Vermittlung des Judentums
Von Roland S. Süssmann
An Pessach feiern wir die Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei, aber vor allem den Zusammenschluss des jüdischen Volkes sowohl auf individueller als auch auf nationaler Ebene zu einer freien und unabhängigen Nation. In Jerusalem haben wir mit einer herausragenden rabbinischen Persönlichkeit unserer Zeit gesprochen, mit dem sephardischen Oberrabbiner Israels, Harischon Letzion, ELYAHU BAKSHI DORON, um uns die immerwährende Aktualität dieses in unserem Kalender so bedeutenden Festes zu erläutern.


Viele Menschen gehen davon aus, dass Pessach nach dem Sederabend sozusagen «abgeschlossen» ist. Glauben Sie nicht, dass heute eine gewisse Lockerung der Traditionen und Gebräuche rund um Pessach angebracht wäre, obwohl jeder Jude aus der Sicht der Halachah eigentlich gehalten ist, Pessach während einer Woche zu feiern ?

Nein, denn die Torah und ihre Gesetze wurden uns von G’tt für die Ewigkeit gegeben und es ist nicht an uns, sie abzuändern. Einer der grossen Vorzüge und eine Besonderheit der jüdischen Religion liegt ja gerade darin, dass sie zwar unabänderlich ist, aber dennoch aktuell bleibt und allen Anforderungen jeder Epoche gerecht wird.


Welches ist in diesem Sinne die Botschaft von Pessach 5759, das ja dieses Jahr mit dem Jubiläumsjahr des jüdischen Staates zusammenfällt ?

Pessach betrifft als Fest die eigentliche Grundlage unseres Glaubens. Bei dieser Gelegenheit, am Sederabend, geben wir an unsere Kinder das Judentum, die Torah und den Glauben weiter, denn alle diese Elemente entspringen aus der Flucht aus Ägypten, da das jüdische Volk im Verlauf dieses Ereignisses wirklich entstanden ist. Die Schaffung und die Wiedergeburt des Staates Israel haben durchaus ihren Platz im Geist und in der tieferen Bedeutung des Pessachfestes. So will es die Tradition während des Seders, dass wir vier Gläser Wein (oder Traubensaft für die Kinder) trinken, was den vier Etappen des Befreiungsprozesses des jüdischen Volkes entspricht, wie es der Allmächtige Moses bei der Ankündigung der Befreiung aus der ägyptischen Gefangenschaft folgendermassen angekündigt hatte : «… Ich will euch wegführen von den Lasten, die euch die Ägypter auflegen (…VeHotzeti …), und will euch erretten von eurem Frondienst (…VeHitzalti …) und will euch erlösen (…WeGaalti …) mit ausgerecktem Arm. » (Exodus VI, 6). Es folgt unmittelbar der Satz, der die vierte Phase des Prozesses angibt und lautet : « Ich will euch annehmen zu meinem Volk - WeLakachti etchem li Leam. » (Exodus VI, 7). Diese letzte Versprechung betrifft direkt die Wiederauferstehung des hebräischen Staates, die eine zusätzliche Etappe zur Befreiung und endgültigen Erlösung darstellt, die im selben Satz angekündigt wird : «…und will euer G’tt sein, dass ihr’s erfahren sollt, dass ich der Herr bin. » Es besteht demnach kein Zweifel daran, dass eine sehr enge Beziehung existiert zwischen dem Pessachfest, dem jüdischen Volk und Eretz Israel.

Obwohl der Geist von Pessach und seine tiefgreifende Bedeutung sowohl für den Einzelnen als auch für den Staat verständlich und logisch sind und dem gesunden Menschenverstand einleuchten, bleiben doch alle Gebräuche um Pessach herum, das Reinigen der Wohnungen, der Verzicht auf bestimmte Nahrungsmittel während einer Woche usw. oft schwer verständlich oder einsehbar. Denken Sie, dass genügend erzieherische und erklärende Anstrengungen unternommen werden, um die Schwierigkeiten im Umfeld des Festes besser verständlich zu machen ?

Die Torah hat uns eine Reihe von besonderen Vorschriften namens «Mitsvoth Maasioth» gegeben. Es handelt sich um Gebote, deren Verständnis durch ihre Ausführung erleichtert und verstärkt wird. Dies trifft ganz besonders auf Pessach zu. Wie ich bereits sagte, übertragen wir im Verlaufe des Seders unseren Glauben an unsere Kinder. Aufgrund der Bedeutung dieser Tatsache hat uns die Torah vorgeschrieben, uns während dieser so wichtigen Handlung des Übertragens mit möglichst vielen Traditionen und Symbolen zu umgeben. So reinigen wir beispielsweise vor dem Fest das Haus gründlich von oben bis unten, so essen wir während der Feierlichkeiten ungesäuertes Brot und bittere Kräuter usw. Je mehr wir tun, desto grösser ist unsere innige Beziehung zum Fest. Es ist übrigens kein Zufall, dass alle diese Handlungen im Rahmen der Familie stattfinden, denn sie erlauben es den Kindern, aufnahmefähiger für die Botschaft der Übertragung von Glauben, Torah und Judentum zu werden, die Pflicht des Vaters ist. Es wird alles unternommen, um eine entsprechende Atmosphäre zu schaffen, damit die Kinder während sieben Tagen besonders empfänglich werden für das, was der Vater ihnen sagen und weitergeben soll.
Auf die Frage, ob heute ausreichende erzieherische Anstrengungen gemacht werden, um unseren Zeitgenossen dies alles verständlich zu machen und nahezubringen, möchte ich Ihnen folgendermassen antworten. Der einzige Weg, die Botschaft zu vermitteln, besteht aus der direkten Handlung zu Hause und im Kreise der Familie. Keine noch so schöne Rede kann das Verlangen wecken, alles auf sich zu nehmen, was leider oft fälschlicherweise als die «lästigen Pflichten von Pessach» bezeichnet wird. Nur durch Taten und durch die direkte Beteiligung der Kinder können der Geist von Pessach und die Bedeutung seines erzieherischen Wertes erfasst werden. Wenn Sie die Frage den Menschen stellen, die in ihrer Kindheit die ganze Aufregung rund um Pessach gekannt haben, werden diese Ihnen sagen, wie intensiv sie das Fest damals erlebt und empfunden haben und wie sehr das Feiern von Pessach in dieser Art eine tiefe und wichtige Familienerfahrung darstellt. In Bezug auf die erzieherische Anstrengung lehrt uns die Torah überdies sehr eindeutig, wie die Dinge jedem Kind je nach seinem Charakter zu erklären sind, das sich mit Fragen an uns wendet : dem braven, dem bösen, dem einfachen und demjenigen Kind, das keine Fragen zu stellen weiss. Es handelt sich um eine genaue Anweisung, die uns sagt, wie das Judentum in jeder Familie, für jedes Kind und jederzeit eingeführt und weitergegeben werden kann. Jedes einzelne Element des Sedermahles und des gesamten Festes erlaubt es uns, uns besser und direkter sowohl mit der Befreiung aus der Sklaverei als auch mit dem Geist und der Botschaft von Pessach zu identifizieren.

Sie haben von den vier Charakteren gesprochen, die in der Torah beschrieben werden, und wie das Judentum an sie vermittelt werden soll. Glauben Sie nicht, dass die meisten unserer Zeitgenossen der vierten Figur am nächsten stehen, die keine Fragen zu stellen weiss, und weniger der zweiten, dem bösen Kind ?

Was den zweiten Sohn angeht, bin ich der Meinung, dass es unsere Pflicht ist, auch wenn er respektlos und abtrünnig ist und über den jüdischen Glauben spottet, alles zu unternehmen, um ihn dem Judentum näher zu bringen und ihm in einer einfachen und ihm eigenen Sprache begreiflich zu machen, dass auch er Teil des jüdischen Volkes ist, und dass er, wie jeder von uns, allen Rechten und Geboten unterstellt ist.
Ihre Frage betreffend muss ich leider feststellen, dass ein grosser Teil unseres Volkes über ein sehr ungenügendes jüdisches Wissen verfügt. Bestimmte religiöse Gewohnheiten sind zwar bekannt, doch die Grundlagen, das Fundament, fehlen vollständig. In Bezug auf diese Menschen, die sich, wie Sie betonen, in der Situation der vierten Figur befinden, sagt uns die Torah : «At Petach Lo - Du wirst es übernehmen, ihn zu unterrichten». Dies betrifft nicht nur Pessach oder den Sederabend. Wenn heute ein Jude irgendwo auf der Welt an Israel denkt, kommen ihm zunächst die politischen und wirtschaftlichen Probleme und die Sicherheitsfragen des Landes in den Sinn. Wir erleben meiner Ansicht nach eine Tragödie infolge des mangelnden Wissens und der fehlenden jüdischen Kenntnisse. Dies führt dazu, dass wir einen guten Teil unseres Volkes verlieren, da es ernsthaft in die Falle der Assimilierung geht.

Wer wäre denn dafür zuständig, diesem schrecklichen Ausbluten durch die Assimilierung Einhalt zu gebieten ?

Das Pessachfest und vor allem die Sederfeier lehren uns, dass die erste Pflicht des Vaters die Weitergabe des Judentums ist. Es ist an ihm, vor allem, wenn er das nötige Wissen besitzt, seinen Kindern das Judentum beizubringen. Jeder Vater ist demnach verpflichtet, mindestens das weiterzuvermitteln, was seine Eltern ihn gelehrt haben. Leider können wir uns nicht mehr ausschliesslich auf diese Vermittlung des Wissens abstützen und es besteht kein Zweifel, dass es die Aufgabe der Rabbiner ist, die Torah bekanntzumachen. Wo auch immer ich hingehe, treffe ich mit den Verantwortlichen der Gemeinden zusammen und erkläre ihnen, das ausschlaggebende Element ihrer Gemeinschaft sei weder ihr Umfang oder die reiche Ausstattung der Synagoge noch der Status ihrer Gemeinde gegenüber den lokalen Behörden, sondern der kleine Talmud Torah, die jüdische Schule und die jüdische Wissensvermittlung. Ohne sie gebe es keine Zukunft, und morgen werde vielleicht niemand mehr dasein, um ihrer schönen Synagoge vorzustehen, auf die sie so stolz sind. Ich gehe noch weiter. Ich denke, dass der Staat Israel in diesem Bereich eine Verantwortung gegenüber der Diaspora besitzt. Es ist seine Pflicht, Lehrer und Rabbiner auszusenden, eventuell Schulen zu gründen usw. Angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Lage, in der wir uns befinden, mag die Forderung absurd erscheinen, in die jüdische Erziehung der Diaspora zu investieren. Doch es handelt sich um eine Investition in die Zukunft des Staates Israel. Wenn wir eine starke Diaspora beibehalten wollen, die Israel weiterhin unterstützen kann, sei es finanziell oder durch politische Lobbys, kann dies morgen nur durch eine Verstärkung der jüdischen Ausbildung in der Welt gewährleistet werden. Ich bin daher überzeugt, dass Israel sich im Bereich der jüdischen Erziehung als das Zentrum der Welt ansehen muss. Für eine erfolgreiche Umsetzung müsste ein Ministerium gegründet werden, das für die Beziehungen zur Diaspora zuständig und dessen Hauptaufgabe die Förderung und Verstärkung der jüdischen Erziehung überall auf der Welt wäre. Denken wir daran, dass die Assmilierung in einigen Ländern heute 80% erreicht, was wirklich einer Notsituation entspricht, obwohl wir in bestimmten Ländern in geringem Ausmass ein beginnendes Bewusstsein miterleben. Doch dies reicht natürlich bei weitem nicht aus.

Zahlreiche Gläubige stellen sich die Frage, warum es notwendig ist, den zweiten Feiertag in der Diaspora aufrechtzuerhalten. Wäre es nicht möglich, eine internationale Rabbinerkonferenz einzuberufen, dank der dieser besagte «zweite Tag» aufgehoben werden könnte ?

Mir ist dieses Problem wohlbekannt. Doch auch hier bekräftige ich, dass die Macht unserer Torah, unserer Gesetzgebung und unserer Traditionen in der Tatsache liegt, dass diese unerschütterlich feststehen. Die Geschichte hat uns gezeigt, dass die Menschen, die etwas zu verändern versuchten, letztendlich unserem Erbe nicht treu geblieben sind : dieses ist beständig geblieben, jene haben sich verändert … und nicht zu ihrem Besten. Darüber hinaus denke ich, dass dieser zusätzliche Tag, der einigen «falsch oder überholt» zu sein scheint, eigentlich beweist, um wieviel einfacher und besser das Leben als Jude in Israel ist. Wenn jemand diesen besagten zweiten Tag wirklich loswerden will, bietet ihm die Halacha eine einfache Lösung an : er hat sich nur in Israel niederzulassen.

Würden Sie uns abschliessend die Ehre erweisen, den Lesern von SHALOM eine persönliche Botschaft zu Pessach zukommen zu lassen ?

Pessach ist das Fest des Glaubens, in deren Verlauf jeder jüdische Vater die Pflicht hat, seinen Kindern die Flucht aus Ägypten zu erzählen. Rein technisch bedeutet das, dass wir die Haggadah lesen, Matzoth essen und einen angenehmen Abend verbringen. Doch an diesem Tag sollte man spüren, dass der Seder das Symbol der Vermittlung des Judentums darstellt. Diese Pflicht beschränkt sich natürlich nicht auf die Sederfeier. Durch die Jahrhunderte hindurch hat das jüdische Volk zahlreiche physische und wirtschaftliche Schwierigkeiten erfahren, doch es ist ihm immer gelungen, das Judentum unter allen Umständen aufrechtzuerhalten und weiterzugeben. Heute stehen wir vor allem in der Diaspora vor einer grossen Gefahr, dass nämlich die Enkel unserer Generation nicht jüdisch bleiben. Ich appelliere hiermit an jeden jüdischen Vater, dass er sich nach allen Kräften bemüht, die jüdische Erziehung und Ausbildung seiner Kinder möglichst zu verstärken. Die Verantwortlichen der Gemeinden bitte ich hingegen inständig, sich nicht damit zu begnügen, das Judentum nur am Sonntag ausserhalb der allgemeinen Schulbildung zu verbreiten, sondern ein System der täglichen Unterweisung in das jüdische Wissen einzurichten.
Dies ist die grundlegende Botschaft für Pessach, und ich wünsche, dass jeder jüdische Vater dieses Ziel anlässlich des nächsten Seders vor Augen haben wird.
Chag Pessach Kascher Wesameach !