Der letzte Vorhang
Von Emmanuel Halperin, unserem Berichterstatter in Jerusalem
Ein Jahr vor den Wahlen in Israel werden die Staatsgeschäfte von einer immer zielloseren Regierung geführt, die ab und zu die Orientierung völlig verliert und sich dabei an den getroffenen Entscheidungen festklammert. Wie so oft bei Einbruch der Nacht, fühlen sich die israelischen Spitzenpolitiker von Schatten bedroht und glauben in jedem Demonstranten einen Widersacher und in jedem Anhänger der Opposition einen Putschisten zu erkennen. Die "Rabin, Verräter und Mörder" schreienden Extremisten sind natürlich im Unrecht, doch die Auslegung ihrer Parolen als Mordaufrufe oder eine Bedrohung der Demokratie zeugt von einem gefährlichen Mangel an Kaltblütigkeit. Als die Demonstranten der Linken vor einiger Zeit "Sharon und Begin sind Mörder" riefen, klagte sie die damalige Regierung nicht an, die Heimat in Gefahr zu bringen.
Die Situation der Regierung Rabin ist natürlich alles andere als angenehm. Sie besteht aus einer Koalition, die sich im Parlament in der Minderheit befindet - 58 von 120 Sitzen - und nur dank der Unterstützung durch fünf arabische Abgeordnete existiert, die von der Opposition als die "Delegierten Arafats in der Knesset" bezeichnet werden. Von diesen insgesamt 63 Sitzen müssen von nun an die Stimmen von zwei Abgeordneten der Arbeitspartei abgezogen werden (Avigdor Kahalani und Emmanuel Zissman), die sich gegen die Abtretung der Golanhöhen und gegen die geplante Evakuierung von Judäa-Samaria aussprechen und von nun an bei grundlegenden Fragen mit der Opposition übereinstimmen. Geht man ausserdem davon aus, dass zwei weitere Koalitionsmitglieder aus der Oppositionspartei Tsomet von Raphael Eytan stammen und folglich das Vertrauen ihrer Wähler missbraucht haben, stellt man fest, dass die Stellung der Regierung Rabin in der Öffentlichkeit und ihre Autorität weder derjenigen zu Beginn der Legislaturperiode noch derjenigen bei der Unterzeichnung der Verträge von Oslo vor zwei Jahren entspricht. Diese langsame Abnützung gefährdet kaum die Macht, die sich bis zu den nächsten Wahlen wird behaupten können, doch sie schadet dem Image der Partei und schränkt ihren Handlungsspielraum ein. Die umgekehrte Wirkung tritt auf psychologischer Ebene ein: da sie überzeugt sind - oder sich davon zu überzeugen versuchen -, dass sie sich auf dem richtigen Weg befinden, zwingen sich Rabin und Peres dazu, ihr grosses historisches Werk zu beenden, "bevor es zu spät ist", und sie beschleunigen, anstatt zu bremsen und sie treiben die Dinge voran, anstatt sich alles in Ruhe zu überlegen.
Heute kann niemand mehr leugnen, dass die von der palästinensischen Seite in Oslo eingegangenen Verpflichtungen nicht eingehalten worden sind. Gaza und Jericho dienen Terroristen als Unterschlupf, die in Israel blutige Verbrechen begangen haben. Sie werden den israelischen Behörden nicht ausgeliefert, sondern tauchen irgendwo unter oder werden von der lokalen Justiz rasch abgeurteilt und "abgeschoben", bis man sie vergessen hat. Die palästinensische Polizei nimmt manchmal Verhaftungen gewisser Elemente des Hamas vor, die jedoch einige Tage später meist diskret wieder freigelassen werden. Die palästinensischen Behörden machen keinen Hehl aus ihren Beweggründen: es geht darum, diejenigen vom Handeln abzuhalten, die durch ihre unüberlegten Taten die israelischen Zugeständnisse verzögern könnten.
In Gaza sagt man die Wahrheit: es gibt ein einziges Ziel, einen gemeinsamen Kampf, der Terrorismus und die politischen Verhandlungen unterstützen sich gegenseitig, und obwohl Arafat die Attentate verurteilt, dann nur, weil die Bombenleger es übertreiben und ihn behindern.
Seit der Unterzeichnung der Abkommen von Oslo sind über hundert Israelis durch Anschläge ums Leben gekommen, obwohl die Regierung hauptsächlich aufgrund der feierlichen Versprechungen Rabins anlässlich des Wahlkampfes vor drei Jahren gewählt worden war, dem Terrorismus in den israelischen Städten ein Ende zu setzen. Sie hat also versagt, und dieses Versagen wird trotz der jüngsten Erfolge des Sicherheitsdienstes fortdauern: man ist sich einig darüber, dass die Attentate nicht aufhören werden.
Einer der kaum erwähnten Gründe für die Gewalttätigkeit dieser Terroranschläge besteht darin, dass die Mörder sich Sprengstoff von "guter Qualität" besorgen können. Seit dem Beginn der 80er Jahre war es sozusagen unmöglich geworden, diese Sprengstoffe in die Gebiete einzuführen, so dass die Terroristen Behelfsmaterial mit im allgemeinen beschränkter Reichweite verwenden mussten. So lässt sich das damals "handwerkliche" Vorgehen mit Axtschlägen und Messerstichen bei den Attentaten erklären. Heute, seitdem die Abkommen von Oslo in Gaza und Jericho angewendet werden, ist es ein Kinderspiel geworden, wirksame Sprengstoffe zu erhalten, mit denen mehrere Juden auf einen Schlag getötet werden können. Es lässt sich leicht vorstellen, was geschehen wird, sobald die grossen Städte der Westbank, wie Nablus, Ramallah, Djenin, Bethlehem, sich unter der ausschliesslichen Kontrolle der palästinensischen Behörde befinden werden. Wenn alles nach Plan verläuft, ist es in wenigen Monaten soweit. Obwohl Rabin erst vor kurzem wieder den Wunsch geäussert hat, dass die berühmte palästinensische Charta aufgehoben wird, erscheint es unwahrscheinlich, dass Arafat seine Versprechungen einhält. Heute steht zur Diskussion, dieses Dokument vom palästinensischen Rat, der kraft der Osloer Abkommen gewählt wird, aufheben oder abändern zu lassen, um die Israelis zufriedenzustellen. Doch die Charta, in welcher Israel jede Existenszberechtigung abgesprochen wird, bleibt weiterhin als grundlegendes Dokument der PLO gültig, ungeachtet der Tatsache, dass sich Israel zum Rückzug fast aller Truppen aus Judäa und Samaria innerhalb von achtzehn Monaten verpflichtet. Es trifft zwar zu, dass die letzte Phase der Evakuierung, welche im Hinblick auf die Gebiete die wichtigste sein wird, für die Zeit nach den Wahlen vorgesehen wurde, was im Falle eines Siegs der gegenwärtigen Opposition Rabin die Möglichkeit bietet, eine unlösbare, knifflige Knacknuss zu umgehen und diese liebenswürdigerweise seinem Nachfolger zu überlassen.
Es mutet eigenartig an, wenn die Regierung krampfhaft an der These festhält, das Wort des Nobelpreisträgers Yassir Arafat sei heilig, und gleichzeitig die haarsträubenden Worte des Präsidenten der palästinensischen Behörden ignoriert, wenn er sich an ihre Verwaltungssubjekte wendet. Arafat möchte den Heiligen Krieg (Dschihad) fortführen, er richtet eine Lobeshymne an eine Terroristin, die in einem Autobus eine Bombe gelegt hatte ("sie hat auf diese Weise die palästinensische Republik gegründet") und vergleicht weiterhin den mit Israel unterzeichneten Friedensvertrag mit demjenigen, den der Prophet mit einem gewissen Volksstamm abgeschlossen und kurze Zeit später wieder aufgehoben hatte, als die Umstände ihm wieder günstig gesinnt waren. Die Opposition musste Videokassetten mit Aufnahmen von Arafat vorlegen, damit Rabin nach einer Andeutung von Peres, die Aufnahmen seien vielleicht gefälscht, zugab, es liege ein Problem vor. Doch sofort danach war die Affäre klassiert.
Dies alles ist umso beunruhigender, als die Regierung eigentlich keine Wahl hat, sondern in einer Politik gefangen bleibt, die sie seit Jahren vertritt und von der sie nun nicht mehr loskommt. Ein radikaler Richtungswechsel ist daher ausgeschlossen, mit Ausnahme eventuell im Hinblick auf die Verhandlungen mit Syrien. Dies hat nicht nur mit Israel zu tun, sondern auch mit der Haltung Assads, der die Hamas-Anschläge um keinen Preis verurteilen will, der die Terroristen ihre nächsten Untaten von Damaskus aus ankündigen lässt, wo über zehn Mörderorganisationen gedeihen, der von Israel immer noch die Rückkehr zu den Grenzen von 1967 verlangt, und auf dem Golan nicht einmal die Präsenz einer israelischen Alarmstation zu dulden. Unter diesen Umständen ist es sozusagen unmöglich, für den syrischen Präsidenten die schulderfüllte Nachsicht an den Tag zu legen wie sie Rabin für Arafat hegt. Weshalb denn geniesst der Chef der PLO diese Milde, dieses Verständnis und diese Grosszügigkeit ? Unerklärliches Geheimnis.