Editorial
Von Roland S. Süssmann
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
«Die einzigen Generäle, denen man gehorchen muss, sind die Generäle der Zinnsoldaten!», sang schon Georges Brassens. An diesen Aufruf zur Vorsicht denkt man, wenn man den Erklärungen von Ehud Barak ein aufmerksames Ohr leiht. Schenkt man ihm Glauben, ist Israel kein Staat mehr, der über eine Armee verfügt, sondern eine Armee, die über einen Staat herrscht. Der Frieden muss daher gewaltsam erobert werden ! Dazu wäre es unumgänglich, den gesamten Golan an den Diktator Assad abzutreten und den grössten Teil der jüdischen Gebiete von Judäa-Samaria-Gaza zu evakuieren, um die Gründung eines islamischen PLO-Staates im Herzen Israels zu ermöglichen!
Die Verwirklichung aller dieser Projekte wird als Allheilmittel angesehen, das den künftig hier lebenden Generationen dieser Region den ewigen Frieden garantieren soll. Diese Gaukelbilder sind jedoch ebenso gefährlich wie die fahrlässigen Bestimmungen, mit denen die Osloer Abkommen gespickt sind. Im Mittleren Osten können schnelle oder simple Lösungen nicht funktionieren, es muss alles nuanciert und vielschichtig stattfinden. Ehud Barak ist sich dessen bewusst, und es fällt einem schwer zu glauben, dass der «höchstdekorierte Soldat Israels», dieser «Held», der sich im Verlauf des Wahlkampfs vor einer Fernsehkonfrontation mit Benjamin Netanyahu fürchtete, die diesen Reden innewohnenden Risiken nicht erkennt, selbst wenn sie letztendlich nicht wörtlich in die Tat umgesetzt werden. Handelt es sich dabei um eine minuziös geplante politische Taktik oder einfach um das Zugeständnis, dass er dem Druck aus den USA nicht standhalten kann ?
Es weist alles darauf hin, dass wieder einmal die Zeit der einseitigen israelischen Zugeständnisse, die mit einer Nichtbeachtung der von der PLO unterzeichneten Abkommen belohnt werden, angebrochen ist. Dies wird durch die Evakuierung der Gebiete veranschaulicht, die in der neuen Version der Abkommen von Wye vorgesehen ist, ohne dass die PLO zu Gegenleistungen verpflichtet wäre. Die Gegenseitigkeit, d.h. die Verpflichtung der PLO, den Terrorismus zu bekämpfen, die Attentäter zu verhaften und einzusperren, illegale Waffen zu konfiszieren und die bewaffneten Streitkräfte auf 30'000 Mann zu beschränken (heute sind es ca. 50'000), ist in Vergessenheit geraten. Der Verzicht auf das Prinzip der Gegenseitigkeit bedeutet jedoch eine Vergeltung der Abtretung der Gebiete nicht mit einem illusorischen Frieden, sondern mit der Garantie von Terror !
Auch wenn sich in den Gebieten nicht viel getan hat, steht fest, dass es so nicht weitergehen kann. Die Amerikaner werden ungeduldig, der Wahlkampf steht vor der Tür und wenn Bill Clinton Al Gore Schützenhilfe leisten will, braucht er einen Erfolg oder gar einen Friedensnobelpreis. Darüber hinaus hat Barak «Schulden zu begleichen» gegenüber Clinton, der ihm durch seine direkte Intervention zum Wahlsieg verholfen hat. Die israelische Linke hingegen wird es nicht mehr lange hinnehmen, dass «das Pferd aus ihrem Stall» dieselbe Politik verfolgt wie der «grosse böse» Netanyahu, der seinerseits das Land im Hinblick auf Sicherheit und wirtschaftlichen Aufschwung in einer vorbildlichen Situation zurückliess.
Welches sind denn nun Baraks Pläne abgesehen von den Erklärungen, mit denen man den westlichen Regierungen Sand in die Augen streuen will? Im Gegensatz zum verstorbenen Itzchak Rabin, der die Legitimität der jüdischen Einwohner der Golanhöhen und der Gebiete in Frage stellte, spricht Ehud Barak ihnen seine Anerkennung aus und bezeichnet sie als «Pioniere, welche die Sache Israels durch ihre Präsenz in den Gebieten damals in grossem Ausmass unterstützt haben». Der Ministerpräsident wird auch nicht die Armee damit beauftragen, die einzelnen Wohnwagen zu vertreiben, die sich auf dem einen oder anderen Hügel von Judäa-Samaria niedergelassen haben. Ehud Barak befasst sich nicht mit Kleinkram, er will dramatische, radikale, endgültige und... historische Änderungen einführen ! Offiziell wird er folglich nur «mit blutendem Herzen und zum Wohle und für die Zukunft des Staates» alle jüdischen Siedlungen der Golanhöhen und in den Gebieten, notfalls auch manu militari, räumen lassen, wenn er der Ansicht ist, ihr Verschwinden sei seinen hehren Friedensplänen mit Syrien, dem Libanon und Arafat zuträglich. Seit 1973 herrscht Ruhe an der syrischen Front, denn die Geschütze Israels sind auf Damaskus gerichtet… und morgen ? Die jüdische Bevölkerung der Gebiete ist sehr motiviert. Nach Ablauf der zutiefst negativ eingestellten Regierung Rabin-Peres hatte sie sich verdoppelt ! Heute besitzt sie wieder dieselbe konstruktive Einstellung; die Besiedlung, der Wohnungsbau und die Schaffung definitiver Gegebenheiten in den Gebieten laufen glücklicherweise wieder auf Hochtouren.
Analysieren wir nun aber den Kontext, in dem Ehud Barak vorgehen kann. Die Forderungen der Araber haben sich im Grunde zwar nicht verändert und sind gar radikaler geworden, doch der Mittlere Osten im Jahre 1999 ist keinesfalls identisch mit demjenigen von 1992 und befindet sich mitten in einer Übergangsphase. Hussein von Jordanien und Hassan II. von Marokko sind gestorben, Assad und Arafat sind krank, und es weist alles darauf hin, dass nach dem Tod Arafats innerhalb der palästinensischen Behörde der Kampf um die Macht ausbrechen wird, aus dem wahrscheinlich ein Angehöriger des „Militärs“ und nicht ein Politiker als Sieger hervorgehen wird. Jibril Rajub, Chef der palästinensischen Polizei und Terrorist, der bereits acht Jahre lang in Israel im Gefängnis sass, scheint der beste Kandidat zu sein, um die Nachfolge Arafats anzutreten. Doch der stärkste und furchteinflössendste Mann der Region ist natürlich Hosni Mubarak, der mit 71 Jahren die Geschicke Ägyptens mit eiserner Hand leitet. Er besitzt keinen eindeutig festgelegten Nachfolger, und sein Land ist nicht gegen einen islamistischen Staatsstreich gefeit. Im vergangenen April hat Ägypten Luft-Luft-Raketen gekauft, die Israel noch nicht besitzt, darüber hinaus auch 10'800 Geschosse KEW-A1 zu 120 mm für die M1A1-Panzer, die sich besser als jede andere Waffe der Welt dazu eignen, eine gepanzerte Armee zu zerstören. Ägypten hat demnach einen riesengrossen Waffenbestand erworben, und es ist doch recht unwahrscheinlich, dass es diese Neuerwerbungen gegen Libyen oder den Sudan einsetzen möchte… Lassen wir nicht ausser acht, dass ein zwanzig Jahre währender kalter Frieden das tiefe Misstrauen nicht ausradieren konnte, das zwischen der israelischen und der ägyptischen Armee existiert, und dass Ägypten auf politischer Ebene an der Spitze aller gegen Israel gerichteten Initiativen steht. Ein instabiles und hochgerüstetes Ägypten stellt demnach einen einflussreichen Faktor in der schwierigen Gleichung dar, die Ehud Barak heute lösen muss. Ist es wirklich der ideale Zeitpunkt für Israel, einseitige und nicht rückgängig zu machende Zugeständnisse einzuräumen?
Jetzt, da schwierige Zeiten anbrechen, erweist sich ein eindrücklicher Gedanke, der im jüngsten Werk von Elie Wiesel, «Les Juges», von der Figur des Yoav bemerkenswert formuliert wird, aktueller denn je: «… in Israel ist es uns, den Juden, ein Anliegen zu überleben. Ohne Verteidigungsmöglichkeit, schwach, besitzen wir keine Chance dazu: die jüngste Geschichte – unsere und Ihre Geschichte – beweist es uns. Jüdische Schwäche erregt Verachtung oder Mitleid, niemals jedoch Solidarität und noch weniger Respekt. … Natürlich beneidet man uns um unsere Stärke, doch ohne sie könnten wir nicht leben.»
Das gesamte Team von SHALOM wünscht Ihnen frohe Festtage und ein gutes Neues Jahr !
Roland S. Süssmann
Chefredakteur

In der 15. Knesset, Jerusalem 1999.