Die musikalische Sprache der Torah
Von Roland S. Süssmann
Die Lesung der Torah verkörpert einen der herausragendsten Momente des Gottesdienstes. Neben der dramatischen Intensität des eigentlichen Bibeltextes fällt dem Zuhörer eine weitere Besonderheit auf : die Präzision des musikalischen Ausdrucks, die der öffentlichen Lesung als Rhythmus unterliegt. Obwohl die Melodien in den verschiedenen Riten vollkommen unterschiedlich ausfallen, sind nämlich die Interpunktionen im Text und die musikalischen Zeichen unabhängig vom jeweiligen Gottesdienst, sei er nun aschkenasisch, sephardisch oder gar jemenitisch, streng identisch.
In Jerusalem sind wir Herrn DANIEL MEIR WEIL begegnet, der als Rabbiner, Doktor der Physik und Professor der Musikwissenschaft tätig ist und nach zehnjähriger langwieriger Forschungsarbeit ein bemerkenswertes Werk, „The Masoretic Chant of the Bible“, über die Tâamé Hamiqra veröffentlicht hat, die man in freier Übersetzung als „die musikalischen Akzente der Bibellesung“ bezeichnen könnte.

Könnten Sie uns kurz von der Herkunft und den Unterschieden berichten, welche die Tâamé Hamiqra charakterisieren?

Im Zentrum meiner Forschungsarbeiten steht die Frage nach der ursprünglichen Musik der Tâamé Hamiqra. Dieser Begriff umfasst eigentlich zwei unterschiedliche Aspekte, einen geschriebenen und einen mündlichen, der musikalischen Tradition der Juden für die Bibellesung. Die Tâamé Hamiqra sind zunächst die Zeichen für Gesang, die in der ganzen Bibel immer wieder auftauchen. Ihnen liegt die vor über einem Jahrtausend erstellte Transkription der Masoretenmeister von Tiberias (Baalé Hamesora) einer besonderen und äusserst präzisen Lesetradition zugrunde, welche sowohl die genaue Aussprache als auch die festgelegte Singweise jedes einzelnen Wortes der Bibel betraf. Diese besondere Gesangsweise war verlorengegangen - die bis heute angestellten „Dechiffrierungsversuche“ wurden von den Fachleuten als unzureichend angesehen - und mit meinem Buch wollte ich in erster Linie das Problem seiner Rekonstitution gemäss einem neuen und streng wissenschaftlichen Ansatz darlegen.
Die zweite, der Öffentlichkeit besser bekannte Bedeutung der Tâamé Hamiqra umfasst die Musik und den Gesang, die heute für die verschiedenen Lesungstraditionen typisch sind, wie sie in den unterschiedlichen Gemeinschaften überall auf der Welt ausgeübt werden. Jede Gemeinschaft liest denselben Vers der Torah auf unterschiedliche Weise, je nachdem, ob sie in Marokko, in Libyen, Deutschland oder Polen zu Hause ist ; unter Umständen variiert diese Lesart sogar innerhalb derselben Gemeinschaft. Verbindet ein gemeinsamer Grundzug diese anscheinend so verschiedenen Überlieferungen ? Auch mit dieser zweiten Frage, die in der jüdischen Musikwissenschaft ebenfalls von zentraler Bedeutung ist, befasst sich diese Untersuchung.


Die Zeichen, die Sie erwähnt haben, erschienen nicht im Sefer Torah. Wie kommt es also, dass diese uns bekannt sind ?

Es stimmt, die Tâamé Hamiqra erscheinen - wie die Vokale - nicht auf den handgeschriebenen Torah-Rollen. Man geht im allgemeinen davon aus, dass diese Zeichen im 6. oder 7. Jahrhundert auftauchten und von den Masoreten selbst geschaffen wurden. Zur Zeit des Tempels waren zwar die meisten dieser Zeichen wohl noch unbekannt, doch die Musik existierte bereits in all ihren grundlegenden Einzelheiten, wie ich in meinem Buch nachweise. Das Vorsingen der Bibel war damals Teil einer uralten mündlichen Überlieferung, so wie wir im Judentum auch das mündliche Recht neben dem geschriebenen Gesetz kennen. Die ganz genaue Bibellesung war den Leviim (Leviten) vorbehalten, die über ihre eigenen Schulen verfügten. Eine Regel besagte ausserdem, dass ein Levi erst nach fünfjährigem Studium in den Tempeldienst eintreten durfte. Ein bedeutender Teil der Ausbildung war zweifellos dem Erlernen dieser eigenartigen Tradition gewidmet, die ein sehr hochstehendes musikalisches Wissen verlangte und wahrscheinlich mündlich erfolgte. Das Volk kannte hingegen einfachere und weniger präzise Lesetraditionen, die den Kindern von klein auf beigebracht wurden : man lernte den Torah-Vers gleichzeitig mit seiner Singweise. Damals war eine schriftliche Kodifizierung daher nicht eigentlich notwendig. Das von den Masoreten eingeführte schriftliche Festhalten des Bibelgesangs stellte eher eine Gedächtnisstütze dar, denn die Melodie wurde nicht Note für Note aufgeschrieben, wie dies in den westlichen Systemen für Musiknotierung der Fall ist. Ausserdem betraf sie fast ausschliesslich die komplexe Tradition, die den Leviten eigen war. Die volkstümlichen Traditionen wurden weiterhin mündlich überliefert, bis im 10.-11. Jahrhundert eine neue Situation entstand. In dieser Epoche wurden die biblischen Kodizes, die mit Vokalen und den von den Masoreten von Tiberias entwickelten Gesangsanmerkungen versehen waren, von Gesandten in der gesamten Diaspora verbreitet und von sämtlichen jüdischen Gemeinschaften rasch angenommen. Ab diesem Zeitpunkt stellte sich für jede Gemeinschaft jeweils das schwierige Problem, ihre eigene Lesetradition mit dieser Notierung einer viel komplizierteren Überlieferung, deren musikalische Bedeutung ihnen nicht immer klar war, in Einklang zu bringen. Dies erklärt zu einem grossen Teil das sehr unterschiedliche Ausmass an Kohärenz, die heutzutage zwischen dem Gesang eines Verses und den Tâamé Hamiqra beobachtet werden kann, die in den musikalischen Gepflogenheiten der verschiedenen Gemeinschaften auftreten.


Können Sie aufgrund Ihrer Nachforschungen sagen, ob es eine Gemeinschaft gibt, die in Bezug auf die schriftliche Überlieferung der Baalé Hamesorah heute eine präzisere Lesung der Torah praktiziert als andere ?

Diese Forschungsarbeit ergibt überraschenderweise, dass keine Gemeinschaft als Siegerin hervorgeht, dass aber jede einzelne der wichtigsten Lesetraditionen der Diaspora die kanonische Tradition der Lesung unter einem anderen Aspekt weitergeführt hat, auch wenn letztere nicht mehr existiert. Das Verschwinden der musikalischen Tradition der Leviten lässt sich vor allem durch die Tatsache erklären, dass die Leviten nach der Zerstörung des Tempels über keinen natürlichen Rahmen für die Ausübung ihrer Kunst mehr verfügten. Es ist bekannt, dass die Cohanim und wahrscheinlich auch die Leviim während mehreren Jahrhunderten nach der Vernichtung des Tempels hauptsächlich in der Region von Tiberias in separaten Gruppen weiterlebten, um ihre Tradition zu bewahren und weiterzugeben, doch diese ist leider mit der Zeit verlorengegangen. Die Masoreten von Tiberias, die in ihrer minutiösen Arbeit des Zusammentragens bestimmt vom Wissen dieser Gruppen von Cohanim/Leviim profitierten, waren selbst nicht zahlreich genug und verfügten darüber hinaus im Unterschied zu den Leviten nicht über ein ausreichendes musikalisches Vorwissen, um diesen komplexen Gesang in seinem ganzen Ausmass zu beherrschen. Dies war auch in den verschiedenen jüdischen Gemeinschaften der Fall, was dadurch verstärkt wurde, dass rabbinische Verbote als Zeichen der Trauer nach der Tempelzerstörung jede musikalische Betätigung, vor allem das Spielen von Instrumenten, per se untersagten. Es ist daher nicht erstaunlich, dass keine einzige Gemeinschaft diese so präzise musikalische Tradition heute in ihrem vollen Umfang bewahrt hat.


Glauben Sie, dass die liturgische Musik nach der Zerstreuung des jüdischen Volkes infolge der Zerstörung des Zweiten Tempels, insbesondere diejenige im Zusammenhang mit der Torahlesung, unter dem Einfluss der verschiedenen Volksmusiken der Länder stand, in denen sich die Juden niederliessen ?

Es besteht kein Zweifel daran, dass jede Gemeinschaft im Laufe der Jahrhunderte von der musikalischen Kultur ihrer Umgebung beeinflusst wurde. Dadurch wurden die ehemaligen Lesetraditionen in bedeutender Weise verfälscht. Daher ist es umso erstaunlicher, dass man das Mosaik der heute bestehenden Lesegesänge mit der alten, durch die Baalé Hamesora festgehaltenen Tradition überhau
pt in einen Zusammenhang bringen kann.
Ich werde versuchen, dies etwas näher zu erläutern, ohne dabei allzu technisch zu werden. Als zentrales Resultat hat sich aus dieser Forschung ergeben, dass die besondere Tradition, welche die geschriebenen Zeichen verkörpern, um ein genau definiertes musikalisches Organisationsschema zum Ausdruck kommt, das ich „das Kettensystem“ genannt habe. Im Mittelpunkt dieses Systems steht eine durch eine Folge von „Kettengliedern“ entstandene melodische Linie ; diese Glieder hört man auf aufeinanderfolgenden Niveaus und in ihrem Umriss entsprechen sie einer absteigenden zickzackähnlichen Form, „der Kette“. In der von den Masoreten schriftlich festgehaltenen Tradition werden alle musikalischen Formeln der verschiedenen Tâamé Hamiqra, trotz ihrer Vielfalt, von dieser einzigen Kette abgeleitet, deren Glieder bei der Anhörung eines Verses gemäss genau definierten Regeln der Entwicklung aufeinanderfolgen. Die Lesung der Bibelverse stellt nach dieser Überlieferung somit eine Art unendliche Variation zum Thema der Kette dar, ohne dabei langweilig zu wirken, da eine stetige Erneuerung stattfindet. Nachdem ich diese musikalische Kette erarbeitet hatte, dank der man die Gesetze der geschriebenen Teamim nachvollziehen kann, habe ich sie mit der zahllosen Vielfalt der Lesetraditionen verglichen, die wir heute kennen. Dazu habe ich zwanzig Lesetraditionen verschiedener Gemeinschaften für die Lesung der Torah, der Haftaroth, der Megiloth und der Psalmen usw. betrachtet. Ich habe auf diese Weise darlegen können, dass zwischen ihnen trotz der krassen Unterschiede ein gemeinsamer Nenner existiert, der eben aus der latenten Einhaltung dieser berühmten „musikalischen Kette“ besteht. Die verschiedenen Traditionen verhalten sich zu dieser Kette wie die verschiedenen Dialekte zu einer gleichen Sprache. In diesem Bild erscheint die eigenartige, von den Masoreten festgehaltene Tradition wie die „aristokratische Form“ dieser Sprache, die der musikalischen „Ausdrucksweise“ der Leviten entsprach.
So stellt sich heraus, dass jede der bedeutenden Gemeinschaften trotz des Vergessens, der vergehenden Zeit und der äusseren Einflüsse letztlich auf ihre Weise einen Teil des besonderen musikalischen Erbes des Tempels bewahrt hat. Es ist geradezu erstaunlich, mit welcher Entschiedenheit es den Gemeinschaften gelungen ist, diese grundlegende Tradition aufrechtzuerhalten und weiterzugeben. Die Entwicklung der Torah-Lesung im Laufe der Jahrhunderte kann in gewisser Weise mit der Tradition der Chanukkah-Menorah (Leuchter) verglichen werden : es gibt sie in zahlreichen verschiedenen Ausführungen, welche die diversen einheimischen Kunstformen durch die Jahrhunderte hindurch stark widerspiegeln, doch grundsätzlich sind sie alle identisch. Ausserdem beziehen sich alle auf den Leuchter des Tempels, auch wenn sie sich bewusst unterscheiden. Bei den Bibelgesängen verkörpert die Tradition der Leviten ihren „Leuchter“, der sich nicht nur durch eine höhere musikalische Komplexität auszeichnete, sondern darüber hinaus durch seine absolute Fähigkeit, die Struktur des Textes durch die Musik klar hervortreten zu lassen.


Die Tâamé Hamiqra dienen demnach dem besseren Textverständnis ?

In ihrem formalen Aspekt stellen die Zeichen der Tâamé Hamiqra eine Art Kode dar, der eine sehr streng gegliederte Grammatik beinhaltet, die hauptsächlich an die Syntax des Verses gebunden ist : sie versehen den Text mit einer Interpunktion, die seine Bedeutung mit einer Präzision hervorhebt, wie dies kein anderes natürliches Punktuationssystem fertigbringt. Die Teamim sind nicht allein von der Syntax abhängig, sondern auch von der Wortstruktur. Ein bestimmtes Tâam kann sich beispielsweise je nach Anzahl der Silben vor der betonten Silbe des Wortes in ein anderes verwandeln. Dies alles zeigt, dass es sich nicht einfach um ein Punktuationssystem handelt, sondern um eine eigentliche musikalische Sprache, die ganz genauen Regeln gehorcht. Ursprünglich wurde der Phantasie des Kantors (Baal Kore) kein Freiraum gelassen, so dass hundert Personen gemeinsam einen Bibeltext „wie ein einziger Mann“ lesen konnten, wie uns ein Masorete aus dem 11. Jahrhundert überliefert hat. Für uns Forscher ist diese Strenge der Ausführung ein Segen, denn je strikter die Regeln sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass wir die Rekonstitution der Originalmusik bestätigen können.
In ihrem musikalischen Aspekt besteht eines der wichtigsten Merkmale der Tâamé Hamiqra im Vergleich zu anderen Vokalmusiken aus der Tatsache, dass sie ausschliesslich dem Text dienen. Im westlichen Rezitativ zum Beispiel wird die Musik sozusagen geopfert, und im Volkslied dominiert meist die Melodie, an welche die Worte so gut wie möglich angepasst werden. Am Ende der in meinem Buch vorgestellten Rekonstitution stellt sich heraus, dass die Musik der Tâamé Hamiqra in ihrer ursprünglichen Fassung die Besonderheit aufwies, sich ganz dem Text anzupassen, sich gar an ihn anzuschmiegen, um mit Hilfe sehr ausgetüftelter psycho-musikalischer Verfahren zu seinem Verständnis beizutragen, ohne dabei gekünstelt zu wirken. Es handelt sich ganz im Gegenteil um einen sehr melodiösen Gesang von grosser musikalischer Reinheit. Ich zögere nicht zu behaupten, dass hierin eine Besonderheit des musikalischen Genies von Israel liegt. Aus dieser Sicht vermitteln die heute bestehenden Lesegewohnheiten nur ein sehr farbloses und unvollkommenes Bild von den zugleich zweckmässigen und musikalischen Leistungen dieser alten Tradition.


Sie erzählen uns viel vom Tempel und seiner Musik. Was haben Sie im Verlauf Ihrer Nachforschungen zu diesem Thema gefunden ?

Das war zweifellos der spannendste Aspekt dieser Arbeit. Ich konnte, wie bereits erwähnt, auf der Grundlage der inneren Eigenschaften der rekonstituierten Musik sowie aufgrund äusserer Gegebenheiten zum Schluss kommen, dass diese spezielle musikalische Tradition eindeutig diejenige der Leviten gewesen war, wie sie von ihnen zur Zeit des Zweiten Tempels ausgeübt wurde. So wie auch die offizielle schriftliche Version der Torah (die „Ezrah-Rolle“) innerhalb des Tempels von Jerusalem aufbewahrt wurde, fungierten die Leviten als Wächter seines kanonischen Gesangs. In diesem Moment öffnet uns die Rekonstituierung ihrer Musik ein Fenster von unschätzbarem Wert auf eine musikalische Tradition, die man für immer verloren glaubte : den musikalischen Gottesdienst des Tempels. Dank diesem Fenster können wir, wie ich dies zeigen konnte, die Melodien der Psalmen zugänglich machen, wie sie von den Chören der Leviten im Rahmen des täglichen Ritus im Tempel gesungen wurden. Wir können heute über die Tonskala dieser Melodien, über ihre Konturen, ihre Motive, ihre Rhythmen diskutieren - alles Themen, die bis heute von einer wissenschaftlichen Unterschuchung ausgeschlossen waren. Wir könnten uns in einer nahen Zukunft gar die Möglichkeit vorstellen, der breiten Öffentlichkeit durch Tonaufnahmen die Atmosphäre nahezubringen, die durch diese heiligen Gesänge geschaffen wurde.
Dank dieser Forschungsarbeit wird es überdies möglich, andere Geheimnisse in bezug auf die Musik des Tempels zu lüften: Gemäss welchen antiphonischen Formen gaben sich die Leviten Antwort in ihren Psalmodien ? Mit welchen Instrumenten wurden die Stimmen begleitet ? Welches sind die Instrumente des offiziellen Orchesters des Tempels, die in der Mischnah genannt werden : Kinor, Nevel, Tsaltsal, Hazozrah, Halil ? Woraus bestanden sie und wie wurden sie gespielt ? Alle diese Fragen können wir auf der Grundlage neuer Resultate, zusammen mit einer detaillierten Untersuchung der traditionellen Textquellen und den modernsten Gegebenheiten der musikalischen Archäologie und der jüdischen Ethnomusikwissenschaft (ich denke insbesondere an den überraschenden Beitrag der äthiopischen Juden, der Falaschas, zu diesen Fragen der musikalischen Traditionen, die vor kurzem der westlichen Welt zugänglich gemacht wurden) mit grösserer Gewissheit angehen. Die Rätsel der musikalischen Kultur des Tempels beginnen in all ihren grundlegenden Aspekten allmählich aufgedeckt zu werden.


Welches sind heute die Konsequenzen derartiger Nachforschungen ?

Wir befinden uns im Stadium einer Untersuchung, die in all ihren Verzweigungen weitergeführt und gefestigt werden sollte. Es wird geplant, im Rahmen einer Universität ein Forschungsinstitut für die Musik des Alten Israels zu gründen, das sich mit einer Epoche befassen würde, von der wir alle Anhaltspunkte verloren glaubten. Die Studenten, die meine Kurse besuchen, kommen aus sehr unterschiedlichen Bereichen, einige besitzen eine religiöse Motivation, andere suchen den Zugang zum Judentum über die Musik oder studieren Musikwissenschaft. Auf einer weiteren Ebene bin ich überzeugt, dass der Zugang zu einem reichen, authentischen und besonderen musikalischen Erbe das gesamte jüdische Volk und nicht nur die Fachleute interessieren wird. Ein anderer Aspekt beschäftigt zahlreiche Forscher, nämlich die Frage, in welchem Ausmass die Musik des Tempels den christlichen Gesang und die westliche Musik im allgemeinen beeinflusst hat. So wie die Theologen sich heute für die jüdischen Wurzeln der christlichen Überlieferungen oder gar der christlichen Religion interessieren, richtet sich die Forschung auf eine Untersuchung der Ursprünge der musikalischen Aspekte in diesen Traditionen aus.


Sprechen wir ein wenig von Ihnen. Können Sie uns erklären, wie und warum ein hochkarätiger Wissenschaftler beschliesst, sein berufliches Leben dem Studium der jüdischen Musikkultur zu widmen ?

Zu Beginn ahnte ich nicht, dass eine Beziehung zwischen den drei Studienrichtungen bestand, die ich eingeschlagen hatte, zwischen der wissenschaftlichen Forschung, da ich einen Doktortitel in Physik besitze und im Bereich der Astrophysik an der Universität von Princeton und der Hebräischen Univeristät von Jerusalem geforscht habe; dem Rabbinat, wo ich eine „Smicha“ (rabbinisches Diplom) des Oberrabbinats von Israel erhalten habe; und schliesslich der Musikwissenschaft, da ich mit einem Diplom von der Rubin Academy of Music von Jerusalem abging. Mir wurde bewusst, dass die Teâmim die Besonderheit aufweisen, alle Bereiche zu berühren, die ich studiert habe. Es handelt sich in der Tat um ein sehr strenges, mit einer inneren Logik versehenes musikalisches System, das den Gesetzen der Halacha (jüdisches Recht) unterworfen ist. Ausserdem stellte sich heraus, dass das Problem der Rekonstitutierung dieser Musik nur mit einer Methode bewältigt werden konnte, das sich an die fortschrittlichste moderne Physik anlehnt, welche die bekannten Daten, in unserem Fall die musikalischen Traditionen der Tâamé Hamiqra, nur dazu benutzt, eine zu Beginn erstellte Hypothese zu bestätigen. Meine wissenschaftliche Ausbildung wirkt sich auf gewisse Weise positiv auf meine gesamte musikalische Forschung aus.
Abschliessend möchte ich sagen, dass eine letzte Konsequenz meiner Arbeit darin bestünde, die Tradition der Leviim wieder aufleben zu lassen, indem langfristig ein Seminar gegründet würde, eine Art musikalischer Yeschiwah. Zweck einer solchen Institution wäre es, den Leviim und jedem an diesem Thema interessierten Laien das Studium dieser besonderen Traditionen, natürlich mit dem Schwerpunkt Musik, aber auch in anderen Bereichen der jüdischen Gesetzgebung in diesem Zusammenhang zu ermöglichen, … um auf alles gefasst zu sein !