Prag - Eine lange jüdische Vergangenheit
Von Tamar Minerbi
Längst nicht mehr existierende Strässchen, alte Synagogen, das Grabmal des grossen Maharal (Rabbi Loew) im ehemaligen jüdischen Friedhof oder das Porträt des Rabbiners Rapoport, der ab 1840 als geistiges Oberhaupt der Prager Gemeinde wirkte, all diese Bilder und Menschen lassen eine an Erinnerungen reiche jüdische Vergangenheit aufsteigen. Einige Porträts des Jüdischen Museums Prag entstanden gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Dies kann angesichts des biblischen Verbots von Abbildungen, das damals von den meisten Juden Zentraleuropas respektiert wurde, erstaunlich anmuten. Zu jeder Zeit schien es in Prag jedoch bereits Mode gewesen zu sein, sich entweder allein oder im Kreise der Familie malen zu lassen. Da jüdische Maler erst seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bekannt sind, stammen die ersten Gemälde von Künstlern christlichen Glaubens.
Mit der Übergabe des Jüdischen Museums Prag in die Hände des Verbandes der jüdischen Gemeinden Tschechiens bricht eine neue Epoche an, nachdem das Museum über 50 Jahre lang dem Staat gehörte. Anlässlich der Zerstörung des alten Ghettos (nur die schönsten öffentlichen Gebäude wurden verschont) wurde das Museum 1906 von der Stadt Prag gegründet und kannte vor allem während des Zweiten Weltkriegs unter tragischen Umständen einen grossen Aufschwung. Angesichts der Deportation ihrer Mitglieder versuchten die jüdischen Gemeinden Tschechoslowakiens, wenigstens ihr religiöses und kulturelles Erbe zu retten. So gelangten herrliche Kult- und Kunstobjekte, Manuskripte, Bücher und Gegenstände des jüdischen Alltags in das Jüdische Museum von Prag. Die nationalsozialistischen Besatzer förderten diese Entwicklung, denn sie hegten die Absicht, in Prag das "Museum der vernichteten Rasse" zu schaffen und es in ihre antisemitische Propaganda einzubeziehen. Vor ihrem Transport in die Konzentrationslager erstellten die Museumsangestellten einen Katalog der Sammlung, die heute auf ihrem Gebiet als eine der bedeutendsten der Welt angesehen wird. Fast alle Angestellten des Museums fanden während der Schoah den Tod. In Erinnerung an die über 70'000 Opfer, die aus der ehemaligen Tschechoslowakei stammten, lässt das Museum nun ihre Namen auf die Wände der Synagoge von Pinkas im jüdischen Viertel eingravieren. Der Plan, diese Synagoge im Renaissance-Stil in ein Mahnmal der Schoah umzuwandeln, ist nicht neu. Bereits in den 50er Jahren waren die Namen der Getöteten auf denselben Mauern aufgelistet, jedoch zwanzig Jahre später vom kommunistischen Regime wieder entfernt worden, unter dem Vorwand, dass Renovationsarbeiten durchgeführt werden mussten. Auch hier erwies sich der Kommunismus als recht durchlässig für antisemitische Tendenzen. Die gegenwärtige Regierung unter dem Präsidenten und Dichter Vaclàv Havel bemüht sich, ein Klima der Toleranz zu schaffen und die Fehler der Vergangenheit wiedergutzumachen. So wurde beispielsweise ein Rückerstattungsprogramm ausgearbeitet, um den jüdischen Gemeinschaften ihre kulturellen und materiellen Güter zurückzugeben. Dazu gehören nicht nur das Museum, sondern es wurden den Gemeinden auch ganze Gebäude, wie beispielsweise die sephardische Synagoge, wieder übergeben. Im jüdischen Schulhaus aus der Vorkriegszeit werden bald eine Sekundarschule und eine Jeschiwa (Talmudakademie) einziehen. Im Rathaus des ehemaligen Ghettos, das wegen seiner Turmuhr mit hebräischen Buchstaben wohlbekannt ist, befindet sich bereits ein koscheres Restaurant. Der Gottesdienst wird regelmässig in einer der zahlreichen Synagogen der Stadt abgehalten. Nach fünfzigjähriger Unterbrechung erwacht das jüdische Leben in Prag allmählich wieder.
Seit vergangenem Oktober wird das Jüdische Museum von Prag von Dr. Leo Pavlàt geleitet, der vor kurzem seinen Posten als tschechischer Kulturattaché in Israel aufgeben hat. Er war der Nachfolger von Dr. Ludmila Kybalová, die das Museum durch ihre Tätigkeit in den vergangenen vier Jahren bereichert hatte. Dr. Pavlàt möchte die sephardische Synagoge und das Nachbargebäude, das ehemalige jüdische Spital, renovieren lassen, um dem Museum neue Ausstellungsräume zur Verfügung zu stellen. Dadurch könnte das Problem des Platzmangels behoben werden, ohne auf den besonderen Charakter des Museums zu verzichten. Die Verschmelzung zwischen einer ausserordentlichen Sammlung und den historischen Gebäuden des jüdischen Viertels, die sie beherbergen, verleihen dem Jüdischen Museum Prag seine Schönheit und seine Interessantheit. Seit der politischen Wende von 1989 wurde das Museum jährlich von über einer Million Menschen aufgesucht.
Das jüdische Viertel von Prag, während Jahrhunderten eines der wichtigsten Zentren der Diaspora, blickt auf eine bewegte Geschichte zurück. Vertreibungen und grausame Verfolgungen wechselten sich mit "goldenen Zeitabschnitten" ab, in denen die Juden von der Protektion des Königs profitierten. Das Prager Ghetto, im 12. Jahrhundert gegründet, um die Juden von der christlichen Gesellschaft zu isolieren, blieb bis zum Ende des 18. Jahrhunderts das einzige Quartier, in dem die Juden Wohnrecht besassen. Das Ghetto wurde autonom verwaltet und verfügte über ein eigenes Rathaus. Dieses Gebäude musste wiederholt neu erbaut werden, da es während den Verfolgungen nicht selten durch Feuer zerstört wurde. Während den "goldenen Zeitabschnitten" verringerte sich die Isolation. Der Bürgermeister des Ghettos, Mordechai Maise (1529-1601), war beispielsweise Hoflieferant, Bankier und Berater des Kaisers Rudolf II., was ihm die Möglichkeit gab, den Armen zu helfen und mehrere öffentliche Gebäude im jüdischen Viertel erbauen zu lassen. Heute können wir in der schönen Maisel-Synagoge als Teil der beeindruckenden Sammlung des Jüdischen Museums Prag diverse Kultobjekte aus Silber bewundern.
Der bedeutendste "goldene Zeitabschnitt" der Prager Juden dauerte ca. hundert Jahre und reichte von der Mitte des 16. bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts. Unter einigen Kaisern des Hauses Österreich-Habsburg, die zwischen 1526 und 1918 über Böhmen herrschten, genossen die Juden ein Leben in Sicherheit. Sie besassen die Glaubensfreiheit und gar die kaiserliche Erlaubnis, ihre Tätigkeiten als Handwerker auszuüben, was ihnen zu jener Zeit fast überall sonst in Europa verboten war. Dank diesen erfreulichen Bedingungen stieg die Einwohnerzahl des Ghettos rasch an und man lebte in einem gewissen materiellen Wohlstand. Die jüdische Religion und Kultur erfuhren eine wahre Blütezeit. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts erhielt die Gemeinschaft die Genehmigung, das übervölkerte Ghetto zu vergrössern. Anfang des 18. Jahrhunderts lebte die Hälfte der Altstadtbewohner Prags im Ghetto, was einem Drittel der Gesamtbevölkerung der Stadt entsprach. Während des dreissigjährigen Kriegs (1618-1648) wurden bestimmte jüdische Händler, Lieferanten der kaiserlichen Armee, zu einem nicht zu unterschätzenden strategischen Faktor. Am Ende des Krieges nahmen die Juden an der Verteidigung Prags gegen die Schweden teil, indem sie in einer Truppe auf den Stadtmauern mitkämpften. Ferdinand III. schenkte dem jüdischen Viertel aus Dankbarkeit ein Wappen, auf dem ein schwedischer Helm in einem Davidsstern dargestellt ist. Noch heute ziert dieses Wappen die Fassade des Rathauses des ehemaligen Ghettos.
Nachdem der Frieden 1648 wieder Einzug gehalten hatte, wurden die den Juden übertragenen Rechte nach und nach eingeschränkt oder aufgehoben. Der "goldene Zeitabschnitt" hatte sein Ende erreicht. Der Brand des Ghettos, der 1689 von den unteren Schichten der Prager Bevölkerung verursacht wurde, sowie das Gesetz von 1726-27, welches die Zahl der in Böhmen lebenden jüdischen Familien beschränkte, bedeuteteten den Anbruch einer schweren Zeit, in deren Verlauf zahlreiche Juden zum Verlassen der Region gezwungen wurden.
Dank den Bürgerrechten, die den Prager Juden im Verlauf des 19. Jahrhunderts zugestanden wurden, durften diese das Ghetto verlassen, an der Universität studieren und Berufe ausüben, die ihnen zuvor verboten waren. Die Verfolgungen und Restriktionen der früheren Jahrhunderte schienen der Vergangenheit anzugehören, zumindest bis zum Zweiten Weltkrieg. Von der düsteren Epoche der Schoah zeugen im Jüdischen Museum die Zeichnungen der im KZ Theresienstadt in der Nähe von Prag inhaftierten Kinder und Erwachsenen. Diese Werke befinden sich nicht zufällig im Haus der Bestattungsfirma (Chewra Kadischa) am Eingang des ehemaligen jüdischen Friedhofs von Prag.
Während über dreihundert Jahren war der ehemalige Friedhof der einzige Ort, an dem die Juden ihre Toten bestatten durften. Die prekären Platzverhältnisse führte zu einem Labyrinth von aneinandergedrängten Grabsteinen. Wind und Wetter liessen viele Inschriften unlesbar werden, doch dank der Bestattungsfirma waren fast alle Inschriften in Spezialregistern verzeichnet worden, die nun eine wahre Fundgrube für geschichtliche Nachforschungen darstellen. Die Bestattungsgesellschaft war eine aus Freiwilligen zusammengesetzte wohltätige Organisation, die sich ebenfalls um die Armen und Kranken und ihre Familien kümmerte. Seit dem 16. Jahrhundert wirkte sie im Prager Ghetto, und ihre Mitglieder kamen regelmässig zusammen, um den Talmud zu studieren. Einmal im Jahr gab es ein gemeinsames Mahl. Besondere Platten für dieses jährlich stattfindende Essen, Almosenbehälter für die Armen und zahlreiche andere von dieser Gesellschaft verwendeten Gegenstände bereichern heute die ständige Sammlung des Jüdischen Museums.
Unsichere Lebensumstände, aber auch unterschiedliche und oft widersprüchliche kulturelle Tendenzen haben die Geschichte der Juden in Prag geprägt. Das kulturelle Klima des Ghettos wurde sowohl vom Rationalismus jüdischer Gelehrter, wie von Avigdor Kara, dem Maharal (Rabbi Loew), und dem humanistischen Wissenschaftler David Gans beeinflusst, als auch vom Okkultismus und von der kabbalistischen Mystik der Denker wie Josef Schlomo Delmedigo. Selbst in den Werken eines Rationalisten wie des Maharal wurden Legende und Mystik nicht ausgeschlossen. Vielleicht war es diese Mischung aus okkultem Mystizismus und der Hoffnung auf tatsächliche Änderungen, welche im 17. Jahrhundert die Ideen des falschen Propheten Schabtai Zvi für zahlreiche Prager Juden so anziehend erscheinen liessen. Sicher ist, dass dieser träumerische und mystische Geist zur Entstehung des Golem führte, eines Wesens, das der Maharal geschaffen haben soll, um die Juden in Zeiten der Verfolgung zu retten. Der Respekt für diesen grossen Rabbi und Erzieher war so umfassend, dass man ihm noch Jahrhunderte nach seinem Tod einen Sitz in der Altneuschul Synagoge reservierte. Gemäss einer anderen Legende wird diese herrliche gothische Synagoge, eine der ältesten Europas, nach dem Erscheinen des Messias einen Platz in der ewigen Stadt Jerusalem erhalten.