Jerusalem 3000
Von Jennifer Breger *
Im Jahr 5756/1996 jährt sich der Tag zum 3000. Mal, dass König David Jerusalem zur Hauptstadt Israels erklärte. In diesem Artikel soll gezeigt werden, wie Jerusalem in verschiedenen jüdischen Quellen durch die Jahrhunderte hindurch dargestellt wurde, seit der Prophet Ezechiel den Befehl erhielt: "Du Menschensohn, nimm dir einen Ziegel, lege ihn vor dich hin und zeichne darauf eine Stadt ein, nämlich Jerusalem" (Ezechiel 4,1). In einem künftigen Artikel werde ich die Fülle der nichtjüdischen Quellen und Pläne Jerusalems untersuchen, die u.a. auch mit der Schweiz zusammenhängen.
Die zentrale Stellung Jerusalems prägte jahrhundertelang jeden Aspekt des jüdischen Lebens. Bereits vor der Zerstörung des Zweiten Tempels gehörte eine Pilgerreise in diese Stadt zu Pessach, Schawuot und Sukkot zu den Pflichten jedes Juden, unabhängig davon, ob er im Heiligen Land lebte oder nicht. Nach 70 v.Chr. wurde der übriggebliebene Teil der westlichen Mauer zum Hauptziel jüdischer Pilger. Die geistige Hinwendung nach Jerusalem wurde in das Leben und in die Liturgie der Juden integriert, was beispielsweise durch die Ausrichtung nach Jerusalem während des Gebets zum Ausdruck kam. Die Haggada ist voller Geschichten und Legenden, welche diese Stadt verherrlichen.
Der Gedanke an die Rückkehr nach Jerusalem war nicht nur spiritueller Art. Selbst unter islamischer oder christlicher Herrschaft lebten auch unter den schlimmsten Bedingungen immer Juden in Palästina. Nach den Angaben des berühmten jüdischen Reisenden Benjamin von Tudela lebten 1170 ungefähr 200 Juden in der Stadt, die alle das Handwerk der Färbung ausübten. Im Verlauf der Jahrhunderte begaben sich spirituelle Führer nach Jerusalem, um hier zu leben, aber auch um hier zu sterben. Einer der berühmtesten dieser Rabbis, die dies schon sehr früh taten, war Nachmanides (Rabbi Mosche ben Nachman). Er traf 1267 ein und beschrieb den erschreckenden Zustand der Stadt in einem Brief an seinen Sohn. Er zählte viel weniger Juden als vor ihm Benjamin von Tudela. Vor seiner Übersiedlung nach Akko organisierte er die Juden Jerusalems, errichtete eine Synagoge (die Ramban Synagoge) sowie eine Jeschiwa. Am Ende des 15. Jahrhunderts gelangte der berühmte Gelehrte Obadiah von Bertinoro, der vor allem für seinen Kommentar der Mischna bekannt war, aus Italien nach Jerusalem. Auch er gründete eine Jeschiwa; er lehrte und lebte vierzig Jahre lang in dieser Stadt. Den drei Briefen, die er an Familienangehörige und einen Freund schrieb, entnehmen wir interessante Informationen. An seinen Vater schrieb er zur Beschreibung seiner Ankunft: "Der grösste Teil Jerusalems ist zerstört und in einem erbärmlichen Zustand und besitzt natürlich keine Stadtmauer. Die Bevölkerung umfasst nach ihren eigenen Angaben ungefähr 4000 Familien. Davon sind nur 70 Juden bis heute übriggeblieben. Sie sind arm und erhalten keine Unterstützung. Gegenwärtig gilt jedermann, der genug Geld für das kommende Jahr besitzt, als reich. Zahlreiche betagte und einsame Witwen aus Ost und West bekämpfen sich erbittert, da auf sieben Frauen nur ein Mann kommt." Ein Brief eines Schülers von Obadiah aus dem Jahr 1495 zeugt jedoch von einer Verbesserung der Lage, da eine hohe Steuerabgabe aufgehoben wurde und neue Immigranten aus Spanien eintreffen.
Es wäre zu weitschweifig, alle im Verlauf der Jahre in Jerusalem eintreffenden berühmten Gelehrten zu erwähnen; zu ihnen gehörten auch der "Schelah", Rabbi Isaiah Horowitz, der sich 1621 als Rabbiner der aschkenasischen Gemeinde in Jerusalem niederliess, sowie der Chassid Judah, der Grodno 1699 mit über 1300 Menschen verliess, um nach Jerusalem zu kommen (viele von ihnen überlebten die Reise nicht), Anhänger des Gaon von Wilnius und zahlreiche chassidische Rabbiner, wie z.B. Nachman von Bratslaw.
Zu den unzähligen interessanten Schriftstücken gehört ein Buch mit dem Titel "Darchei Zion", das 1650 von Mosche Prager in jiddischer Sprache verfasst wurde und als eine Art Führer für diejenigen gedacht war, welche die Auswanderung nach Palästina planten. Er gibt Ratschläge, was mitgebracht werden sollte und was in Jerusalem billig zu kaufen ist. "Bücher sind preiswert in Jerusalem, so dass ihr hier angesichts der Transportkosten zusätzliches Gewicht vermeiden solltet." In Versform warnt er vor dem harten Leben in Jerusalem. "Junge Leute, bleibt in eurem Land, ihr Älteren kommt mit Geld in der Hand. Ein junger Mann bleibt ohne Hilfe immerdar, auch wenn er bleibt gut hundert Jahr'." Als ganz ungewöhnlich zeichnet sich dieses Buch durch eine Abbildung Jerusalems vor dem Hintergrund der umgebenden Berge aus.
Auch wenn wir die meisten faszinierenden Literaturquellen auslassen müssen, welche von Rabbinern und Gelehrten, die Jerusalem besuchten oder sich hier niederliessen, oder von anderen berühmten Besuchern verfasst wurden; zu letzteren gehörte auch Moses Montefiore aus England, der sieben Mal nach Jerusalem kam, sowie seine Frau Judith. Auf zwei herausragende Gestalten des 19. Jahrhunderts soll jedoch kurz eingegangen werden. Beim einen handelt es sich um den deutschen Rabbiner Joseph Schwartz, der sich 1833 in der Stadt niederliess. Er gilt als der erste moderne jüdische Geograph des Heiligen Landes (er trat dabei in die Fussstapfen des bekannten Arztes und Geographen Eschtor ha'Parchi im frühen 14. Jahrhundert, der aus Frankreich stammte, sich in Beth Sche'an niederliess und als erster eine genaue geographische Beschreibung Israels verfasste), sein wichtigstes Werk "Tewuot Ha'aretz" beruhte auf persönlichen Erkundungen und Reisen. Er verfertigte ebenfalls die Zeichnungen mit den Ansichten verschiedener Orte in Jerusalem an, die später im Ausland als Lithographien reproduziert wurden. Durch seine Briefe an seine Familie in Deutschland sind uns zahlreiche wertvolle Informationen überliefert worden.
Im ausgehenden 19. Jahrhundert reiste der fünfzehnjährige Abraham Luncz von Kovno nach Jerusalem; er verfasste viele geographische Schriften. 1876 schrieb er einen hebräischen Führer der Stadt Jerusalem mit dem Titel "Netiwot Ziyyon veYerushalayim". Trotz seiner Erblindung im Alter von nur 24 Jahren beschäftigte er sich bis zu seinem Tod 1918 mit dem Verfassen und Herausgeben von geographischem Material. Sein Werk enthält eine Fülle von Informationen betreffend der Tätigkeiten der Juden von Jerusalem und ihre Heimatstädte.
Betrachten wir nun einige bildliche Darstellungen Jerusalems, welche im Verlauf der Jahrhunderte von Juden erstellt wurden. Die uns überlieferten Beispiele zeugen nicht von hoher Präzision, sind jedoch voller Phantasie und Symbolik. Eine sehr frühe Abbildung des Tempels und der Kotel war Teil der berühmten Fresken der aus dem 3. Jahrhundert stammenden Synagoge in Dura Europos. Vor dem 19. Jahrhundert existieren fast keine Ansichten und Pläne Jerusalems, die jüdischen Künstlern oder Reisenden zugeschrieben werden können. Im Gegensatz zu christlichen Pilgern und Schriftstellern war es bei Juden, die über geheiligte Stätten schrieben, nicht üblich, ihre Arbeit auch zu illustrieren. Es bestand eine Tradition im Mittelalter, Jerusalem und den Tempel in zahlreichen illuminierten Manuskripten darzustellen, indem die Einrichtung und die Gegenstände des Tempels, wie z.B. die Menorah, gezeichnet wurden. Es existieren jedoch auch Abbildungen des Tempels und der Stadt.
In zahlreichen handgeschriebenen Haggadot des 18. Jahrhunderts und in einer Reihe gedruckter Haggadot findet man Darstellungen Jerusalems als Stadt des Messias und Abbildungen des Tempels. Auf einem oft wiederkehrenden Bild wird der Messias beim Einritt in die Stadt auf dem Eselsrücken dargestellt. Das Motiv der Stadt Jerusalem wird bei der Verzierung hebräischer Bücher und Manuskripte, insbesondere in italienischen Eheverträgen, sehr häufig verwendet. Ein wunderschöner italienischer Torahvorhang, ganz offensichtlich durch die Darstellungen der Stadt Jerusalem auf diesen Ketubot inspiriert, der aus dem Jahr 1681 stammt und heute im Jewish Museum von New York besichtigt werden kann, trägt in der Mitte das gestickte Bild Jerusalems, das Tor der Gnade ist deutlich in der westlichen Mauer erkennbar. Über dem Bild steht ein Zitat aus den Psalmen (137,6): "Jerusalem, [...] hoch über den Gipfel meiner Freude". Auf den meisten Darstellungen erscheint der Tempel als die gewölbte Omar-Moschee, oft wird die El Aksa-Moschee als "Midrasch Schlomo" bezeichnet. Das erste Abbild der westlichen Mauer in einem jüdischen Werk befindet sich im Buch "Sikaron beYeruschalayim", das 1743 in Konstantinopel gedruckt wurde.
Im 19. Jahrhundert tauchen meist stilisierte oder imaginäre Bilder von Jerusalem auf Misrachs und jüdischen Textilien auf, wobei sich alle auf den traditionellen jüdischen Glauben an die messianische Hoffnung der nationalen Erlösung beziehen. Zahlreiche farbige, folkloristische Darstellungen Jerusalems mit Mikrographien stammen aus der Feder eines Schriftgelehrten namens Schmuel Schulman, der aus der Gegend von Minsk nach Jerusalem kam. Neujahrskarten, die von verschiedenen Institutionen in Jerusalem ausgesandt wurden, um Unterstützung zu erbitten, waren mit bunten Bildern von heiligen Stätten verziert. Eine Reihe von Stickereien des 19. Jahrhundert, heute in Museumssammlungen zu sehen, gleichen stilisierten Stadtplänen der heiligen Orte, auch wenn sie keinerlei Anspruch auf kartographische Genauigkeit erheben: die Kotel und der Tempel befinden sich in einem kreisförmigen Rahmen im Zentrum, während die übrigen heiligen Stätten strahlenförmig darum herum angeordnet sind. Die süddeutschen Darstellungen Jerusalems auf den bemalten hölzernen Sukkot des frühen 19. Jahrhunderts wurden bereits in SHALOM Vol.XXI vorgestellt. Interessanterweise beruht die heute im Israel Museum ausgestellte, aus Fischach stammende Sukkah-Illustration von Jerusalem auf einer Lithographie von Rabbi Joseph Schwartz, den wir bereits weiter oben erwähnten. Sie wurde von seinem Bruder, einem Rabbiner in Deutschland, als Erinnerung an Jerusalem vertrieben. In der Stadt wurden zahlreiche Kultgegenstände wie beispielsweise aus Stein oder Holz geschnitzte Kiddusch-Kelche mit Szenen aus Jerusalem hergestellt und Reisenden als Souvenirs angeboten.
Die Verwendung von Jerusalem durch jüdische Künstler und Handwerker des 20. Jahrhunderts in allen Medien ist dermassen weit verbreitet, dass wir dieses Thema nicht weiter ausführen müssen. Die Arbeiten von Struck, Lillien und Steinhardt vom Beginn dieses Jahrhunderts werden in späteren Artikeln ganz besonders eingehend erläutert werden.
Ein geheimnisvoller Umstand soll am Schluss unserer Erläuterungen stehen. Wir wissen, dass sehr alte Münzen mit dem Abbild des Tempels existiert haben. Eine von ihnen stammt aus der Zeit von Bar-Kochbba und ist tatsächlich mit der Inschrift "Jerusalem" versehen. An diversen Stellen wird in der Mischna ein Goldschmuck erwähnt, auf dem ein Bild Jerusalems eingraviert ist; er ist unter dem Namen "Jerusalem aus Gold" oder "Stadt aus Gold" bekannt und wurde von Frauen in Erinnerung an die Heilige Stadt getragen. Es sind Gespräche im gange, ob eine Frau diesen Schmuck an Schabbat tragen darf. Im Talmud (Nedarim, 50) heisst es, Rabbi Akiwa habe eines dieser Schmuckstücke für seine Frau hergestellt. Leider ist uns nicht bekannt, wie diese "Jerusalem aus Gold" ausgesehen haben, da uns keine Exemplare davon überliefert wurden. Es handelte sich wahrscheinlich um eine Art Diadem oder eventuell ein Medaillon. Wer weiss, vielleicht erleben wir in diesem Jubiläumsjahr der Stadt Jerusalem ein Wiederaufleben dieser Tradition.