Kontinuität im Rahmen der Veränderung
Von Roland S. Süssmann
"THE SHUL" - die Synagoge. Unter dieser zugleich einfachen und bedeutungsvollen Bezeichnung werden die zahlreichen, von Rabbiner SHLOMO D. LIPSKAR in Miami geleiteten Aktivitäten zusammengefasst. Wie dem Namen bereits zu entnehmen ist, handelt es sich bei "The Shul" um eine herrliche, in einem eigenartigen Stil erbaute und eingerichtete Synagoge, die an die während des Zweiten Weltkriegs von den Deutschen und ihren Verbündeten in Osteuropa zerstörten Synagogen erinnert. Neben den Kulträumen verfügt der Komplex über eine vollständige Infrastruktur für Ausbildung und soziale Aufgaben. Um den Geist zu ergründen, der diese Aktivitäten beseelt, haben wir uns mit Rabbiner Shlomo D. Lipskar unterhalten.


"The Shul" ist ganz offensichtlich mehr als nur eine Synagoge. Welches ist ihre tatsächliche Funktion ?

"The Shul" verkörpert ein Zentrum des Geistes und der Zusammenkunft, das drei grundlegende Aspekte der jüdischen Gesellschaft unter einem Dach vereint: Ort der Begegnung, der Versammlung, des Gebets, Studienzentrum und Ausgangspunkt für alle Taten des guten Willens und der Güte. In unserem Fall bietet das Zentrum selbstverständlich alles an, was die Synagoge einer Gemeinde zu gewährleisten hat, darüber hinaus auch ein Ausbildungsprogramm, das Aktivitäten für Kinder im Vorschulalter und für Jugendliche, einen Talmud Torah, Erwachsenenbildung und alles andere umfasst, was ein dynamisches Gemeindezentrum so anbieten sollte. Wir möchten in jedem von uns nicht nur den Stolz wecken, ein Jude zu sein, sondern auch die Freude am Judentum. Trotz saisonaler Schwankungen leben ca. 500'000 Juden in Miami. Da wir uns geografisch am Schnittpunkt zwischen Nord-, Zentral- und Südamerika befinden und ausserdem ein Tor zu Europa bilden, dient unsere Tätigkeit allen anderen Gemeinden dieser Länder als Vorbild.


Gegenwärtig ist in den Vereinigten Staaten ein Schlagwort in aller Munde, "the Jewish Continuity", der Fortbestand des Judentums in unserer Gesellschaft. Sollten die amerikanischen Juden endlich erwachen ?

Die oberste Spitze der jüdischen Gemeinschaft ist sehr besorgt, da die Zahl der gemischten Ehen 1994 fast 60% erreichte. Zur Gewährleistung des Fortbestands der jüdischen Gesellschaft in den USA werden zahlreiche Programme entwickelt, die sich alle an Künstlichkeit überbieten: man denkt an Seminare, an Studienreisen nach Israel usw. Die wichtigste Frage wird jedoch unterdrückt: Der Schlüssel zum Erfolg liegt auch in einem lebendigen, bedeutungsvollen und glücklichen Judentum. Zur Veranschaulichung dessen, was ich unter "lebendigem Judentum" verstehe, möchte ich Ihnen ein Beispiel für unsere Entscheidung geben, auf bescheidenem Niveau alle schönen Theorien in die Praxis umzusetzen. Einige Tage vor Pessach haben wir eine kleine Gruppe von Freiwilligen zusammengetrommelt, die 500 Haushalte in unserem unmittelbaren Quartier (das insegesamt ungefähr 2000 zählt) aufsuchten und die Einwohner fragten, ob sie an einem Seder-Mahl teilnehmen würden. Im grossen und ganzen waren die Menschen angenehm überrascht und öffneten in den meisten Fällen weit ihre Türen mit den Worten: "Sie machen sich wirklich Gedanken darüber, ob ich einen Seder habe oder nicht ?" Als Kennenlerngeschenk gaben ihnen unsere freiwilligen Helfer eine Matza und ein kleines Buch über Pessach. Von den 500 Haushalten, die wir aufgesucht hatten, besassen 90 nicht die Möglichkeit den Seder zu feiern. Wir stellten ihnen drei Möglichkeiten zur Auswahl: eine Einladung in eine Familie zu organisieren, sie zu unserem Seder in der Gemeinde einzuladen oder einen vollständigen Seder, zusammen mit einem fixfertigen traditionellen Festmahl, nach Hause zu liefern, falls jemand seine Wohnung nicht verlassen konnte. Dieses Beispiel unter vielen beweist, was aktives Judentum bedeutet. Meiner Ansicht nach sind solche direkten Aktionen viel effizienter als alle erdenklichen sogenannten "alternativen" Programme. Wichtig ist, dass alle eine konkrete Umsetzung der Torah und wirklich gelebtes Judentum erfahren können.


Wie gestaltet sich in bezug auf die "Kontinuität" die Zusammenarbeit mit den liberalen Gemeinden ?

Zu meinem grossen Bedauern musste ich feststellen, dass die geistigen Führer dieser Bewegung von unserer Tätigkeit nicht besonders begeistert sind. Es ist eine Tatsache, dass wir sie nicht als Rabbiner betrachten, sondern als Leiter des Gemeindelebens und Organisatoren von Zerstreuungen und sozialen Ereignissen. Sie kennen die Torah nicht und sind keine praktizierenden Juden. Wir schätzen sie dennoch sehr, denn diese Menschen setzen sich voll und ganz für die jüdische Sache ein. Leider sind sie mit dem Judentum nicht vertraut und wurden in einer Form der jüdischen Weltlichkeit erzogen, wodurch sie natürlich keine echten, authentischen Rabbiner sein können. Der wahre Stein des Anstosses liegt jedoch darin, dass wir die Kontinuität fördern, während die liberale Bewegung die Veränderung verlangt. Die Ausdehnung dieser "Veränderungen" öffnet jedoch einer Abwendung von Judentum die Türen; die Verstärkung der Kontinuität stärkt im Gegensatz dazu die Wurzeln im Innern der jüdischen Gesellschaft. Wir wohnen einem interessanten Phänomen bei, da nämlich die jüdische Gesellschaft in den Vereinigten Staaten mehr auf die Verstärkung dieser authentischen Werte ausgerichtet ist, und weniger auf diejenigen hört, welche "Veränderung und Abkehr" predigen. Die Generation, die über 50 Jahre alt ist, erwachte schlagartig und mit einem Schock. Sie wurde sich bewusst, dass sie eine viel zu wenig "jüdische" Generation hat heranwachsen lassen, in welcher ein Christbaum zu Weihnachten in einer jüdischen Familie gang und gäbe ist und in welcher die Kinder an Yom Kippur mit dem Vater in die Synagoge und an Ostern mit der Mutter in die Kirche gehen. Diese Bewusstwerdung ist meiner Meinung nach von entscheidender Bedeutung, denn die Suche nach der Wahrheit und nach authentischen Werten wird zwangsläufig bessere Zeiten anbrechen lassen. Wir müssen alle lernen, uns gegenseitig im Rahmen unserer Vielfalt zu lieben. Es ist leicht jemanden zu schätzen, der genauso denkt wie wir. Wir müssen denjenigen wieder respektieren lernen, der andere Ideen hat als wir. Achten wir das Individuum und alles, was in jedem von uns einzigartig ist. G'tt stellt keine Kopien von uns her ! Die Tatsache, dass die reformierten Juden Synagogen besitzen, stellt in meinen Augen ein an sich positives Element dar. Wenn sie echte Rabbiner zwecks Zusammenarbeit mit den Leitern der Gemeindeaktivitäten einstellten, während letztere die Gemeinde betreuen, indem sie die Torah lehren, käme es mit der Zeit zu einer positiven Entwicklung. Wir wollen die Bewegung des liberalen Judentums ja nicht zerstören, sondern sie von innen her verändern.
In diesem Sinne arbeiten wir hier in Miami. Wie Sie feststellen konnten, befinden wir uns an einem wichtigen Knotenpunkt der Welt. Ein weiteres Element trägt dazu bei, dass unsere Präsenz hier von besonderer Wichtigkeit ist. In Miami leben zahlreiche Rentner. Diese Männer und Frauen besitzen nicht nur eine grosse Lebenserfahrung, sondern sind oft auch recht wohlhabend. Viele von ihnen sorgen sich heute um das Überleben der jüdischen Gemeinschaft Amerikas und die Gefahren der Assimilierung. Sie sind bereit, uns zu helfen, indem sie uns nicht nur ihr Wissen und ihre Erfahrung, sondern auch ihre finanziellen Mittel zur Verfügung stellen.