Israel - Welches Wirtschaftswachstum ?
Von Dr. Meir Eldar *
Die wirtschaftliche Struktur des israelischen Marktes wird durch verschiedene Faktoren bestimmt, welche die gegenwärtige Situation beeinflussen: dies sind insbesondere die eingeschränkten Ausmasse des Marktes - dadurch ist die Entwicklung des Marktes eng mit einer verstärkten Ausrichtung auf den Welthandel verbunden - und das stagnierende Wachstum des BIP pro Einwohner. In diesem Artikel soll der Versuch unternommen werden, diese Gegebenheiten zu definieren und die Frage zu untersuchen, ob die verantwortlichen Nationalökonomen in entsprechender Weise auf sie eingehen.
Die Inflation, unter der die israelische Wirtschaft seit geraumer Zeit leidet, stellt keine unvermeidliche Tatsache dar, sondern ist vollumfänglich auf die unternommenen Schritte und die Schwächen der Institutionen und vor allem der Regierung zurückzuführen. Dies beweist der berühmte "Kollektivvertrag", der 1985 von der Regierung, der Histadrut (der zentralen Gewerkschaft) und den Arbeitgebern unterzeichnet wurde und ihnen jeweils folgende Aufgaben zuweist: die Regierung saniert den Staatshaushalt durch Preis- und Steuerkontrolle, die Histadrut und die Arbeitgeber stimmen einer Senkung der Gehälter und der Gewinne zu. Die Hyperinflation von 450% im Jahr 1984 konnte auf diese Weise mit einem Schlag gebändigt werden. Die eigentliche Ursache der Inflation wurde jedoch nicht beseitigt, und bis heute ist nichts zu ihrer vollständigen Eliminierung unternommen worden. Eine Inflationsrate von 5 bis 15% schadet dem Aussenhandel und den Exporten Israels vor allem mit Europa, Japan und den Vereinigten Staaten. Der Markt erreicht heute eine jährliche Inflation von 15%, und wiederum facht die Regierung diese Entwicklung an, indem sie die Gehälter im öffentlichen Sektor um reale 10% erhöht und bei den Zins- und Steuersätzen umwälzende Veränderungen vornimmt. Die Histadrut wird nun Lohnerhöhungen in der Privatindustrie und den vollen Inflationsausgleich fordern. Anlässlich der Vorlegung des Haushaltsplans rechnete das Finanzministerium mit einer Inflation von ca.8%; seit Mai steht jedoch bereits eine jährliche Rate von 14% fest.
Ein weiteres Versagen muss im Bereich der Integrationspolitik zugunsten von Immigranten aus aller Welt verzeichnet werden. Die Regierung hat es durch ihre Fehlentscheidungen verpasst, die Fortführung dieser Einwanderungsbewegung hochqualifizierter Leute anzuregen, welche der Industrie neue Impulse hätte verleihen können - eine grundlegende Bedingung für die Ankurbelung des Exports und des Aussenhandels, wie wir später sehen werden. Die aufeinanderfolgenden Immigrationswellen im Verlauf dieses Jahrhunderts haben dem Land Menschen zugeführt, die den Beruf wechseln und sich den herrschenden Bedingungen anpassen mussten. Die ca. 400'000 zwischen 1990 bis 1992 eintreffenden Einwanderer aus der ehemaligen UdSSR verfügten jedoch über berufliche Qualifikationen, die im Idealfall die Entwicklung der Exportindustrie, wie z.B. der Metall- und Maschinenindustrie, der Chemie und der Elektronik, hätten fördern können.
Zu diesen Einwanderern gehörten ein Prozentsatz an Ingenieuren und Wissenschaftlern, wie er so hoch in keinem anderen Land vorkommt. Die Anzahl der Wissenschaftler auf höchstem Niveau wurde auf 6'000 geschätzt, was an sich schon eine beeindruckende Zahl ist. Infolge einer unüberlegten geografischen Verteilung oder weil man in den Ortschaften, wo sie angesiedelt wurden, die Schaffung entsprechender Arbeitsplätze nicht vorgesehen hatte, wurden nur wenige von ihnen in einen beruflichen Rahmen integriert, der ihren Fähigkeiten entsprach. Auf diese Weise gingen hochqualifizierte menschliche Ressourcen verloren, was einerseits der Wirtschaft des Landes und andererseits den Immigranten selbst schadete. Ergebnis: Auswanderung, Verlust bedeutender Köpfe und Rückgang der ausgedehnten Alija dieser wertvollen Gruppe von Menschen. Heutigen Schätzungen zufolge treffen monatlich 6'000 Personen aus aller Welt in Israel ein im Vergleich zu 30'000 während den Rekordmonaten Ende 1990 und Anfang 1992. Auch die berufliche Zusammensetzung der Immigranten hat sich verändert. 1990 zählte man 25% Ingenieure, 1993 sind es nur noch 16%; Leute, die ihre Ausbildung nach über 13 Jahren mit einem Diplom abgeschlossen haben, machten 57% aus, heute nur noch 43%. Von den Wissenschaftlern, die mit der ersten Einwanderungswelle eingetrafen, haben 7,5% das Land wieder verlassen; die gegenwärtige Auswanderungsrate ist zwar nicht genau bekannt, liegt aber bestimmt recht hoch. Die Ausgaben der Regierung wurden aufgrund des verringerten Einwanderungsstroms gekürzt, und man kann ebenfalls davon ausgehen, dass die Auswanderung die Arbeitslosigkeitszahlen verminderte, die im Januar dieses Jahres bei ungefähr 8% lag und somit wieder einen ähnlichen Stand wie vor der grossen Einwanderungswelle erreicht hat (bei den Einwanderern liegt die Arbeitslosigkeitsrate zur Zeit bei 20%).
Im internationalen Handel Israels, der immerhin lebenswichtig für diesen kleinen Markt ist, konnte keine bedeutende Verbesserung verzeichnet werden. Seit 1994 nimmt das Importvolumen zu, während die Exporte nur geringfügig angestiegen sind. Das monatliche Handelsbilanzdefizit schnellte von 350 Millionen US-Dollar 1993 sprungartig auf 500 Millionen US-Dollar 1994. Das Handelsbilanzdefizit hat bisher keine negativen Auswirkungen auf den Stand der Reserven gezeitigt, dank einer zusätzlichen Anleihe von 1 Milliarde US-Dollar, für welche die Regierung der Vereinigten Staaten im März 1994 die Garantie übernahm; es handelt sich dabei um eine erste Anleihe dieser Art über eine Gesamtsumme von 3 Milliarden US-Dollar. Nach einer Untersuchung der Exportzahlen der letzten Jahre kommen wir zum Schluss, dass das gesamte Exportvolumen zwischen 1976 und 1985 37% bis 51% der Jahresproduktion dieser Jahre ausmachte, während es zwischen 1986 und 1993 nur noch 33% bis 41% der Gesamtproduktion verkörpert. Diese schwerwiegende Verschlechterung gefährdet das wirtschaftliche Wachstum, das hauptsächlich auf der Ausdehnung des internationalen Handels von Israel und insbesondere auf einer verstärkten Beteiligung am Welthandel beruht; unter den gegebenen Umständen ist dieses Ziel nur schwer zu verwirklichen. Auf die optimistische Stimmung Ende 1993 infolge der politischen Entwicklungen in dieser Region und der Friedensverhandlungen folgte eine Phase der Unsicherheit und der realistischeren Lagebeurteilung was die eventuellen wirtschaftlichen Auswirkungen eines Friedensvertrags angeht. Die Unterzeichnung der Abkommen von Kairo zwischen Israel und der PLO hat an diesen gemischten Gefühlen nichts ändern können. Seither hat weder eine Intensivierung des Handels noch eine Reduzierung des Militärbudgets stattgefunden. Die Politik, welche das Verhältnis zwischen den autonomen Zonen und Israel bestimmen wird, erweist sich noch als sehr zögernd und wirft zahlreiche Fragen auf. Welcher Art werden die Beziehungen zwischen einem Markt mit einem jährlichen BIP von 12'000 US-Dollar pro Kopf und einer Wirtschaft sein, in der das BIP nur 1'700 pro Einwohner beträgt ? Die Weltbank geht in ihren Schätzungen davon aus, dass ein Anstieg um 3% des BIP pro Kopf möglich ist, wenn die autonomen Zonen die versprochene internationale Unterstützung erhalten, wenn alle Projekte in den Bereichen Infrastruktur und wirtschaftliche Entwicklung in der Höhe von 2,5 Milliarden US-Dollar anlaufen und wenn Israel 120'000 palästinensische Arbeitnehmer beschäftigt: das Jahreseinkommen würde somit im Jahr 2003 2'300 US-Dollar pro Kopf erreichen. Daraus folgt, dass beide Wirtschaften sich in bezug auf Produkte und internationale Dienstleistungen für die Ausfuhr unerbittlich Konkurrenz machen müssen. In einer ersten Phase konzentriert sich die israelische Industrie auf die Produktion von Artikeln, für welche ihre reichen menschlichen Ressourcen eingesetzt werden, während die autonomen Zonen vor allem auf ihre Arbeitskraft zurückgreifen müssen. Nur im Hinblick auf eventuelle gemeinsame internationale Operationen besteht eine Möglichkeit der Zusammenarbeit. Die gegenseitige Öffnung kann beiden Märkten nur abträglich sein. Die Arbeiter der Autonomie werden in Israel in untergeordneten Stellen beschäftigt, was ihre berufliche Weiterentwicklung einschränken wird. In Israel hingegen wird der technische Fortschritt in bestimmten Sektoren, wie z.B. dem Bauwesen, gebremst. Um den tiefen Graben zwischen beiden Volkswirtschaften endgültig zu überbrücken, müsste das Pro-Kopf-Einkommen in der autonomen Zone jährlich um 5 bis 6% zunehmen. Dies wird nur möglich sein, wenn der Markt eine Politik der hohen Spezialisierung in der für die Ausfuhr bestimmten Industrie und Landwirtschaft verfolgt. Ein getrenntes Funktionieren der Wirtschaft bedeutet nicht zwangsläufig auch eine politische Trennung.
Abschliessend könnte man sagen, dass die Probleme, mit denen die Wirtschaft zu kämpfen hat, nicht genau genug umrissen wurden: so konnte die hartnäckige Inflation weiterbestehen, sich zu einer permanenten Tatsache entwickeln und angesichts einer fehlenden Integrationspolitik für die Einwanderer zum Instrument eines wirtschaftlichen Aufschwungs werden, das die zukünftigen Beziehungen zwischen Autonomie und dem israelischen Markt bestimmt hätte. Diese Schwierigkeiten kommen in der Zahlungsbilanz zum Ausdruck, konnten aber durch Transfers ohne Gegenleistung, wie Subventionen, äusserst günstige Kredite und die Garantien "gedeckt" werden. Im Falle bestimmter Veränderungen droht die israelische Zahlungsbilanz jedoch in Mitleidenschaft gezogen zu werden. Um einer derartigen Situation vorzubeugen, müsste man sich zunächst des eingeschränkten Ausmasses des israelischen Marktes bewusst werden und erkennen, dass sein Wachstum von der Wettbewerbsfähigkeit seiner Produkte und seiner Dienstleistungen auf dem Weltmarkt abhängt. Der Anstieg der internationalen Handelstätigkeit Israels könnte die hartnäckige Inflation verringern, die Integration der Einwanderer erneut in Schwung bringen und den Prozess der Alija sowohl auf qualitativer als auch quantitativer Ebene intensivieren. Israel muss die wirtschaftliche Entwicklung der Autonomie mit aller Macht unterstützen und ermutigen und sie zur Spezialisierung in Export, Industrie und Landwirtschaft sowie zur Erweiterung ihres internationalen Handels drängen.
1993 legte Professor Herman Branover auf Anfrage von Itzhak Shamir einen detaillierten Plan für die Eingliederung der hochqualifizierten Immigranten in Unternehmen vor, die sich auf die Produktion für den Export konzentrierten. Professor Branover wurde zum Leiter einer vom Premierminister geschaffenen Kommission ernannt, deren Ziel die Entwicklung eines grundlegenden Programms für die Beschäftigung der Einwanderer und die Stimulierung der Wirtschaft ist. Im Rahmen dieses Plans forderte er die Schaffung von fünf Export-Freizonen im ganzen Land, wodurch 130'000 neue Arbeitsplätze entstehen sollten. Diese Projekte wurden jedoch nicht verwirklicht, und die Regierung schlug die Schaffung einer einzigen Export-Freizone vor. Die entsprechenden Gesetze wurden im vergangenen Juni fertiggestellt. Das Besondere dieser Zone liegt darin, dass Investoren angezogen werden, die über Kapital, technisches Know-how und Absatzmärkte für ihre Produkte verfügen; sie werden zur Schaffung von Industriebetrieben oder Dienstleistungen in einem Umfeld freier wirtschaftlicher Betätigung unter Umgehung der schwerfälligen israelischen Bürokratie ermuntert. Auf diese Weise können die Vorteile des israelischen Marktes, insbesondere die Qualität der menschlichen Ressourcen und eine gut entwickelte finanzielle Infrastruktur, nach Bedarf eingesetzt werden. Die Schaffung von Export-Freizonen stellt ein grundlegendes Instrument für eine verstärkte israelische Beteiligung am Welthandel dar. Die in Israel bisher durchgeführten traditionellen Massnahmen - Subventionen dank dem "Gesetz zur Förderung von Kapitalinvestitionen", Finanzierung von Forschung und Entwicklung über den wissenschaftlichen Direktor, diverse direkte oder indirekte Unterstützungen für Export und Marketing - erwiesen sich nicht als ausreichend wirksam, um sich in einem kontinuierlichen Wirtschaftswachstum, einer positiven Zahlungsbilanz und einem Devisenüberschuss niederzuschlagen. Das Anziehen von Investoren, welche über den Schlüssel zum internationalen Markt verfügen, stellt demnach eine Ideallösung zur Bekämpfung der drängenden Probleme der israelischen Wirtschaft (Inflation, Eingliederung der Alija, Zahlungsbilanz und Beziehungen zu den autonomen Zonen) dar.