Leben und leben lassen
Von Roland S. Süssmann
Wir sind losgezogen, die wohl meistgehasste Gruppe der israelischen Gesellschaft kennenzulernen. Es geht dabei weder um Kriminelle noch um Terroristen, sondern um Männer und Frauen, die innerhalb des jüdischen Volkes in Israel, aber auch in der Diaspora, den grössten Bevölkerungsanstieg zu verzeichnen haben: die ultra-orthodoxe und chassidische Gemeinschaft. Genau, diese bärtigen Männer mit schwarzen Hüten und "Steimels", auf die man anklägerisch mit dem Finger weist, um die Karikatur des "provokanten Orthodoxen" zu bezeichnen, den Sand im Getriebe, diesen Juden, mit dem sich viele von uns nicht identifizieren wollen. Wir haben nicht die Absicht, diese sehr geschlossene, praktisch in Autarkie lebende Gemeinschaft zu beschreiben, wir möchten nur eines ihrer diskretesten und unbekanntesten, jedoch extrem mächtigen internen Elemente vorstellen.
Es wird im Volksmund "Mischmeret Hatzniuth" genannt, die "Überwachung der Moralität", doch man hätte ihm den Namen "geistige Polizei" geben sollen. Diese "Polizei", die natürlich nichts mit der staatlichen Polizei zu tun hat, trägt eigentlich den offiziellen Namen "Haagudah LeMaan Tohar Hamachane" (Organ für die Reinheit des Lagers). Es ist eine offiziell eingetragene und vom Innenministerium des Staates Israel anerkannte Organisation ohne Erwerbszweck. Die Tatsache, dass sie in der gesamten ultra-orthodoxen Welt einstimmig befürwortet wird, besitzt höchsten Seltenheitswert. Es handelt sich keinesfalls um einen bescheidenen Zusammenschluss von Privatleuten, die das Gesetz in die eigene Hand nehmen; alle ihre Handlungen und Aktionen finden im Rahmen der israelischen Gesetzgebung statt.
Ihre Führungspersönlichkeiten treffen nie mit Journalisten zusammen und erscheinen nicht in der Öffentlichkeit. Erst nach langwierigen Verhandlungen und geheimen Gesprächen konnten wir eine Begegnung mit zwei ihrer Verantwortlichen vereinbaren, einem Chassid von Satmar (Neture Karta) und einem Chassid von Gur. Sie haben in das Gespräch unter der Bedingung eingewilligt, dass weder ihr Name noch ihr Foto veröffentlicht werden !
Wir wurden also sehr nett in einer einfachen und schlichten Wohnung in Jerusalem, mitten in Mea Schearim, bei einem von ihnen daheim empfangen, dem Vater von zwölf Kindern. Die Wände seines "Büros", das ausserdem als Studierzimmer, Wohnstube und Esszimmer dient, sind mit Regalen voller heiliger Bücher bedeckt. Sofort nach unserer Ankunft schloss er die Tür und zog einen schweren schwarzen Vorhang davor, damit kein Wort unseres Gespächs nach aussen dränge. Ich erhaschte dennoch einen Blick auf seine Frau und einige seiner Töchter, die diskret in der Küche geblieben waren und aufmerksam lauschten, sichtlich daran gewöhnt Dinge zu hören, die eigentlich nicht für ihre Ohren bestimmt sind...
Die "geistige Polizei" ist natürlich nicht wie eine normale Stadtpolizei aufgebaut. Es handelt sich um eine ideologische Aktion, die ihre Handlungen mit einem Bibelwort rechtfertigt: "... deines Lagers, um dich zu retten und deine Feinde vor dir dahinzugeben. Darum soll dein Lager heilig sein, dass nichts Schändliches unter dir gesehen werde und er sich von dir wende" (Deuteronomium 23.15). Dies heisst mit anderen Worten, dass das jüdische Volk im allgemeinen und Israel im besonderen nur dann den göttlichen Schutz geniessen können, wenn die Juden Moral und Anstand an den Tag legen, was eine moralische Überwachung notwendig macht. Zwischen dieser Überlegung und der Schaffung einer privaten Kontrollorganisation liegt ein Schritt, der uns vielleicht nicht einleuchtend erscheint. Doch wir schreiben eine Reportage... und halten nicht Gericht. Die eigentliche Aktion findet sowohl auf allgemeiner und nationaler, als auch auf individueller Ebene statt. Die Chassidim möchten nicht ganz Israel in ein "Super Mea Schearim" verwandeln, möchten je nach Umständen und Ort aber ein Minimum an Anstand gewährleistet wissen. Eine Frau, die in Mea Schearim in einem ärmellosen T-Shirt spazierengeht, wird als "provozierend oder unanständig" gelten, während sie andernorts als "bedeckt" angesehen würde, an einem gemischten Strand beispielsweise. Ohne ihre Lebens- und Handlungsweise anderen aufdrängen zu wollen, möchten sie sich in ihrem Milieu und ihrem Rahmen bewegen können, ohne von äusseren, von ihnen als beleidigend empfundenen Elementen belästigt zu werden. Ein weiteres Problem beschäftigt sie, nämlich die Werbeplakate. Sie möchten im Land herumreisen können, ohne ständig von Reklamen oder Slogans umgeben zu sein, die sie als aggressiv bezeichnen und ihrer Ansicht nach nicht mit der jüdischen Moral zu vereinbaren sind. Vor ungefähr zehn Jahren, als Plakate mit spärlich bekleideten weiblichen Körpern an den Autobusstationen von Jerusalem auftauchten, begannen sie mit einer direkten Aktion, indem sie Kommandos von Jugendlichen beauftragten, die "entblössten" Körperteile schwarz zu übermalen. Es kam übrigens zu einigen Ausschreitungen, da ein paar erregte junge Leute Busstationen anzündeten. Sie wurden von der städtischen Polizei verhaftet, von der chassidischen Gemeinschaft aber nicht unterstützt. Als ich einen unserer Gesprächspartner darauf hinwies, sagte er: "Wir gehen davon aus, dass wir im Heiligen Land leben, im Land des Herrn, dessen gesamtes Territorium geheiligt ist. Nehmen wir an, eine Frau geht in derselben Aufmachung wie das Modell auf dem Werbefoto in eine Synagoge, selbst eine liberale, oder in eine Kirche, man würde sie unverzüglich bitten sich zu bedecken." Doch die Aktion der "geistigen Polizei" beschränkt sich nicht auf diese direkten Eingriffe. Man darf nicht vergessen, dass die orthodoxe und ultra-orthodoxe Bevölkerung in Israel eine riesige wirtschaftliche Macht darstellt. Jeden Freitag geben ihre Mitglieder für die Schabbatvorbereitungen Millionen von Dollar für Nahrungsmittel, Blumen, Transport usw. aus. Die Verantwortlichen dieser Gemeinschaft haben demnach einfach das Gesetz des Marktes ausgenutzt. Sie haben sich zunächst an die Gesellschaft gewandt, welche die Exklusivrechte für das Aushängen von Werbung an den Busstationen Israels besitzt, und baten sie, diese Art von Plakaten nicht mehr zu akzeptieren. Die Firma lehnte dies ab. Die Chassidim sprachen daraufhin mit der Nahrungsmittelfirma, welche die Plakate für den Verkauf ihrer Produkte geschaffen hatte. Zu Beginn machte diese sich voller Arroganz und in der Gewissheit ihrer Macht über die Chassidim lustig, doch als der Boykott ihrer Nahrungsmittel sich spürbar auswirkte, änderte sich plötzlich der Ton. Der Chassid von Satmar drückte sich auf Jiddisch sehr blumig aus: "Wenn es hot gequetscht di Keshene... hot der business gered !!!" (Als die Tasche zu kneifen begann, konnten wir über Geschäfte reden !) Dazu muss aber betont werden, dass die "geistige Polizei" auf jede gewaltsame Aktion und jede Anwendung physischer Gewalt streng verzichtet. Alles erfolgt über Erklärungen, deren Logik in der jüdischen Religion und ihrer Interpretation zu finden sind, sowie über einen bestimmten sanften, aber entschlossenen wirtschaftlichen Druck. Auf das Argument eines Nahrungsmittelverkäufers: "Für den Verkauf meiner Ware mache ich die Werbung, die MIR gefällt," antworten die Chassidim: "Durchaus einverstanden, aber keiner von UNS wird deine Produkte kaufen !" Dieses Machtspiel kommt oft in einem Boykottaufruf (dem immer Folge geleistet wird) in bezug auf ein Produkt oder ein Geschäft über die Presse oder über Plakate konkret zum Ausdruck, die überall in den orthodoxen Quartieren aufgehängt werden. Diese Plakate stellen übrigens eines der grössten und wirksamsten Kommunikationsmittel dar, das innerhalb von Mea Schearim und Bne Berak eingesetzt wird, und verkörpern somit den wichtigsten Posten im Budget der Organisation.
Eine der Hauptdevisen der Organisation lautet: "In Würde leben und in Würde leben lassen". Neben der Tatsache, den Mitgliedern dieser Gemeinschaft ein Leben "in Würde" zu ermöglichen, geht es für die Anführer von "Agudah LeMaan Tohar Hamachane" auch darum, der nicht frommen Welt den Geist, die Motivation und die Ziele der chassidischen Gemeinschaft verständlich zu machen. Ihre Mitglieder sind bereit, zu diesem Zweck grosse finanzielle Anstrengungen zu unternehmen. Ein Beispiel unter vielen anderen veranschaulicht diese Realität sehr gut. Im Sommer wünschen zahlreiche chassidische Familien, wie alle anderen im Meer baden zu können oder am Strand an der Sonne zu liegen. Dieser simple Wunsch wird ihnen dadurch oft unmöglich gemacht, da die meisten Strände gemischt sind. Die Organisation hat die finanziellen Mittel zusammengetragen, um getrennte Strände zu schaffen, an denen ihre Mitglieder ebenfalls von den Wohltaten des Sommers profitieren können. Neben den Kosten für die Einrichtung verlangt dieser Schritt viel guten Willen seitens der Badeorte, da es nicht immer selbstverständlich ist, dass ein Bürgermeister oder ein Stadtrat sich mit der Umgestaltung einer der Strände einverstanden erklärt. Ich möchte hervorheben, dass alle Mitglieder der Organisation freiwillig mitarbeiten und ihnen nur die tatsächlichen Kosten zurückerstattet werden.
Die "Agudah LeMaan Tohar Hamachane" hat ihre Aktivitäten in verschiedene Sektionen aufgeteilt. Eine von ihnen kümmert sich um Familienfragen. Sobald ernsthafte Probleme auftreten, greifen bestimmte Rabbiner, Mitglieder der Organisation, ein und sprechen mit den Beteiligten, um die Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen. Es handelt sich immer um heikle und komplizierte Probleme, doch da die Betroffenen sich auf eine Lebensweise im Sinne und nach den Regeln der Torah berufen, spielt die Autorität des Rabbiners im allgemeinen eine sehr wichtige Rolle, und oft reicht das Eingreifen eines Rabbiners aus, um der Lösung einen Schritt näher zu kommen. Interessanterweise reicht die Trennung zwischen Männern und Frauen sehr weit, denn ein Zweig der Organisation ist ganz den Frauen gewidmet. Sie kommen dann zum Einsatz, wenn im weiblichen Bereich Probleme auftreten. Ist die Entscheidung oder der Rat eines Rabbiners erforderlich, wird die Frage von einem Mann dem Rabbiner unterbreitet, der eine schriftliche Antwort gibt.

Abschliessend muss ich zugeben, dass ich vor dem Gespräch erwartet hatte, einer Art "Mullah-Weltverbesserer und Rächer" (jüdischen Zuschnitts) gegenüberzusitzen, wie sie im Iran und in den arabischen Ländern ihr Unwesen treiben. Ich bin aber offenen, herzlichen, verständnisvollen, aufgeschlossenen Menschen begegnet, die sich der Wirklichkeit und der grossen Probleme des 20. Jahrhunderts durchaus bewusst sind. Diese Männer werden von einem Glauben beseelt, der sich in ihrem Alltag in eine Disziplin verwandelt, die auch von ihrer eigenen Umgebung respektiert werden soll, wobei sie diese gleichzeitig vor den Versuchungen einer oft zu nachlässigen Gesellschaft zu schützen versuchen. Als Realisten wissen sie sehr wohl, dass der Mensch sowohl in ihrer Gemeinschaft als auch anderswo schwach sein kann. Sie fühlen sich den anderen nicht überlegen, sondern sind einfach anders und möchten als solche respektiert werden.