Porträt eines Meisters und Freundes
Von Dr. Paul Zylbermann
ANDRÉ NEHER war einer der grössten Denker des zeitgenössischen Judentums. Sein Werk hat auch im Verlauf der Jahre seine erstaunliche Aktualität bewahrt. Geboren in Obernai 1914, gestorben in Jerusalem 1988. Obernai, ein elsässisches Dorf, in dem der jüdische Glaube zugleich in der Achtung vor der Tradition und in zwischenmenschlicher Wärme gelebt wurde. Durch seine Kreise, vor allem durch seinen Vater, eignet sich André Neher ganz natürlich ein sehr reiches Wissen an, sowohl auf profanem als auch auf religiösem Gebiet. Letzteres vertieft er in der Jeschiwa von Rav Botschko in Montreux. So vereinigt er in sich in harmonischer Synthese zwei Welten, die keinesfalls aufeinanderprallen, sondern sich gegenseitig befruchten.
Jerusalem, die Stadt, in der er sich mit seiner Frau Renée bewusst zu leben entschlossen hat, zu dem Zeitpunkt, als seine Arbeit, seine Bekanntheit in Frankreich ihren Höhepunkt erreicht hatten: er war Professor an der Universität von Strassburg, Präsident der französischen Sektion des Weltjudenkongresses, Organisator der Konferenzen der jüdischen Intellektuellen in Frankreich, berühmter Verfasser eines bedeutenden Werkes, das in mehrere Sprachen übersetzt wurde.
Als junger Deutschlehrer wird er aufgrund der Judengesetze Ende 1940 von seinem Posten verjagt. Er verbringt die Kriegsjahre damit, sich noch mehr in die Bibel, in den Talmud und in alle Bereiche der jüdischen Überlieferung zu vertiefen. In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, da seine schöpferische Phase anbricht, beschäftigt sich André Neher ausschliesslich mit den beiden Ereignissen, die das jüdische Jahrhundert prägen: die Vernichtung von sechs Millionen Juden in der Schoa und die Wiederentstehung des Staates Israel, die seit achtzehn Jahrhunderten erwartet wird.
Einige Schlüsselereignisse im Leben André Nehers.
Eine gewöhnliche Laufbahn hätte ihm eine Karriere als Deutschprofessor prophezeiht, doch als von der Schoa durchdrungener Mensch - im Gegensatz zum Propheten Jonas, der beim Ruf G"ttes die Flucht ergriff -, fühlte sich André Neher von G"tt aufgefordert und gab die Antwort eines jeden Juden, die seit Abraham dieselbe ist: "Hineni", "hier bin ich, zu deiner Verfügung". Frei von jeder Verpflichtung war er jedoch nicht. Um es zu werden musste er seine "vorprogrammierte" Karriere als Germanist unterbrechen. Dies beschliesst er tatsächlich zu tun. Er verbrennt seine Doktorarbeit über Heine, die schon weit fortgeschritten war, und beginnt mit einer anderen Arbeit, die er dem Propheten Amos widmet. Er präsentiert sie im Dezember 1947, kurz vor seiner Hochzeit.
Seine Tätigkeit im Rahmen der Universität: Ein Lehrstuhl für Hebräisch und jüdische Kultur, der in Strassburg für ihn geschaffen wird, ermöglicht ihm, diesen Fächern bis anhin nie dagewesenes Prestige und neue Impulse zu verleihen. Eines der Ergebnisse seiner Bemühungen besteht in der Anerkennung des Hebräischen als erste Fremdsprache für das Baccalauréat (französische Maturität).
Ein Bild aus jener Zeit: der Empfang des Nobelpreisträgers S.Y. Agnon an der Universität Strassburg und an der Sorbonne. Die Rede, die André Neher zu diesem Anlass über das Werk von Agnon hält, gilt bis heute als Ereignis der Welt der Literatur. Sie wird in seinem Buch "Jerusalem, jüdische Erfahrung und Botschaft" veröffentlicht.
Seine Tätigkeit umfasst auch seine Arbeit im Dienste der Konferenzen der jüdischen Intellektuellen in Frankreich.
Die "Konferenzen": Ein persönlicher Erfolg und gleichzeitig derjenige eines ganzen Teams. Ein Ort der Besinnung, des Dialogs mit denjenigen, welche die Botschaft der Schriften studieren, vor allem aber mit denjenigen, die "anders denken". Die Konferenzen haben Denker hervorgebracht, die ihrerseits wiederum viele Juden dazu veranlasst haben, sich selbst zu entdecken.
Seine Tätigkeit besteht sein Leben lang auch aus dem Kampf für ein besseres Verständnis und eine aufrichtigere Brüderlichkeit zwischen den Juden unterschiedlicher Herkunft und Abstammung. Sein Einfluss, insbesondere 1962 bei der massiven Ankunft der algerischen Juden in Frankreich, kann nicht genug betont werden. Sein Streben nach Öffnung und Dialog bestätigt sich auch im Hinblick auf alle menschlichen Probleme. André Neher verkörpert somit die revolutionäre Auslegung, die er dem Vers 19,18 Levitikus verleiht, indem er übersetzt: "Du sollst deinen Fernsten lieben wie dich selbst."
Seine Tätigkeit hat schliesslich nach der Veröffentlichung des "Brunnen des Exils" im Jahr 1966 auch den maharalischen Studien neuen Aufschwung gegeben. Dieses Werk wird für immer ein Klassiker und eine Referenz bleiben. Auf diese Nachforschungen über das jüdische Denken des 16. Jahrhunderts folgt eine Studie über "David Gans, Schüler des Maharals von Prag, Assistent von Tycho Brahe und Johannes Kepler" und das Buch "Faust und der Maharal von Prag".
Endlich kommt die Zeit, da der gemeinsame Traum von André und Renée Neher sich verwirklichen lässt: die Alija, die Niederlassung in Israel.
Seit zwanzig Jahren hat André Neher ununterbrochen gelehrt und geschrieben; nun bricht eine neue und bedeutende Schaffensphase an. In den Jahren 1968-88 beendet er in Jerusalem eines seiner wichtigsten Werke: "Das Exil der Sprache, Vom biblischen Schweigen zum Schweigen von Auschwitz". Seine anfällig gewordene Gesundheit bremst allerdings seine Aktivitäten in der Öffentlichkeit. Seine Bücher und Artikel hingegen erscheinen zahlreich in Französisch und Hebräisch.
Auch aus dieser Zeit einige Bilder unter vielen:
- 1975 die Überreichung durch den israelischen Staatspräsidenten der "Mélanges André Neher"; diese Sammlung wird ihm zu seinem 60. Geburtstag von seinen Schülern, Freunden und Kollegen geschenkt.
- 1977 wird André Neher für seine originellen und anregenden Gedanken über die Schoa von den ehemaligen Deportierten des Lagers Bergen-Belsen der Preis "Zikaron" (Preis der Erinnerung) verliehen. Diese Gedanken kommen ganz besonders in "Das Exil der Sprache", aber auch in anderen Büchern und Artikeln zum Ausdruck.
- Seine Teilnahme am "Zirkel zum Studium der Bibel", der bei den Präsidenten Shazar und Katzir, später beim Premierminister Menahem Begin organisiert wird. In diesem Zirkel trifft sich die gesamte intellektuelle Elite in Jerusalem.
- Sein Haus schliesslich, das er mit seiner Frau all jenen geöffnet hat, die von völlig unterschiedlichen Horizonten nach Jerusalem zusammenströmen. Hier wurden sie herzlich aufgenommen und mit einem gelassenen und heiteren Lächeln bedacht, das diejenigen, die es erlebt haben, nie vergessen werden.
Dieser allzu kurze Abriss dieser bedeutenden Existenz lässt dennoch die Bedeutung vom Leben und Werk André Nehers erahnen. Zum besseren Verständnis sollte ausserdem die fruchtbare Zusammenarbeit in Gedankenwelt und Arbeit betont werden, die während über vierzig Jahren André und Renée Neher, seine Lebensgefährtin, miteinander verband.
Als praktizierender Jude, der tief mit seiner Tradition verwurzelt und gleichzeitig allen Strömungen der Geschichte und des Denkens offensteht, antwortet André Neher durch seine Schriften auch heute noch auf die Fragen, die uns beschäftigen.