Kandidat auf ihrer Liste aufgeführt zu werden, was in unserem System der Proporzwahl ohne weiteres möglich ist. Heute bin ich der einzige jüdische Abgeordnete, obwohl es in der letzten Legislaturperiode auch jemand anderes gab. Die Juden haben schon immer zur bulgarischen Politik gehört. In der «grossen Nationalversammlung», die als Institution gegründet worden war um die Verfassung des Landes zu schreiben, befanden sich gar sechs Juden: drei in rechten und drei in linken Parteien. Zur Zeit stehe ich an der Spitze des Parlamentsausschusses für die bulgarisch-israelische Freundschaft. In dieser Eigenschaft wurde ich 1998 zusammen mit dem anderen jüdischen Parlamentarier jener Zeit vom israelischen Präsident Ezer Weizmann zu einem offiziellen Besuch eingeladen, in dessen Rahmen wir in der Knesset und im Präsidentenamt empfangen wurden. Seither bin ich wiederholt nach Israel gereist, den letzte Besuch habe ich kürzlich an der Spitze einer Delegation von bulgarischen Bürgermeistern abgestattet, welche die Handelsbeziehungen zwischen den beiden Ländern ausbauen wollten. Von 1991 bis 1993 war ich Vizepräsident von OJB-SHALOM, zuständig für das Dossier der internationalen Beziehungen. Ich konnte vom AJJDC erwirken, dass es in Bulgarien Büros eröffnet und hier das Leben der Juden und ihrer Gemeinschaft im Hinblick auf seine Entwicklung und Erneuerung grosszügig unterstützt. Von 1992 bis 1995 fungierte ich als Vertreter Bulgariens im Rat der jüdischen Gemeinden Europas, der damals seinen Sitz in Paris hatte, und war dort auch Vorstandsmitglied.
Dies ist in Kürze meine Laufbahn, in deren Verlauf ich zwischen Promotion und Habilitation ein Dutzend Werke, von denen einige ins Englische, Russische und Tschechische übersetzt wurden, veröffentlicht habe, sowie über zweihundert akademische Artikel, die in neun Sprachen übersetzt wurden.

Sie haben den Parlamentsausschuss für die bulgarisch-israelische Freundschaft erwähnt. Welches sind seine Ziele und Aktivitäten?

Zunächst muss man wissen, dass dieser Ausschuss von allen Vereinigungen dieser Art, die im Rahmen des Parlaments existieren, die meisten Mitglieder zählt, nämlich 124 Personen. Dafür gibt es zahlreiche Gründe: einige Mitglieder empfinden ganz einfach Sympathie für die Anliegen der Juden, andere halten die Entwicklung Israels für interessant und den Erfolg dieses Staates für beispielhaft. Ich bereite gegenwärtig eine Reise für bulgarische Parlamentarier nach Israel vor. Eines der Hauptziele unseres Ausschusses ist es im Grunde, sich zu vergewissern, dass die Abgeordneten korrekt und vollständig über die Vorgänge in Israel informiert werden, ein anderes besteht darin, persönliche Kontakte zwischen israelischen und bulgarischen Abgeordneten zu fördern. Dan Tichon, der ehemalige Knessetpräsident, hat uns übrigens einen Besuch abgestattet. Wir arbeiten aktiv mit der israelischen Botschaft zusammen, die uns mit Informationsmaterial, Büchern usw. versorgt. Natürlich unternehmen die arabischen Länder ähnliche Anstrengungen.

Können Sie uns in einem weiteren Zusammenhang und in Ihrer Eigenschaft als Vizepräsident der nationalen Verteidigungskommission sagen, welche geostrategische und geopolitische Position Bulgarien in Bezug auf die Situation im Nahen Osten, aber auch in Bezug auf die militärischen Abkommen zwischen Israel und der Türkei einnimmt ?

Im Rahmen der von Ihnen erwähnten Kommission befassen wir uns natürlich ständig mit dem Problem der geopolitischen Lage Bulgariens. Als Vizepräsident habe ich an der Ausarbeitung der Verteidigungsdoktrin des Landes mitgearbeitet; in diesem Dokument haben wir zunächst festgehalten, dass Bulgarien zur Zeit von keinem einzigen Nachbarstaat bedroht wird. Folglich drängte sich eine Veränderung auf, und wir haben beschlossen, die Streitkräfte von 120'000 auf 45'000 Mann zu reduzieren. Wir werden die Mehrheit unserer Truppen von der Grenzlinie abziehen und den regionalen und multinationalen Streitkräften beitreten, die türkische, griechische, italienische und mazedonische Truppen umfasst und deren Ziel es ist, in dieser Region den Frieden zu gewährleisten. Bulgarien gehört keiner einzigen der grossen internationalen Organisationen für Zusammenarbeit im Bereich Militär und Verteidigung an. Wir haben ein Beitrittsgesuch für die NATO gestellt, doch dies wird offensichtlich etwas Zeit in Anspruch nehmen, da Bulgarien für diese Zusammenarbeit noch nicht bereit ist. Wir pflegen ausgezeichnete Beziehungen sowohl zu Griechenland als auch zur Türkei, es gibt ausserdem eine bedeutende parlamentarische Vertretung der in Bulgarien lebenden türkischen Bevölkerung. Auch unsere Beziehungen zu Rumänien sind erfreulich und es ist geplant, eine zweite Brücke über die Donau zu bauen. Im Hinblick auf unsere auswärtigen Angelegenheiten galten die Balkanstaaten schon immer als verlockende Beute für die Grossmächte, insbesondere für Russland, weil der Zugang zu den sogenannten «warmen» Meeren über den Balkan erfolgte. Es steht ausserdem zur Debatte, eine Pipeline für den Transport von russischem Gas und Erdöl zu bauen, die für Europa bestimmt sind und durch unser Land führen soll, doch aufgrund ihrer Militärallianz mit der Türkei bestehen die USA darauf, dass diese Pipeline durch dieses Land geführt wird. Daraus entstand ein recht heftiger Streit zwischen beiden Grossmächten und Bulgarien. Gleichzeitig sind die Vereinigten Staaten dabei, in Albanien, im Kosovo, in Bulgarien und in der Türkei eine Armee zu stationieren und eine militärische Präsenz aufzubauen, um damit ein Gegengewicht zur Entstehung einer neuen und starken europäischen Allianz zu besitzen. Angesichts dieser Entwicklung wird Bulgarien von den beiden Grossmächten als Stabilitätsfaktor in der Region angesehen, der sich auch im jugoslawischen Krieg bewährt hat. Der Militärvertrag zwischen Israel und der Türkei bezieht sich meiner Meinung nach direkt auf die Kurdenfrage und auf den Irak und wird daher weder unsere Beziehungen zur Türkei noch diejenigen mit Griechenland beeinträchtigen.
In Bezug auf Israel möchte ich in Erinnerung rufen, dass es in Bulgarien keine antisemitische Tradition gibt, auch wenn einige Bemerkungen zu dem Zeitpunkt laut wurden, als man mit der Rückerstattung der während des Kriegs beschlagnahmten Grundstücke an die Juden begann. Ich fürchte jedoch, dass es im Falle eines erneuten Preisanstiegs für Erdöl oder gar einer Kontingentierung infolge der Situation im Mittleren Osten nicht ausgeschlossen wäre, dass gewisse antisemitische Stimmen sich wieder zu Wort melden würden. Ich muss jedoch betonen, dass in recht ausgewogener Form in der lokalen Presse über die Ereignisse berichtet wird, die sich momentan in Israel abspielen.
Damit die Einstellung in Bulgarien besser verständlich wird, möchte ich unseren letzten Zar zitieren, der mit Vorliebe wiederholte: «Es ist schwierig ein Volk zu beherrschen, in dem die Intelligenzia nach Frankreich, das Volk nach Russland und die Armee nach Deutschland ausgerichtet ist.»