Nächstes Jahr in... ?
Von Rabbiner Zalman I. Posner

Seit Kippur 1948 haben sich zahlreiche Juden die Frage gestellt, welchen Sinn der nach Neila (abschliessendes Gebet des Gottesdienstes an Jom Kippur) und nach dem Seder von Pessach ausgesprochene Wunsch "Nächstes Jahr in Jerusalem" noch besitzt. Waren wir damals nicht schon sehr präsent in der Heiligen Stadt ? Nein, denn die Stadt unterstand noch nicht der jüdischen Souveränität. Und nach dem Sechstagekrieg ? Diejenigen unter uns, die sich an 1967 erinnern, werden die überwältigenden Gefühle, vermischt mit einem Gefühl des Triumphs, vor der wiedergewonnenen Kotel im vereinigten Jerusalem niemals vergessen. 1973 bewirkten dramatische Ereignisse eine verstärkte Inbrunst unserer Gebete. Es wurde uns bewusst, dass uns alles, was G'tt gegeben hatte, auch wieder weggenommen werden konnte; wir müssen uns seiner Gnade immer wieder würdig erweisen. Dann kam es zum phantastischen Sieg von 1973, der ebenso einem Wunder glich wie derjenige von 1967.
Und wie steht es heute ? Wieder werden wir angesichts einer ungewissen Zukunft von Ängsten geplagt. Werden wir nächstes Jahr in Jerusalem sein ? Erhalten die Juden dann Zugang zur Kotel nur dank der Grosszügigkeit eines ...Arafat ? Bei diesem Gedanken sträuben sich uns die Haare. Man verspricht uns wahre Wunder, doch die vorgeschlagenen Garantien sind weder überzeugend noch vertrauenerweckend. Ja aber, erhalten wir als Gegenleistung nicht den Frieden ? Welchen Wert besitzt denn ein Frieden, der die Beziehungen zwischen Jerusalem und Israel abzuschwächen droht ? Weshalb sprechen sich die Araber nie positiv für ein jüdisches Jerusalem aus, und warum überschlägt sich die israelische Regierung in beruhigenden Worten ? Ist unser Volk dermassen naiv ? Diese Tatsache ist nicht leicht zu akzeptieren. Wir werden "Maaminim bene maaminim" genannt, Gläubige und Söhne Gläubiger. Sind aber nicht zahlreiche Juden atheistisch, ohne Glauben ? Nein. An dieser Stelle möchte ich eine Hypothese aufstellen, die ich nicht beweisen kann, die aber dennoch plausibel und vernünftig ist. Der Mensch wird mit einem Vorrat an Glauben geboren. Er kann diesen Glauben nach Gutdünken investieren, und wird ihn unabhängig von seiner Entscheidung immer behalten. Diese These möchte ich im folgenden veranschaulichen.
Bis vor kurzem noch glaubten Millionen von Menschen an den sowjetischen Kommunismus. Sie hatten die Bibel ganz einfach durch Marx, die Propheten durch Lenin ersetzt; sie verehrten die Reliquien ihrer "Heiligen", verurteilten Häresie und bestraften alle Abtrünnigen. Der neue "Glaube" wurde direkt von der spanischen Inquisition inspiriert. Andere wendeten sich etablierten, jedoch nichtjüdischen Religionen zu. Sie wissen überhaupt nichts vom Judentum und folgen blind den Predigten von Missionaren, die in jüdischen Fragen ebenso unwissend sind. Wiederum andere bekennen sich stolz zur Moderne und zum Atheismus, sie feiern die Wissenschaft oder das menschliche Genie, ohne sich die unvermeidlichen Grenzen der Wissenschaft vor Augen zu führen. Sie glauben an den Menschen, auch wenn die Erfahrung der Geschichte gezeigt hat, dass dieser Glaube sich nicht bewahrheitet hat. Und schliesslich glauben einige auch an den allmächtigen ...Dollar ! Alle diese "Religionen" haben viele Juden verführt, die sich von den romantischen Versprechungen des 19. Jahrhunderts nicht gelöst haben. Der atheistische Jude existiert daher nur als Mythos.
Heute hängen wir einer neuen "Religion" an, dem Glauben an den Frieden ! Gläubigkeit kann das Ergebnis eines tiefen Bedürfnisses nach Sicherheit, Wohlstand, Anerkennung usw. sein. Israel und das jüdische Volk brauchen den Frieden mehr als jede andere Nation auf der Welt, auch wenn sie seit der Epoche von König Salomon nie in den Genuss des wirklichen Friedens gekommen sind. Israel hat bisher nur einen einzigen Krieg gekannt, der vor der Staatsgründung ausbrach und seither nicht aufgehört hat: Aggressionen, Intifada, Wirtschaftsboykott, Friedensprozess usw. Israel wünscht sich sehnlichst, von Herzen den Frieden. Wen erstaunt es daher, dass sich dieser innige Wunsch in den Glauben an Arafat, an Ägypten, an Syrien verwandelt hat. Ein stark geschwächter Arafat wurde mit unserer Hilfe zu neuem Leben erweckt, und die vagen Anspielungen Assads, der uns unter bestimmten Bedingungen in ungewisser Zukunft einen eventuellen Frieden vorgaukelt, bewirken bei den neuen Gläubigen Freudenstürme.
"Selig ist der Mensch, der Dich nicht vergisst und seine Kraft aus Dir schöpft"; diese Worte stammen aus dem Gottesdienst Mussaf von Rosch Haschanah. Dieser Glaube, der Glaube an den Allmächtigen, ist viel zu oft nicht vorhanden, vielleicht weil er nicht der offiziellen Parteilinie entspricht. Ist es daher erstaunlich, dass bestimmte Politiker Israels den Glauben an Arafat nie verlieren, ganz egal was er tut, und im Namen dieses Glaubens sogar ihr Land in Gefahr bringen ? Die Hartnäckigkeit, die Maimonides von uns in unserem Glauben an den Messias verlangt, "im kol ze ani ma'amin" (ich glaube trotz allem), gilt heute für das Trugbild, das Frieden genannt wird.
Es existiert auch ein anderer, nicht theistischer Glaube, für den die Juden in Auschwitz einen schrecklichen Preis bezahlt haben: glaubt euren Feinden; wenn er uns zu töten verspricht, dann ist es ihm ernst damit. Genau dies haben unsere Feinde der Vergangenheit und der Gegenwart geschworen, und sie haben diesem Ziel bisher nicht abgeschworen. Wir glauben ihnen. Wir sind überzeugt von ihrer Aufrichtigkeit und dem Ernst ihrer Behauptungen. Unsere Erfahrungen mit ihren Vorgängern in Deutschland und der bemerkenswerte Eifer, den sie heute bei der Bestätigung der Nazi-Thesen beweisen, hindern uns zu glauben, dass ein "Frieden" in Sicht ist.
Das Wort Medina, Staat, wie beispielsweise in Medinat Yisrael, hat uns immer mit unsäglichem Stolz erfüllt. Im Mussaf von Rosch Haschanah steht aber: "Von den Medinot heisst es: für das Schwert, für den Frieden". An Rosch Haschanah entscheidet sich nicht nur das Schicksal der einzelnen Menschen, sondern auch dasjenige der Staaten, darunter auch des unsrigen. Die Handlungen der Individuuen beeinflussen das Schicksal der Nation. Und über das Schicksal entscheidet der Glaube.
Als der Patriarch Jakob in das Gelobte Land zurückkehrte, forderte er alle seine Familienmitglieder auf, allen "fremden Göttern" zu entsagen. Die Träume und Hoffnungen des 19. Jahrhunderts wurden von der Geschichte erschüttert und haben nur Unheil bewirkt. Die täglichen Nachrichten sprechen von Hinterfragung, Desillusion, von einer neuen Wachsamkeit gegenüber den "neuen Religionen". Dies wird letztlich zu einer allmählichen, aber sicheren Rückkehr zu "Emunah", dem jüdischen Glauben führen, dessen die Gläubigen und Söhne von Gläubigen würdig sind, und der Eltern und Kinder gleichermassen vereint.
Wir wünschen unserer Medina (Nation): "Leschanah tovah tikatevi", möge sie im Buch des glücklichen Jahres eingeschrieben werde.