Mit seiner Zeit leben
Von Rabbiner Zalman I. Posner *
Der religiöse Akt des Kerzenanzündens, bekannt unter der hebräischen Bezeichnung "Hadlakath Neroth", spielt im jüdischen Leben, insbesondere im Rahmen des Schabbat, des Tempels von Jerusalem oder des Chanukkahfestes, eine zugleich vielschichtige als auch stark symbolische Rolle. Jede Familie, in der das Judentum - selbst symbolisch - gelebt wird, kann durch die Präsenz des Schabbatleuchters sofort als solche definiert werden. Der Tempel von Jerusalem und sein Sinnbild, die Menorah, der berühmte siebenarmige Leuchter am Eingang zum Allerheiligsten, wurde zum offiziellen Emblem des Staates Israel. Die "Chanukkiah", der achtarmige Leuchter, symbolisiert Chanukkah, das am intensivsten gefeierte Fest des jüdischen Kalenders, Jom Kippur eingeschlossen.
Die Lichter von Chanukkah zeichnen sich durch zwei Besonderheiten aus. Sowohl für Schabbat als auch für den Tempel von Jerusalem bleibt die Anzahl Kerzen identisch, während sie an Chanukkah jeden Tag zunimmt. Ausserdem müssen die Kerzen für Schabbat und den Tempel von Jerusalem unter allen Umständen bei Tageslicht angezündet werden; die Chanukkah-Kerzen hingegen dürfen erst nach Einbruch der Nacht leuchten. Diese beiden Unterschiede ergänzen einander. Solange die Sonne scheint, gleichen sich nämlich die Tage ein wenig: gestern könnte auch heute sein. Ganz anders sieht es aus, wenn die Nacht hereingebrochen ist. Wenn Dunkelheit herrscht, reichen die Lichter des Vorabends allein nicht mehr aus, und die Kerzen, die wir heute anzünden, können die morgige Nacht nicht mehr erhellen.
Diese Symbolik erinnert uns an folgendes: solange die Sonne scheint, solange das jüdische Leben blüht und solange die Erfüllung der göttlichen Gebote und der jüdischen Sittlichkeit - Torah und Mitzvoth - die Norm darstellen, können wir uns damit begnügen, unsere alltäglichen Gesten durchzuführen, da unsere Handlungen dadurch gut werden. Früher war die Welt noch so geartet und heute erleben wir die Wiederbelebung dieses intensiven jüdischen Lebens, das in der Assimilierung verloren gegangen war. Wenn aber "die Sonne untergeht" und die Einhaltung der Torah und der Mitzvoth sich allmählich immer weiter von unserem Alltagsleben entfernt, müssen wir diese Flammen, die immer noch tief innen in unserer jüdischen Seele glimmen, erneut anfachen. Es geht nun darum, die Vorschriften unseres religiösen Kulturgutes den Mitgliedern einer Gesellschaft nahe zu bringen, die sich mit einer durch und durch weltlichen Umgebung zufriedengibt und sich in ihr gefällt; doch die Routine in Glaubenssachen, die "in der Welt von gestern, in der die Sonne schien" zur Tagesordnung gehörte, ist diesen Anforderungen überhaupt nicht gewachsen. "Die Kerzen" von gestern reichen nicht mehr aus, denn unsere Taten, die routinemässige Erfüllung der Mitzvoth und die Verbreitung der Torah, des Lichts, erweisen sich am heutigen Tag vielleicht als genügend, doch morgen können sie angesichts der Herausforderungen der Zukunft völlig unzulänglich sein.
Dieser Gedanke der ständig erneuerten Bemühung und der fortlaufenden Weiterentwicklung lehrt uns auch ein anderer Aspekt des Chanukkah-Festes. Die Erfüllung einer Mitzvah kann entweder ganz schlicht oder aber mit "Hidur Mitzvah" erfolgen, d.h. mit einer Verschönerung der religiösen Handlung. Natürlich reicht für die meisten von uns die minimalistische Erfüllung häufig aus. Dies gilt jedoch keinesfalls für die Kerzen von Chanukkah. Gemäss dem Gesetz wäre es eigentlich genug, während acht Tagen an jedem Abend eine Kerze anzuzünden. Doch heute denkt keiner daran, so vorzugehen. Die hier durchaus angebrachte "Hidur Mitzvah" beruht nämlich auf der Tatsache, dass an jedem Abend eine Kerze zusätzlich angezündet wird, eine am ersten Abend, zwei am zweiten, usw. Idealerweise verfügt jedes Mitglied der Familie über eine möglichst schöne persönliche Chanukkiah. Auch dies symbolisiert den fortlaufenden Fortschritt, die unaufhörliche Verbesserung der Qualität und vor allem die Weigerung, sich mit den Errungenschaften von gestern zu begnügen und zufriedenzugeben.
Können wir daher behaupten, dass Chanukkah das wichtigste Fest des jüdischen Kalenders ist ? Bestimmt nicht, da jedes Fest zu seiner Zeit unersetzlich ist ! Eine klassische Idee der jüdischen Tradition besagt, dass "mit seiner Zeit leben" gleichbedeutend ist mit der Forderung, sich von der Lektüre und der Interpretation der Parascha (Teil des Pentateuchs, der jede Woche in der Synagogue gelesen wird) leiten zu lassen und ihrem Rhythmus zu folgen. Chanukkah vermittelt uns in der Weise, in der dieses schöne Fest gefeiert wird, eine zusätzliche und ergänzende Lehre. Die Chanukkah-Kerzen mit derselben Inbrunst anzuzünden, wie wir an Kol Nidre beten, den heutigen Tag zu schätzen, zu würdigen und zu verherrlichen, ohne dabei das vielversprechende Morgen aus den Augen zu verlieren, dies ist nach jüdischem Glauben die Botschaft der Aufforderung, mit seiner Zeit zu leben.