Hoffnung und Freiheit
Von Rabbiner Zalman I. Posner *
Uns allen ist die Geschichte von Pessach ein Begriff, dieses dramatische Epos, das wir jedes Jahr wiederholen. Bei jedem Seder entdecken wir neue Interpretationen, neue Nuancen, sogar neue Lehren des Lebens. Die Geschichte lässt sich in diesen wenigen, sowohl intensiven als auch ereignisreichen Schlagworten zusammenfassen: der brennende Dornbusch - Pharaos Weigerung, die Israeliten zu befreien - die Rückkehr Moses nach Ägypten und seine Konfrontation mit den Leiden SEINES Volkes - die zehn Plagen und schliesslich die Befreiung !

Heutzutage wird unsere Aufmerksamkeit von zwei kurzen Sätzen in dieser Erzählung angezogen: zuerst erfahren wir, dass während dem ersten Zusammentreffen zwischen Moses und den Kindern Israels gesagt wird: "... und das Volk glaubte ...". Etwas weiter stellen wir fest, dass die Israeliten ihm bei ihrem zweiten Zusammentreffen kein Gehör schenken konnten, "da sie unter der Schwere der Arbeit litten".

Eine einfache Frage kommt uns sofort in den Sinn. Aus welchem Grund waren die Kinder Israels, welche die Botschaft Moses beim ersten Treffen so gut verstanden hatten, nicht in der Lage, diese ein zweites Mal aufzunehmen ?

Zwischen dem ersten und dem zweiten Treffen wurde Moses vom Pharao empfangen, den er gebeten hatte, die Hebräer zu befreien. Nicht nur hatte es Pharao abgelehnt, er hatte darüber hinaus die Arbeitsbedingungen der jüdischen Sklaven erschwert: ". . . sie sollen mit Arbeit überlastet werden und dazu gezwungen werden . . ." (Exodus VI-9). Dieser zusätzliche Zwang hatte eine radikale Verhaltensänderung bei den Hebräern zur Folge, die sich folgendermassen erklären lässt: ein Sklave, der noch von Freiheit träumen kann, ist nicht völlig versklavt, da sein Folterer und Meister seine Seele nicht verletzen kann. Beim ersten Treffen mit Moses entsannen sich die Kinder Israels noch der Versprechungen ihrer Vorväter, des mit Abraham geschlossenen Bundes und des gesamten Erbgutes des Geistes und der Hoffnung, das ihnen von Generation zu Generation mitgegeben worden war. Zwar waren sie versklavt, dennoch war ihr Geist frei. Beim zweiten Treffen mit Moses konnten sie infolge der neuen, vom Pharao auferlegten Arbeitsbedingungen weder denken noch überlegen. Sie waren zu völligen Sklaven geworden, vollkommen verzweifelt, und beim Punkt angelangt, wo sie nicht einmal mehr in der Lage waren, Worten der Freiheit Gehör zu schenken.

Eine kurze Analyse des zwischen G'tt und Abraham abgeschlossenen Bundes lehrt uns, dass sein eigentliches Ziel die Schaffung der jüdischen Nation, der Nation der Torah, der Nation der moralischen Werte und der grundlegenden Ethik war, welche für die Menschheit gelten. Derselbe Bund sah jedoch auch vor, dass diese Nation nicht in einem Tag "herbeigezaubert" werden könnte. Die Juden mussten sich als würdig erweisen, das Auserwählte Volk zu werden, und dazu Versklavung und Exil erleiden. Abraham nahm diese Klausel des mit G'tt abgeschlossenen Bundes an.

Aber wieso spielen die Versklavung und das Exil eine so bedeutende Rolle ?

Die Juden haben nie das Monopol des Glaubens besessen. In dieser Beziehung ist es von Interesse, sich an die Worte König Salomons bei der Einweihung des ersten Tempels von Jerusalem zu erinnern (Könige I, VIII, 41-43): " ...Auch wenn ein Fremder, der nicht von deinem Volk Israel ist, aus fernem Lande kommt um deines Namens willen.". Dieser Text lehrt uns, dass G' die Gläubigen in den Nationen, die ihn anerkennen, erhört. Wo liegt der Unterschied zwischen ihnen und den Kindern Israels? Die Welt hört auf einen G'tt, der ihre Gebete erhört, und nimmt diesen an. Die Juden, die Nation der Torah, so wie Abraham diese ausgearbeitet hatte, besitzen einen unerschütterlichen Glauben an G'tt. Dies sollte auch zutreffen, selbst wenn die Juden den Eindruck haben, dass sie von Ihm nicht erhört werden. Dies traf zwar bestimmt für Abraham zu, doch können wir dasselbe behaupten ? Wären wir nicht eher versucht, jeden Kontakt mit G'tt, jede Art von Glauben oder von Gebet abzubrechen, wenn wir denken, dass uns G'tt verlassen hat und dass wir die göttliche Antwort nicht wahrgenommen haben ?

Das Exil und die Versklavung sind furchtbare Prüfungen gewesen, welche die Kinder Israels überwinden mussten, um jene Nation der Torah zu werden, die G'tt Abraham versprochen hatte. Trotz der Härte der Prüfungen und der Zeit verloren sie nie ihren Glauben an G'tt, und erst als sie jede Hoffnung und jeden Traum von Freiheit aufgegeben hatten, als sie ganz zuunterst auf der Leiter standen, forderte G'tt Moses auf, sich an sie zu wenden: Erst in diesem Augenblick waren sie nämlich bereit, die Freiheit zu erleben und ihren wahren Wert zu schätzen.

Diese Geschichte lehrt uns, dass ein Jude niemals das Recht hat, die Hoffnung aufzugeben oder zu verzweifeln. Jedes Jahr gedenken wir der Geschichte der Flucht aus Ägypten, um uns daran zu erinnern, dass G'tt uns erst in der tiefsten Verzweiflung zur Hilfe gekommen ist und uns das Heil und die Freiheit gebracht hat.

Jede Generation hat sein Ägypten; in der Form der nazistischen Greuel, in jener der sowjetischen Herrschaft und überall dort, wo aktiver Antisemitismus ausgedrückt wird, von dessen Beispielen die Geschichte der Menschheit voll ist. Es gibt aber andere Formen des Exils, jene die in uns sind, wie z.B. einige goldene Käfige, in denen wir uns zwar ganz wohl fühlen, die aber in Wirklichkeit ein Risiko für unser geistiges und spirituelles Überleben darstellen. Wir sind auch anderen Gefahren ausgesetzt, und ich befürchte, dass auch diese unsere Zukunft gefährden. Ich denke dabei insbesondere an den Ausschluss von Juden durch andere Juden. Es handelt sich auch um die völlige Gleichgültigkeit gegenüber einigen unserer Glaubensbrüder und deren Leiden, sowie auch insbesondere gegenüber den Gefahren, denen sie ausgesetzt sind. Eine Trennlinie wird häufig zwischen den Juden gezogen. Heutzutage ist es eine grüne Linie; jener Jude, der auf der richtigen Seite der "grünen Seite" lebt, ist beachtenswert, während der jenige, der auf der anderen Seite dieser Linie steht, keine Achtung verdient, ja sogar ignoriert wird. Dasselbe gilt für die unsichtbare und verachtungswürdige Trennung, die zwischen gläubigen und nichtreligiösen Juden herrscht. Auf jeder Seite bildet der Ausschluss eine Art Ghetto, die wir unserem Volk in seinem Innersten selbst zufügen.

Die Tyrannen haben immer gewusst, wie man aus der Beibehaltung von Missverständnissen unter den Sklaven profitiert, da ihr Zusammenschluss den Schlüssel zur Freiheit bildet.

Heutzutage müssen wir das unsichtbare, uns bedrückende Joch loswerden, welcher Art es auch sei, aufstehen und dem Exil und den in unserer Gesellschaft vorhandenen und für unsere Zukunft gefährlichen Ghettos ein Ende setzen. Meiner Ansicht nach liegt da eine der grossen Botschaften, die uns die Lektüre der Haggada an diesem Pessach im Jahre 5756 vermittelt. Mögen wir sie verstehen und danach handeln!

* Rabbiner Zalman I. Posner lebt in Nashville, Tennessee.