Dora Holzhandler
Von Philip Vann *
DORA HOLZHANDLER wird gerühmt für ihre Gemälde, die zärtliche Liebende, gemütlich am festlichen Tisch sitzenden Familien, in Gedanken versunkene einsame Frauen, Mütter und Kinder in paradiesischen Gärten und nachdenkliche Rabbis zeigen. Ihre Ölbilder zeichnen sich durch komplizierte, intensive Motive, ihre Gouachen durch dunkle, üppige Farbtöne, ihre Aquarelle durch ihre ausserordentliche Transparenz aus. Ihre Werke sind zart und kraftvoll zugleich und sprühen vor naivem Humor. Der bekannte britische Kunstkritiker Eric Newton beschrieb sie treffenderweise als eine «temperamentvolle Naive». Sie lebt in der Gegend des Holland Parks in London und beschreibt sich selbst als «Mystikerin, die stolz auf ihre jüdische Herkunft ist».
«Ich wurde 1928 als Kind polnisch-jüdischer Flüchtlinge in Paris geboren», sagt sie. «Mein Vater stellte Handtaschen her, meine Mutter war Näherin. Im Alter von nur wenigen Monaten kam ich aufs Land in die Normandie zu Pflegeeltern, die wahrscheinlich katholisch waren. Ich blieb fünf glückliche Jahre dort. Meine Mutter, die ich ‘Maman Paris’ nannte, besuchte mich regelmässig, und eines Tages nahm sie mich zurück nach Paris. Es war ein traumatisches Erlebnis für mich. Ich musste mein idyllisches Dasein in der Normandie verlassen und landete unversehens im verrückten Leben von Paris, in einer grossen, mittellosen und unübersichtlichen jüdischen Familie.» Diese Entwurzelung in einem für Eindrücke äusserst empfänglichen Alter hat ihr dabei geholfen, so denkt sie, objektiv zu beurteilen, was das Leben als Jude ausmacht. Während sie einerseits das Judentum als ihr Erbe betrachtet, sieht sie es andererseits auch mit Distanz : «Für mich verkörpert es immer noch eine Art Theater. Aus diesem Grund male ich wohl diese Bilder [des jüdischen Lebens], um es mir selbst zu erklären.»
Eines Tages schenkte eine Cousine der Fünfjährigen «einen Schuhkarton mit einer kleinen Plastikpuppe und der dazugehörigen Garderobe». Doras zeitlose Reaktion gibt uns einen Anhaltspunkt für ein wesentliches Merkmal ihrer Arbeit, die gleichzeitig kindlich und verklärt ist. «Aus dieser Zeit ist mir eine Art Glückseligkeit erhalten geblieben, die mich manchmal überkommt, wenn die ganze Welt eine riesige Spielzeugkiste zu sein scheint und mir alles winzig und reizvoll vorkommt.»
«Ich erinnere mich gut an Zaida, den Vater meiner Mutter, an die Geschichten, die er mir im Park Buttes Chaumont in Paris zu erzählen pflegte. Er war kein Rabbiner, jedoch der Religion sehr zugewandt. Kurz nach meiner Ankunft in Paris zogen meine Mutter und ich zu meinem Vater, meinen Stiefbrüdern und meiner Stiefschwester nach London East End. Unsere Wohnung lag gegenüber einer Synagoge in Dalston.»
«Meine Mutter war eine echte jüdische Dame der alten Schule aus dem polnischen Stetl. Sie kannte eine Menge herrlich bildhafter jiddischer Flüche ! Am Donnerstag gingen wir jeweils zum Hühnermarkt und feilschten um das Federvieh, eine Szene, die ich später gemalt habe. Am Freitagmittag riss sie die Hühnerleber heraus und warf sie auf die Gasflamme, dann bekam ich sie zu essen. Den Rest bekam die Katze! Auch diese Erinnerung habe ich in ein Bild verwandelt. Eine weitere bleibende Erinnerung ist der Zeitpunkt, an dem meine Mutter die Schabbat-Kerzen anzündete. Es gab eine weisse Tischdecke und wir assen Hühnersuppe und gefilte Fisch. Nach einem eher ruhigen, ereignislosen Leben als kleines Kind prägte sich mir das jüdische Leben in East End nachhaltig ein.»
«Später, in den 50er Jahren, als ich schon verheiratet war und ein kleines Mädchen namens Hepzibah hatte, kehrten mein Mann George und ich wieder in die Wohnung meiner Kindheit in Dalston zurück. Ich pflegte beim Malen die Hochzeiten gegenüber zu beobachten. Ich habe mich immer für das Judentum interessiert und malte zahlreiche jüdische Motive, doch die Auseinandersetzung mit diesem Thema von einem esoterischeren Standpunkt aus hat mir geholfen, es zu verstehen.»
Im September 1939 wird die jetzt elfjährige Dora wie Tausende von anderen Kindern aus London aufs Land geschickt. «Nach einigen Stunden erreichten wir Norfolk. Mrs Green, eine Bauersfrau, nahm mich [zusammen mit zwei anderen kleinen jüdischen Mädchen] bei sich auf. Mein Leben schien wieder nach dem ursprünglichen Muster zu verlaufen, ich war wiederum von meinen Eltern getrennt und lebte bei Pflegeeltern.» Sie erinnert sich daran, am Rundfunk Chamberlains Ankündigung gehört zu haben, dass Grossbritannien Deutschland den Krieg erklärt hatte. Sie empfand es, «als ob eine grosse schwarze Wolke mein Denken erfüllte... Ich weinte bitterlich und dachte an meinen Grossvater, meine Tanten, Onkel und Cousins in Paris.» Ihre Vorahnung betreffend ihre Verwandten in Paris bestätigt sich : ihr geliebter Grossvater Zaida und ihre älteste Halbschwester Mercelle, Onkel, Tanten und viele Vettern kamen in Auschwitz um.
Die Greens waren ein nettes Paar und Dora erinnert sich an glückerfüllte Wochenenden auf dem Bauernhof in Norfolk. Nach dem Ende des Krieges kehrte Dora nach London zurück; sie begann Bücher über Kunst zu lesen und die National Gallery zu besuchen. Schon als Kind hatte sie in Paris zu zeichnen angefangen. Und nun entdeckte sie als Jugendliche «meine leuchtende Welt der Kunst... ihr glorreiches Paradies» wieder.
Dann geschah, sagt sie, «etwas Grossartiges»; ihr Cousin Momo (der als Inhaber eines britischen Passes von den Deutschen zusammen mit anderen britischen Staatsbürgern in Vittel gefangen gehalten wurde) besuchte London und führte Dora in einen anregenden Zirkel von Künstlern und Musikern in Kensington und Chelsea ein. Den Sommer 1946 verbrachte Dora mit Momos Familie ausserhalb von Paris, wo sie Malerei und französische Literatur studierte. Dora spricht von «Nuancen in ihrer Malerei, ihrer französischen Art die Dinge zu sehen, die jedoch fast untrennbar war von ihrer jüdischen Abstammung». Sie entwickelte ein stetiges Interesse für französische Kunst - von mittelalterlichen Wandbehängen bis zur Ecole de Paris - sowie für französische Poesie und Filmkunst. (Weitere kulturelle Leidenschaften gelten u.a. der buddhistischen Kunst und jüdischen illuminierten Manuskripten des Mittelalters). 1947 erkrankte sie jedoch an Typhus und musste nach London zurückkehren, wo sie allmählich genas.
1948 schrieb sie sich an der englisch-französischen Kunstschule im Norden von London ein. Als Studentin in dieser Akademie gelangte zum ersten Mal ein Buch über Chagall in ihre Hände. Sie sagt von ihm, er habe sie «nicht unbedingt beeinflusst, er besitzt die gleiche Art Seele wie ich. Ich meine, er mag Liebende, ich mag Liebende». Darüber hinaus machte sie an dieser Schule ebenfalls die Bekanntschaft eines Kommilitonen namens George Swinford, den sie im September 1950 heiratete. Dora erinnert sich, dass sie auch in der Zeit, als ihre drei Töchter, Amalie, Hepzibah und Hermione, noch Babies waren, immer entschlossen war, die Zeit zum Malen zu finden.
Zwischen 1971 und 1975 lebten Dora und George mit ihren Kindern und Enkeln in einem grossen georgianischen Haus in Schottland, «zu dem ein wunderschöner, mit einer Mauer umgebener Garten gehörte, der von Rosen und Blumen und wilden Früchten überströmte. «Es war, sagte sie, als spielten die Kinder im Paradies. Für mich ist das Paradies ein Garten, Gan Eden. Mein erstes Bild zu diesem Thema - eine Frau mit einem kleinen Kind in einem Garten - entstand um ca. 1960. Ich hatte gerade ein Buch mit einem Vorwort von Jung gelesen, ‘The Secret of the Golden Flower’ (Das Geheimnis der Goldenen Blume), und dies kommt in meinem Gartengemälde eigentlich zum Ausdruck - eine Art geheimer Bewusstwerdung dieser Mutter, dass das Leben wie eine goldene Blume ist.»
In den 80er Jahren setzte sich Dora mit der Kabbala auseinander, und nach ihrer Reise nach Israel (in Jerusalem, sagt sie, «war es, als ob sie die Bibel vertieft studiert habe») begann sie Rabbiner zu porträtieren (deren Gesichter oft auf mystische Weise an dasjenige Zaidas, des Grossvaters mütterlicherseits, erinnerten): «Vor dem Ende der 80er Jahre hatte ich nicht viele Rabbiner gemalt. Dann fing ich an, die Ikone des Gesichts des Rabbis in Gouache zu malen. Dadurch konnte ich Dinge ausdrücken, die ich in einem Selbstporträt nicht sagen konnte. Sobald der Bart da ist, der Talith und die Kippah, ist das Ganze da. Wird das Gesicht von einem intelligenten jüdischen Geist gemalt, wird der Malende zum Gesicht des Gemalten. Es ist wie eine kleine Schöpfung, ein Universum. Das Verblüffende an einem jüdischen Geist ist das Fragen, diese geheimen Gespräche mit einem unsichtbaren Gott: «Ich glaube nicht an Dich, aber andererseits glaube ich an Dich». Für Dora sind die Worte des chassidischen Rabbiners Baal Schem Tov aus dem 18. Jahrhundert denjenigen des Zenbuddhismus sehr ähnlich. Beide wirken zunächst sinnlos, sind jedoch in Wirklichkeit von einem phantastischen kosmischen Humor.
«Ich reise viel. Alle Länder sind natürlich verschieden, doch der jüdische Geist, sein innerstes Wesen, ist überall gleich, in Paris, Jerusalem, New York und Polen. Auf meinen Reise mag ich religiöse Orte jeder Art über alles. Es sind die Gedanken der Menschen, welche die Atmosphäre schaffen. Wenn ich an einer Synagoge vorbeikomme, spüre ich auf eine seltsame Weise, dass dies hier mein Zuhause ist, der Ort, in den ich hineingeboren wurde, und so erhält sie eine zusätzliche Bedeutung.»

* Philip Vann ist Kunstkritiker und Schriftsteller in England. Er hat insbesonder das Buch «Dora Holzhandler» verfasst, das von Lund Humphries, London, und von The Overlook Press, New York, herausgegeben wurde.