Sir John Pitchard, His Life in Music
Von Helen Conway
Was haben die Callas und Frau HELEN CONWAY, eine gute Mutter, Grossmutter und praktizierende Jüdin aus London, miteinander gemein ? Beide haben Sir John Pritchard, den warmherzigsten und beliebtesten britischen Dirigenten zwischen 1947 und 1989 gut gekannt und mit ihm gearbeitet. Die Callas hat auf dem Höhepunkt ihrer Karriere mit ihm zusammengearbeitet. Helen Conway hingegen hat vor kurzem eine Biographie zum Leben dieses Mannes herausgegeben, der die Welt der Musik in allen Kontinenten, in Europa, Südafrika, Australien, den USA, China und selbst in Israel, geprägt hat.
Unter dem Titel "Sir John Pritchard, His Life in Music" erzählt Helen Conway von allen Werken, die Sir John Pritchard dirigiert hat; sie berichtet von den glanzvollsten Konzerten, den komplexesten Opern, von seinen Auftritten vor den gekrönten Häuptern Europas und vor allem von seinem Geschick, neue Talente zu entdecken, sie auszubilden, sie zu unterstützen, ihre schönsten Gaben zur Entfaltung zu bringen. Gewisse Namen sind am Firmament des musikalischen Ruhms erstrahlt oder leuchten auch heute noch. Helen Conway führt die Leser auf eine Reise durch die komischen und tragischen Momente im Leben Sir John Pritchards, dank ihr erfährt man von seinen Freuden, seinen Niederlagen und seinen Erfolgen. Mit ihrem Reichtum an wichtigen Einzelheiten hebt Helen Conway, ohne in Bedeutungslosigkeiten zu versinken, den Geist und die Sensibilität hervor, welche die Arbeit des Meisters am Dirigentenpult auszeichneten. Dieses Buch ist in mehr als einer Hinsicht von besonderem Interesse. Die Autorin hatte nämlich nicht nur Zugang zu allen privaten Unterlagen und Aufzeichnungen des grossen Musikers, sondern erhielt auch als Erste Zugang zu den Archiven der Opernhäuser und grossen Konzertsäle der Welt, in denen Sir John Pritchard tätig war. Die berühmtesten Persönlichkeiten der klassischen Musik, die mit dem Dirigenten zusammengearbeitet hatten, haben sich bereit erklärt, Helen Conway zu treffen und sehr ausführlich auf ihre Fragen über ihre Arbeitsbeziehungen mit dem berühmten Mann zu antworten.
Wie kommt aber eine jüdische Grossmutter dazu, eine Biographie zu schreiben ? Helen Conway begann im Alter von vier Jahren Klavier zu spielen und war anschliessend Schülerin von Gerard Moorat und Harald Craxton. Ihre Liebe zur Musik und der Beruf ihres Ehemannes Victor, der Berater für die privaten und geschäftlichen Angelegenheiten der grössten Musiker der zeitgenössischen klassischen Musikwelt war, bereicherten mit der Zeit ihre musikalische Erfahrung und ihr Wissen in diesem Bereich. Neben ihrer sehr grossen Allgemeinbildung genoss Helen das Privileg, bei den Proben, Aufnahmen, Konzerten und Opernaufführungen der berühmtesten Künstler unserer Zeit dabeizusein.
Seit 1977 planten Sir John Pritchard, Helen und Victor Conway die Veröffentlichung einer Biographie, "Sir John" hatte ausserdem mehrere Essay geschrieben, in denen er von seinen beruflichen Beziehungen mit verschiedenen Künstlern sprach. Leider war ihnen die Zeit nicht gegeben, dieses Projekt gemeinsam zu verwirklichen. Helen Conways Buch vertritt den umgekehrten Standpunkt: die Menschen, die Sir John Pritchard gekannt und geschätzt haben, berichten mit Wehmut und Begeisterung von ihren Erinnerungen an ihn. Die Autorin begnügt sich jedoch nicht mit einem rein erzählerischen Buch, in dem das Leben eines grossen Talents aufgezeichnet wird. Ihr Buch schliesst mit einer Reihe von Anhängen mit Analysen seiner Arbeit, seines Stils, seines beständigen Strebens nach Perfektion und nach dem richtigen Tempo, seiner Art zu dirigieren und seiner Auslegung bestimmter Werke. Dazu kommt eine über 40-seitige Diskographie mit Angaben zu genauem Erscheinungsdatum, Komponist, Werk, Orchester und Namen der Solisten wie Yehudi Menuhin, Elisabeth Schwarzkopf, Joan Sutherland, Kiri Te Kanawa, ohne die berühmten Orchester zu vergessen, wie z.B. die Wiener Philharmoniker, das London Philharmonic, das Orchestre National de France, und ein sehr eindrückliche Liste, die wir hier unmöglich aufzählen können.
Zahlreiche Menschen erinnern sich an den Mann, der von seinen Freundinnen zärtlich "John" genannt wurde, in jener Zeit, als er das BBC Symphony Orchestra als Chefdirigent leitete. Seine Ernennung an die Spitze dieses prestigereichen Ensembles verkörpert in Wirklichkeit die Krönung einer überaus erfolgreichen Karriere. Seine Arbeit mit dem Derby String Orchestra und dem Royal Liverpool Philharmonic Orchestra, die Vervollkommnung seiner Dirigierkunst in Glyndebourne, San Francisco, Brüssel, Covent Garden und Köln ebneten ihm den Weg zum Höhepunkt seiner Kunst, die jedesmal dann erstrahlte, wenn er im Orchestergraben eines Opernhauses dirigierte.
In ihrer Einführung erklärt Helen Conway, dass sie angesichts des überwältigenden Umfangs des schriftlichen Materials und der persönlichen Erinnerungen zu einer gewissen Auswahl gezwungen wurde. Das Leben und das Werk Sir John Pritchards sind natürlich zu reichhaltig und zu komplex, um in einem kurzen Artikel zusammengefasst zu werden. Wir haben unser Interesse also speziell seiner Reise nach Israel und seiner dortigen Arbeit zugewandt.
Der Gedanke an einen Aufenthalt in Israel war im Verlauf einer Unterhaltung mit den Mitgliedern des Israel Philharmonic Orchestra (IPO) und mit Professor Dr. Michel Hampe der Kölner Oper enstanden. Zubin Metha wünschte, mit dem IPO "Tristan und Isolde" von Wagner in einer Produktion der Kölner Oper aufzuführen. Diese Idee löste in Israel einen derartigen Skandal aus, dass sie in der Knesset besprochen und letztendlich aufgegeben wurde. Der Kontakt zwischen den beiden Orchestern blieb aber bestehen und führte zu einer unterschiedlichen Form der Zusammenarbeit.
Das Mann Auditorium von Tel Aviv, der Saal des IPO, war eigentlich nicht für Opernaufführungen vorgesehen worden. Die Ausrüstung und die notwendigen Einrichtungen wurden von der Stadt Köln, der Partnerstadt von Tel Aviv, zur Verfügung gestellt. Eine Vorstellung der Kölner Oper wurde in die Abonnementsserie des IPO aufgenommen. Prof. Dr. Hampe bemühte sich mit dem deutschen Auswärtigen Amt und dem IPO um die Organisation des finanziellen Bereichs. Da es sich schliesslich um eine zwischen zwei Klangformationen, einem Opernhaus und einem Orchester, arrangierte "Privatangelegenheit" handelte, kam die Reise nach Israel weit billiger zu stehen als diejenige der Opern von Hamburg oder Berlin. Das Kölner Opernhaus gab in Zusammenarbeit mit dem IPO ein Dutzend Aufführungen anstatt der drei oder vier, welche die Opernhäuser der beiden anderen Städte für denselben Betrag geliefert hatten. Neben dem rein künstlerischen Erfolg war die Operation auch finanziell erfolgreich und diente später als Vorbild für weitere musikalische Vereinbarungen zwischen Deutschland und Israel.
Im Gegensatz zu europäischen oder amerikanischen Orchestern arbeitet das IPO recht isoliert, da es keine Tourneen in den angrenzenden Ländern durchführen kann. Das Orchester ist demnach vollständig von der Subskription der Abonnemente abhängig, und das Programm muss sehr sorgfältig ausgearbeitet werden. Es ist schon vorgekommen, dass nach der Aufnahme eines modernen und unbekannten Werkes in das Programm eine ganze Reihe von Abonnementen nicht erneuert wurden und die Programme der gesamten Saison umgestellt werden mussten. Das IPO wurde 1936 gegründet, ist eine nationale Institution und gehört zu den aktivsten Orchestern der Welt, da es jährlich nur ihm Rahmen der Abonnementskonzerte über zweihundert Vorstellungen gibt. Da seine Musiker zu einem grossen Teil aus Osteuropa stammen, gelten die Qualität und die Klangfarbe seiner Streicher als einzigartig. Zubin Metha arbeitet seit über zwanzig Jahren mit dem IPO zusammen, und das Orchester pflegt immer noch seinen aussergewöhnlichen Kontakt zu Isaac Stern. Dasselbe galt zu ihren Lebzeiten für Arthur Rubinstein und Leonard Bernstein.
Anlässlich seiner israelischen Tournee vom 23. Januar bis zum 10. Februar 1982 spielte die Kölner Oper "Cosi fan Tutte" von Mozart und "Wozzeck" von Berg. Die Israelis waren bei dem Gedanken, auch "Wozzeck" ins Programm aufzunehmen, nicht unbedingt begeistert, sie fürchteten, es entspräche nicht dem Publikumsgeschmack und würde sich auf den Verkauf der Abonnemente auswirken. Doch Professor Hampe und Sir John Pritchard legten besonderen Wert darauf, ein unter Hitler verbotenes Werk aufzuführen, dessen Komponist von den Deutschen verfolgt worden war. Letztendlich wurde ein Kompromiss gefunden, "Wozzeck" wurde nur an drei Konzerten gespielt. Natürlich waren diese Abende als erste ausverkauft. Wie immer, wenn Sir John mit einer neuen Herausforderung konfrontiert wurde, setzte er sich mit ganzem Herzen ein. Während einer Orchesterprobe in Tel Aviv kam es während eines Gewitters zu einem fürchterlichen Donnerschlag. Ohne seine Kaltblütigkeit zu verlieren sagte Sir John: "Wer auch immer diesen entsetzlichen Krach gemacht hat, soll sofort damit aufhören". Am Ende der Reise fasste Professor Hampe den Aufenthalt in Israel folgenderweise zusammen: "Es gehörte zu meinen wichtigsten Erfahrungen meines Lebens, den "Wozzeck" zum ersten Mal in Israel gespielt zu haben. Dasselbe gilt wohl auch für John".
Sir John Pritchard starb am 5. Dezember 1989. Schon stark geschwächt von seiner Krankheit, bestand er dennoch darauf, den Orlando Furioso in San Francisco zu dirigieren. John wollte eine neue Version des Werkes von Vivaldi aufführen und das Konzert sollte im Fernsehen übertragen werden. Da er seine Krankheit nicht akzeptieren wollte, begab er sich im Rollstuhl an das Konzert. Man hatte Randhall Behr, einen jungen Dirigenten der Oper von Los Angeles, kommen lassen, der Marilyn Horne, den Star von Orlando, gut kannte. Er stellte sich hinter Sir Johns Rollstuhl und dirigierte hinter seinem Rücken, so dass der Eindruck entstand, Sir John habe die Leitung des Orchesters noch fest in der Hand.
Nach seinem Tod - sein Sarg wurde per Flugzeug nach London gebracht - hielt das Opernhaus von San Francisco in der Grace Cathedral einen Gedenkgottesdienst ab. Sein Nachfolger Lotfi Mansouri spielte zu diesem Anlass das Lieblingsstück von Sir John, den "Marsch der Priester" aus Mozarts Idomeneo.
Sir John Pritchard weilt heute nicht mehr unter uns, doch sein Werk wird weiterbestehen. Die von Helen Conway verfasste Biographie ermöglicht all jenen, die den grossen Musiker nie am Dirigentenpult erlebt haben, ihn auf diese Weise zu entdecken und schätzen zu lernen.