Saul Tschernikowsky (1875-1943)
Von Dr. Rina Neher-Bernheim *
So viele Strassen sind in israelischen Städten nach ihm benannt ! Nach Bialik war er zweifellos der bekannteste Dichter des Landes. In Jerusalem, Tel Aviv, Haifa, Beerscheva und auch in kleineren Ortschaften wie Kfar Saba oder Afula, in fast allen Städten gibt es eine Tschernikowsky-Strasse.
Er gehört derselben Generation an wie Bialik, er ist nur zwei Jahre jünger, doch sein Leben und sein Werk unterscheiden sich in jeder Hinsicht von demjenigen Bialiks. Er wurde 1875 in Mikhailovka, einem Dorf der kleinen Krim, geboren, in einer herrlichen Landschaft mit Wiesen, Wäldern und tiefen Schluchten. Er verlebt eine glückliche Kindheit im Kreise einer liebevollen Familie. Seine Muttersprache ist nicht jiddisch, sondern russisch. Sein Vater wird zu seinem ersten Hebräischlehrer. Dann trifft im Dorf ein Hebräischlehrer aus Litauen ein, der das Dutzend gleichaltriger Kinder unterrichtet. Schon in jungen Jahren liest er viel, sowohl auf russisch als auch auf hebräisch. Er verschlingt alles, was ihm in die Hände fällt: Alexandre Dumas und Shakespeare, die Kommentare von Raschi und "Jerusalem" von Mendelssohn. Mit 14 Jahren schicken die Eltern den hochbegabten Jungen nach Odessa, damit er dort seine Schulbildung vervollkommne. Er träumt davon, Dichter oder Arzt zu werden, und wird tatsächlich beide Träume verwirklichen.
Obwohl er noch Gymnasiast ist, findet er in Odessa rasch Kontakt zur intellektuellen Elite und lernt die Vorkämpfer für die Rennaissance der hebräischen Literatur kennen, darunter insbesondere Achad Ha-Am. Er begegnet auch Bialik. Im Gymnasium lernt er französisch, englisch, deutsch und geniesst die grossen Dichter in ihrer Originalversion - Goethe, Musset, Shelley und viele andere. Er beginnt selbst Gedichte zu schreiben, die sehr nonkonformistisch sind und das literarische "Establishment" zunächst schockieren: sie werden daher in den Vereinigten Staaten veröffentlicht. Doch schon bald erklärt sich die Zeitschrift "Haschiloah" bereit, einige von ihnen abzudrucken.
In jener Zeit war es für das Medizinstudium unerlässlich Latein und Altgriechisch zu lernen. Tschernikowsky macht sich mit Feuereifer daran. Die Autoren der Antike faszinieren ihn und werden einen grossen Einfluss auf ihn ausüben. Er übersetzt später die Ilias und die Odyssee, die Hymnen von Anakreon und andere Werke ins Hebräische.
Sein erster Gedichtband erscheint 1899. Er erzeugt einige Verblüffung, erweist sich jedoch als grosser Erfolg. Tschernikowsky kann diesen aber nicht in den jüdischen literarischen Kreisen von Odessa, die ihm vertraut geworden sind, geniessen, da er nach Heidelberg zieht, um dort Medizin zu studieren und etwas später auch zu heiraten.
Die Heidelberger Jahre sind sehr schöpferisch. Hier schreibt er sein berühmtes Gedicht "Vor der Statue Apollos", in dem seine Bewunderung für die heidnische Gottheit der Sonne zum Ausdruck kommt. Paradoxerweise verherrlicht er in sehr reinen hebräischen Versen eine Idee, die der jüdischen Tradition nicht fremder sein könnte: "Apollo, ich bin gekommen, mich vor deinem Abbild zu verneigen, dem Abbild des Lebens und der lebendigen Sonne".
Dieses und einige andere Gedichte haben dazu geführt, dass Tschernikowsky als Gegner des traditionellen Judentums bezeichnet wurde, was auch tatsächlich zutraf. Doch er stand seinem Volk und zahlreichen Aspekten seiner Geschichte ebenso nahe.
In Lausanne schliesst Tschernikowsky das in Heidelberg begonnene Medizinstudium ab. Er erhält sein Diplom 1907 und kehrt nach Russland zurück. Der Zeitpunkt ist schlecht gewählt: noch herrscht eine gewaltsame Repression, die auf die Revolution gegen den Zaren zwei Jahre zuvor zurückzuführen ist. Obwohl Tschernikowsky nie politisch aktiv war, wird er als verdächtig eingeschätzt und verhaftet. Selbst im Gefängnis schreibt er weiter. Sein Gedicht "Die zerbrochene Kelle", in dem die Welt als ein riesiges Gefängnis beschrieben wird, stammt aus dieser Zeit. Er wird dank den Anstrengungen seiner Freunde befreit und sieht sich gezwungen, Landarzt zu werden. Dabei entdeckt er unermessliche Armut und Unwissenheit. In jener Zeit wütet die Cholera, und so geht er von einem Dorf zum anderen, pflegt die Kranken und setzt seine schriftstellerische Tätigkeit fort.
Als 1911 in Odessa erstmals eine Gesamtausgabe seines Werks erscheint, ist die Bekanntheit von Tschernikowsky endgültig gesichert. Dasselbe gilt für seine Übersetzungen ins Hebräische der grossen Dichtungen der Menschheit.
Während des Ersten Weltkriegs wird Tschernikowsky als Arzt mobilisiert und erlebt erneut das Elend der Menschen im allgemeinen und die Not der Juden im besonderen aus unmittelbarer Nähe mit. Die "Melodien unserer Zeit" stammen aus dieser Zeit, in denen sich das gegenwärtige Leid der Flüchtlinge, Vertriebenen und der anderen Kriegsopfer mit der wehmütigen Erinnerung an die ferne Vergangenheit vermischt, als das jüdische Volk die Wüstensonne genoss und voller Lebensfreude war.
Er lebt einige Zeit in der Krim, dann in Odessa und führt als Arzt in einem Militärspital unter den Bolschewiken ein armseliges Leben. Er beschliesst, Russland endlich zu verlassen. Er verbringt mehrere Jahre in Berlin und besucht 1925 das britische Mandat Palästina. Er wird mit grosser Herzlichkeit empfangen; seine von verschiedenen Komponisten vertonten Gedichte werden bereits überall gesungen. Er hat sich aber noch nicht entschlossen, sich hier definitiv niederzulassen.
Erst im Jahr 1931 schifft er sich mit der Absicht nach Jaffa ein, sich dort niederzulassen. Kurze Zeit später wird er zum Schularzt in Tel Aviv ernannt. Ab diesem Zeitpunkt wird Tschernikowsky zu einer Institution in Tel Aviv. Nach dem Tod Bialiks tritt er seine Nachfolge als Präsident des hebräischen Schriftstellerverbands und als ihr Vertreter im internationalen Pen Club an. Sein Gesamtwerk wird veröffentlicht, er wird, wie Bialik, von den Schulkindern verehrt und studiert, einige seiner Gedichte müssen auswendig gelernt werden.
Mit dem Jahr 1936 beginnt in Palästina eine Epoche der antijüdischen Unruhen und Aufstände. Tschernikowsky gibt seiner Verbundenheit mit seinem Volk in feurigen Worten Ausdruck. Sein letzter, kurz nach seinem Tod veröffentlichte Gedichtband "Kochvei Schamayim Rechokim" (Die Sterne des fernen Himmels) widerspiegelt seine Reaktionen und vermittelt in lyrischer Form seine Unterstützung des Kampfes der Juden für ein Leben und für ihre Rechte im Land ihrer Vorväter.
Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs, nachdem er sich mit seiner Familie in Jerusalem niedergelassen hatte, erkrankt er und stirbt im Herbst 1943, am ersten Abend des Sukkot-Festes; er hinterlässt ein dichterisches Werk, das während fünfzig Jahren in ununterbrochener Arbeit entstanden ist.