Deplazierter 'Kulturkampf'
Von Roland S. Süssmann
Die Universität Bar Ilan ist weltweit für die hohe Qualität ihrer Ausbildung bekannt. Einer ihrer grössten Erfolge besteht in der harmonischen Verbindung von Wissenschaft und Religion, ohne dabei ihre engagierte Haltung gegenüber den Regeln des jüdischen Glaubens aufzugeben und ohne in einen engstirnigen religiösen Fundamentalismus zu verfallen. Bar Ilan, berühmt für ihre geistige Offenheit und Toleranz, hat 60% der Unterrichtenden in den Fächern des Judentums ausgebildet, aus denen heute die Lehrkörper in ganz Israel bestehen. Die Universität wurde 1955 gegründet und zählt gegenwärtig ca. 16'000 Studenten. Rabbiner Professor EMMANUEL RACKMAN, Verwalter der Universität Bar Ilan, hat mit uns über seinen Standpunkt betreffend die Berufung, die Aufgabe und die Mission einer religiösen Hochschule im Israel von heute diskutiert. Erinnern wir daran, dass Professor Rackman neben seiner Tätigkeit als Rabbiner einen Lehrstuhl für Rechtsprechung, juristische Philosophie und Geschichte der politischen Theorie an der Yeshiva University von New York inne hatte.


Welches ist die Bedeutung oder gar der Sinn einer religiösen Universität, wenn gleichzeitig alles darauf hinweist, dass das zutiefst jüdische Wesen des Staates Israel immer stärker in Frage gestellt wird ?

Die Universität Bar Ilan vertritt als solche offiziell keine politische Meinung. Wir fühlen jedoch eine bindende Verpflichtung gegenüber der jüdischen Tradition und den Werten, die mit dem jüdischen Leben und dem Boden von Eretz Israel verbunden sind, da das Judentum die beiden grundsätzlichen Ideen von Leben und Boden beinhaltet. Die verschiedenen politischen Tendenzen der israelischen Gesellschaft widerspiegeln sich in der Zusammensetzung des Lehrkörpers und der Studentenschaft, doch alle sind eng mit den jüdischen Überlieferungen verbunden und respektieren sie zutiefst. Ich möchte betonen, dass wir alle unabhängig von unseren Meinungsverschiedenheiten sehr besorgt sind angesichts der gravierenden Entwicklung der politischen Situation; die Dinge überstürzen sich zu sehr. Im Verlauf der gesamten jüngeren Geschichte des Zionismus drängte sich immer die Gewissheit auf, dass zwischen Gläubigen und denjenigen, die eine nichtreligiöse oder gar rein laizistische Gesellschaft anstrebten, irgendwann eine Reihe von Problemen auftreten würden. Doch niemand hätte sich träumen lassen, dass der heute innerhalb der israelischen Gesellschaft und des gesamten jüdischen Volkes tobende "Kulturkampf" diese Wendung nehmen und sich auf Themen wie beispielsweise Frieden - ja oder nein, Abtretung der Gebiete - wieviele sollen wir abgeben oder behalten, konzentrieren würde. Wir waren der Ansicht, diese ideologische Debatte würde sich mit dem Erziehungswesen, den Gesetzen in bezug auf die Familie, der Abschaffung des traditionellen jüdischen Rechts zugunsten des Zivilrechts in der israelischen Gesetzgebung usw. befassen. Historisch gesehen führte der "Kulturkampf" in Europa, insbesondere in Frankreich und Deutschland, zur Abschaffung des Einflusses der Religion auf die Politik und zur Trennung von Kirche und Staat. Dies war schon immer das Ziel der Partei Meretz, indem sie die zivile Eheschliessung verteidigte (obwohl in Israel nur die religiöse Heirat anerkannt wird) und die traditionellen jüdischen Gesetze durch die moderne Gesetzgebung ersetzen wollte. Heute sind all diese Überlegungen längst hinfällig geworden, der "Kulturkampf" hat eine politische oder gar militärische Dimension erlangt. Im Zentrum der Diskussion steht nicht mehr die Trennung von religiösen und nichtreligiösen Angelegenheiten. Kultur oder Glauben stehen nicht mehr zur Debatte, alles reduziert sich auf die Frage, ob man ihm vertrauen soll oder nicht... nämlich Arafat. Sind die heutigen Konzessionen nicht nur die Vorboten weiterer Zugeständnisse, die letztendlich unser Verderben bewirken werden ? Entscheidungen von historischer Tragweite werden mit verblüffender Hast durchgesetzt, obwohl die Gegenpartei keinesfalls an Frieden oder friedliche Koexistenz denkt, sondern nur die "Befreiung" und die "Vernichtung des Feindes" anstrebt.


In einer Krisenzeit spielt in der Regel die Intelligenzija eine grosse Rolle, die schliesslich die Entwicklung der Dinge in die richtigen Bahnen leitet. Glauben Sie, dass Ihre Universität dabei eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen hat, und wenn ja, welche ?

Wie ich bereits erwähnt habe, besitzt die Universität als solche keine offizielle politische Meinung. Um jedoch der Tätigkeit des Jaffe Center for Strategic Studies der Universität Tel Aviv entgegenzuwirken, besitzen wir ein Studienzentrum namens Besad Institute, das von Tom Hecht, einem kanadischen Juden, gegründet wurde, der auf diese Weise Begin und Sadat ehren wollte. Während das Jaffe Center alles zur Förderung des Friedensprozesses einsetzt, verhält sich das Besad Institute extrem vorsichtig und zurückhaltend. Es hat vor kurzem die hervorragende Studie von Professor Eliahu Kaowsky herausgegeben, die eindeutig nachweist, dass die vielversprechenden wirtschaftlichen Auswirkungen, welche die Befürworter des Friedensprozesses erwarten, äusserst übertrieben sind und auf rein illusorischen Annahmen beruhen. In diesem Bereich könnten wir eine bestimmte Funktion übernehmen. Wir sind überhaupt nicht einverstanden mit den Behauptungen von Yossi Beilin, der mit allen Mitteln eine Wand zwischen dem Weltjudentum und den Juden Israels errichten möchte. Das israelische Schulwesen strebt übrigens ein ähnliches Ziel an, denn heute wird alles daran gesetzt, um den Unterricht in Bibelkunde und jüdischer Geschichte vom obligatorischen Lehrplan zu streichen. Schon seit einigen Jahren ist jüdische Geschichte kein Pflichtfach mehr an der Matur, und heute scheint es, als ob auch die Bibelkunde aufgehoben werden soll. Diese Entscheidungen bezwecken die Zerstörung der Bande, welche die Juden verbinden, nämlich die gemeinsame Vergangenheit (dazu gehört auch die Bibel): dazu sollen nicht nur die finanzielle Unterstützung eingestellt, die von der Diaspora nach Israel fliesst (und deren zahlreiche Menschen und Institutionen, darunter auch die unsrige, dringend bedürfen), sondern auch alle verbindenden Gemeinsamkeiten vernichtet werden. Vor kurzem noch forderte Schimon Peres eine Zuhörerschaft ersten Ranges auf, "die Vergangenheit zu vergessen". Doch wir Juden wissen, dass man die Vergangenheit nicht vergisst, und dass vor allem diejenigen, die sie verdrängen wollen, ihre Wiederholung erleben müssen. Das oberste Ziel der Bar Ilan ist es, den Studierenden das Wissen, ihre Identifikationsmöglichkeiten zu lehren und eine sehr starke Verbindung zu unserer Vergangenheit herzustellen. Jeder unserer Studenten widmet 25% seiner Zeit dem Studium des Judentums in folgenden Bereichen: Bibel, Talmud, jüdische Philosophie und Geschichte. Das Studium jüdischer Fächer ist Teil des Lehrplans und Prüfungsfach. Wir bieten Kurse für Anfänger und für sehr Fortgeschrittene an, und jeder Student kommt seinen Fähigkeiten entsprechend voran. Judaistische Kenntnisse sind keine Voraussetzung für die Aufnahme an der Bar Ilan.


Die Hälfte Ihrer Studenten stammt nicht aus Kreisen praktizierender Juden, doch das Studium jüdischer Fächer ist obligatorisch. Wie kommt es, dass sie sich trotzdem bei Ihnen einschreiben ?

Bei einigen sind ganz einfach praktische Gründe ausschlaggebend, weil sie in dieser Gegend wohnen, andere sind auf der Suche nach ihrer Identität, doch die meisten kommen wegen des hohen Niveaus der Hochschule. In Israel gelten wir als die beste Universität für Psychologie, Recht, Informatik, und unsere Fakultäten für jüdische Studien, Naturwissenschaften, Mathematik, Sozial- und Humanwissenschaften geniessen einen internationalen Ruf. Wir streben unter anderem die Förderung des gegenseitigen Verständnisses zwischen religiösen und nichtreligiösen Kreisen an. Übrigens sind Zehntausende von jungen Leuten, die an der Bar Ilan studiert haben, deswegen noch lange nicht zu praktizierenden Juden geworden. Doch aufgrund ihres Wissens werden sie nie antireligiös eingestellt sein, was in Israel sehr wichtig ist. Dazu möchte ich General Jehuda Halevy zitieren, der in der Öffentlichkeit verkündete, Israel habe ihn zum Israeli, Bar Ilan jedoch zum Juden gemacht.


Das Fehlen einer jüdischen Überzeugung innerhalb einer breiten Schicht der israelischen Gesellschaft, insbesondere in der jüngeren Generation, wirft dennoch eine bedeutende Frage auf, nämlich diejenige der Verantwortung des Rabbinats und derjenigen Personen, die eine vertiefte jüdische Erziehung und Ausbildung erhalten haben. Alle sind sich der gegenwärtigen Vorgänge bewusst, doch sie bleiben sehr passiv. Wie erklären Sie sich dies ?

Leider wird in Israel alles sehr schnell zum politischen Thema. Meiner Ansicht nach hätte die nationalreligiöse Bewegung Misrachi nie eine politische Partei werden, sondern ein unabhängiges und aktives Organ bleiben sollen. Als politische Partei verhält sie sich als solche, und die Partei mit ihren Stellungnahmen, ihrem Machtstreben und ihrer internen Organisation verdrängt die Ideologie. Genau dies ist im Rahmen der Förderung des Judentums in Israel eingetreten, und die Ergebnisse sind deutlich wahrnehmbar. Natürlich ist die Situation nicht unwiderruflich oder hoffnungslos. Hin und wieder höre ich Stimmen in der extremen Linken, die sagen, der Friedensprozess in seiner gegenwärtigen Form sei vielleicht nicht der richtige Weg. Mit diesen zögernden Bekenntnissen stehen wir jedoch erst ganz am Anfang. Alle soziologischen Untersuchungen zeigen, dass die grosse Mehrheit der Israelis es zwar ablehnt, zum Praktizieren ihres Glaubens gezwungen zu werden, dass sie aber in ihrer Privatsphäre dennoch eine direkte, wenn auch nur schwache Verbindung zum Judentum pflegen möchten, und 90% von ihnen wünschen sich, dass der Staat in irgendeiner Form seinen jüdischen Charakter wahrt. Meiner Ansicht nach liegt der totale Bruch mit der Vergangenheit also noch in weiter Ferne, auch wenn eine ganze Generation sozusagen keine jüdische Erziehung erhalten hat, die ihr starke Wurzeln verliehen hätte. Der Prozess, der letztendlich zu einer Verstärkung des jüdischen Wesens im Alltag und im Staat führen wird, erweist sich als lang und steinig. Wir praktizierenden Juden haben als Ausbildungsstätte versagt, weil einerseits die nationalreligiöse Bewegung zu einer politischen Partei geworden ist, und weil andererseits das Grossrabbinat sich nicht seiner wichtigsten Aufgabe gewidmet hat, der jüdischen Erziehung in Israel. Das Rabbinat stellt für mich in seiner Gesamtheit eine grosse Enttäuschung dar. Unsere Universität wird weiterhin sowohl bei den Eltern als auch bei den Kindern bedeutende Anstrengungen auf dem Gebiet der Ausbildung unternehmen, um den jüdischen Charakter der Familien und des Staates zu bewahren und weiterzuentwickeln. Wir hoffen, die allgemeine Entwicklung des Landes, aber auch die öffentliche Meinung beeinflussen zu können, da letztere schliesslich gegen ein zu rasches und unheilbringendes Voranschreiten des gegenwärtigen Friedensprozesses vorgehen und reagieren wird.