Yiddischkeit
Von Roland S. Süssmann
Als ich eines Abends vor der Galerie George V. an der Avenue King George, dieser lärmigen und abgasgeschwängerten Hauptverkehrsader von Jerusalem, entlangging, sah ich zum ersten Mal ein Werk von HENRI ZVI SILBERSTEIN. Die Kraft und der zugleich moderne und nostalgische Charakter sowie der innere Reichtum und die Ausstrahlung, die von seinen Gemälden ausgehen, haben mich sofort in ihren Bann gezogen.
Ich gebe zu, dass ich nach den ersten Momenten, die ich mit Zvi Silberstein verbrachte, ziemlich perplex war. Ich lernte einen echten "liebenswürdigen Pariser Schlingel" kennen, ein wenig angeberisch, doch herzlich und sehr sympathisch, der sich in französischer Sprache mit dem Akzent seines Heimatquartiers Vaugirard ausdrückte und - welch Überraschung ! - grossen Gefallen daran fand, Jiddisch zu sprechen. Diese Sprache, die ihm sein Vater erst gegen Ende seines Lebens beibrachte, verkörpert für ihn das Bindeglied zum Judentum, das seine jüdische Identität prägt. Er spart sie sich übrigens für private Gespräche mit seinen besten Freunden auf. Da mag es also nicht erstaunen, wenn dieser "junge" Maler, der vor kurzem sein 70. Lebensjahr erreichte, seine erste Serie von 17 Gemälden und sein Album mit Lithographien "Yiddischkeit" genannt hat. Dieser bedeutungsvolle und unübersetzbare Begriff erfasst machtvoll das jüdische Wesen, seine Denk- und Lebensweise, seine Art zu handeln, zu reagieren und zu überlegen. Die Familiengeschichte von Zvi Silberstein kann selbstverständlich nicht in wenigen Zeilen wiedergegeben werden. Seine Eltern, die sich vor dem Ersten Weltkrieg in Paris niederliessen, waren voll und ganz assimiliert. Seine Mutter wurde 19 Tage vor der Befreiung von Paris deportiert. Sie war zusammen mit 107 Kindern an der Rue Secrétan verhaftet worden, wo sie in einer jüdischen Schule unterrichtete; keines von ihnen ist je zurückgekommen. Zvis Vater hat hingegen in Paris überlebt und wurde am 25. Februar 1981 im Alter von 92 Jahren von einigen Kriminellen zu Hause ermordet. Mit 65 Jahren hatte er mit der Bildhauerei und der Gestaltung von jüdischen Kultgegenständen, wie Channukioth, Torah-Kronen, Mesusoth und Menoroth, begonnen.
Zvi Silberstein ist ein Veteran des Zweiten Weltkriegs - er diente in Marokko in der Ersten Französischen Armee -, machte seine Alijah 1947 und nahm 1948 am Unabhängigkeitskrieg teil. Nach Beendigung der Kämpfe lebte er fünf Jahre lang im Kibbuz Hulata, wo er als Fischer und Lastwagenfahrer arbeitete. 1952 liess er sich als Modellbauer und Innenarchitekt in Tel Aviv nieder, wobei er in beiden Berufen Karriere machte, bevor er sie wieder aufgab und sich Ende 1995 der Malerei zuwandte. Beim Betrachten Ihrer Bilder hat man den Eindruck, Sie würden ein wenig dem Vorgehen von Roman Vishniac folgen, der in seinen berühmten Bänden mit Schwarzweiss-Fotos das "Schtetl" und eine ganze versunkene Welt wieder aufleben lässt. Sie haben diese Zeit aber nicht selbst erlebt. Wie gehen Sie also vor ?

Es stimmt, dass ich persönlich nie im "Yiddischland", wie ich es nennen möchte, gelebt habe, in dieser Welt, in der das Buch alles beherrschte, in der Armut mit Würde gleichzusetzen war, in der die jüdischen Ideologien, wie der Zionismus, der Bundismus oder auch der Chassidismus in voller Blüte standen, und in der das Wissen, das Lernen jeden Menschen adelte. Ich bedaure, diese Welt nie gekannt zu haben, doch mein verstorbener Vater, ein phantastischer Erzähler, hat mir von seinem "Schtetl" berichtet und es ist mir durch seine Geschichten so nahe gekommen, als hätte ich selbst dort gelebt. Meine Werke tragen übrigens alle einen jiddischen Titel.


Ihr Wunsch, eine versunkene Welt wiederauferstehen zu lassen ist einleuchtend, doch wie wählen Sie Ihre Themen und Motive aus ?

Die Personen, die ich abbilde, sind keine Produkte meiner Phantasie und entstammen auch nicht den Geschichten meines Vaters. In Wirklichkeit ist es viel einfacher. Ich fahre regelmässig nach Bne Brak und nach Jerusalem in das Quartier von Mea Schearim, wo ich Männer und Frauen auf der Strasse fotografiere. Anschliessend skizziere ich diese Figuren und integriere sie in Collagen mit jiddischen Zeitungen. Nach dem Tod meines Vaters habe ich Fotos von ihm und seiner Familie gefunden, die vor seiner Niederlassung in Frankreich entstanden waren. Ich habe beschlossen, diese Fotos als Skizzen in einer neuen Serie von fünf Bildern zu reproduzieren, die gegenwärtig in Arbeit ist.


Wie sieht Ihre Arbeitstechnik aus ?

Zuerst male ich meine Figuren, dann nehme ich Transparentpapier, auf dem ich ihre äussere Form umreisse, und schliesslich klebe ich die jiddischen Zeitungsausschnitte und andere Elemente auf, die ich in die Collage integrieren möchte.


Welches sind Ihre Zukunftspläne ?

Vor kurzem hat eine grosse Ausstellung meiner Werke in der Rue des Rosiers, dem berühmten "Plätzl" von Paris stattgefunden, die recht erfolgreich war, und nun bereite ich meine nächste Ausstellung vor, die im Februar 1998 in New York organisiert wird. In der Zukunft werde ich selbstverständlich mit dem Malen fortfahren, denn nach jüdischer Überlieferung habe ich noch 50 schöne Jahre vor mir. Ein jiddisches Sprichwort sagt, dass ich bis jetzt erst den einfachen Teil meines Lebens bewältigt habe; es lautet nämlich: "Die ersten 70 Juhr sennen nich schwer...". In diesem Sinne packe ich die neue Aufgabe an, die ich mir gestellt habe, und stürze mich als Abenteurer, der ich in meinem Herzen bin, in das neue Unterfangen.