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Inhaltsangabe Ethik und Judentum Herbst 2008 - Tischri 5769

Editorial
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Rosch Haschanah 5769
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Verzichten, Aber Wann?

Von Rabbiner Shabtai A. Rappoport *
Als die Nieren von G. den Dienst aufgaben, war er 95 Jahre alt und hatte bereits einige Schlaganfälle erlitten. Er lag im Koma und würde das Bewusstsein aller Wahrscheinlichkeit nicht mehr erlangen. Die Niereninsuffizienz war lebensgefährlich und um G. zu retten, gab es keine andere Lösung als die Hämodialyse.
Von dieser Behandlung versprach man sich nicht die geringste Verbesserung des Gesundheitszustandes des Kranken; es ging ausschliesslich darum, sein Leben im gegenwärtigen Zustand zu verlängern. Die Direktion des Krankenhauses wandet sich also an die Familie: sollten die lebenserhaltenden Massnahmen zugunsten von G. alle zur Verfügung stehenden Mittel einschliessen, ohne Rücksicht auf negative Nebenwirkungen und auf die hoffnungslose Ausgangslage?
Im Kodex von Maimonides befinden sich die Gesetze über die Rettung von Menschenleben im selben Band wie die Gesetze zum Mord. Das Werk trägt den Titel: Gesetze über den Mörder und die Erhaltung des Lebens.  Im ersten Kapitel (Abs. 14) hält Maimonides fest, dass „jeder, der ein Leben retten könnte und dies nicht tut, gegen ein biblisches Gebot verstösst. ‘Du sollst auch nicht auftreten gegen deines Nächsten Leben.’ (Levitikus 19, 16)“
Er fügt hinzu (Abs. 16): „Obwohl der Verstoss gegen diese Gebote nicht mit Peitschenhieben bestraft wird, weil es passive Gebote sind, handelt es sich dabei doch um schlimme Vergehen. Denn derjenige, der eine einzige Seele Israels zerstört, ist ebenso schuldig, als ob er die ganze Welt vernichtet hätte, und bei demjenigen, der eine einzige Seele Israels rettet, ist es, als ob er die ganze Welt gerettet hätte.“
Verzichtet man also gemäss dieser Aussage darauf, ein Leben zu retten, entspricht dies einem passiven Mord, einer Tat also, die ebenso schwerwiegend ist wie ein aktiver Mord – zumindest im Prinzip, wenn auch nicht in Bezug auf die Strafe. Mord ist ein absolutes, nicht zu rechtfertigendes Verbrechen, selbst wenn man damit sein eigenes Leben rettet. „Ein Mann ging zu Rabba und sagte zu ihm: ‘Der Gouverneur meiner Stadt hat mir befohlen, einen bestimmten Mann umzubringen. Wenn ich es nicht tue, tötet er mich.’ Rabba antwortete ihm: ‘Es ist besser, dich töten zu lassen als ein Verbrechen zu begehen. Denn wer weiss, ob dein Blut röter ist? Das Blut des anderen Mannes ist vielleicht röter als deines.’“ (Traktat Sanhedrin 74a). Es gibt eine einzige Ausnahme von dieser Regel: Man darf denjenigen umbringen, der im Begriff ist, einer anderen Person das Leben zu nehmen.
Daraus könnte man nun logischerweise ableiten, dass die Pflicht, ein Leben zu retten, analog dazu ebenfalls absolut ist und dass der Verzicht darauf in keiner Weise rechtfertigt werden kann. Darüber hinaus dürfen und müssen gemäss Maimonides (Gesetze über den Schabbat II, 18) die Gesetze in Bezug auf den Schabbat übertreten werden, wenn es um die Verlängerung eines Lebens geht, selbst wenn man weiss, dass man es nicht mehr retten kann. Folglich stellt die Verlängerung des Lebens, die als Handlung dem Retten eines Lebens entspricht, eine absolute Pflicht dar und muss unter allen Umständen versucht werden.
Es gibt ein Gebot, das die Schwere des Mordes in den Augen der Torah gut veranschaulicht. Es bestimmt Folgendes, wenn die Leiche eines Menschen auf dem Gebiet zwischen zwei Städten gefunden wird und der Urheber des Verbrechens unbekannt ist: „Welche Stadt am nächsten liegt, deren Älteste sollen eine junge Kuh nehmen, mit der man noch nicht gearbeitet hat und die noch nicht am Joch gezogen hat, und sollen sie hinabführen in einen Talgrund, der weder bearbeitet noch besät ist, und dort im Talgrund ihr das Genick brechen.“ (Deuteronomium 21, 3-4).
Diese merkwürdige Regel veranlasst die Weisen natürlich zu Fragen und Kommentaren. „Weshalb legt die Torah fest, dass man die Kuh in einen Talgrund führen soll? …Damit ein Tier, das noch nichts produziert hat, an einem unfruchtbaren Ort getötet werde und für ein Wesen büsse, dem es nicht vergönnt war, eine Frucht hervorzubringen“ (Traktat Sota 46a). Jeder Mensch hat im Verlauf seines Daseins zugunsten seines Schöpfers eine einzigartige Aufgabe zu erfüllen; ein Mord bedeutet eine brutale Verhinderung dieser Berufung des Menschen, da er es dem Opfer unmöglich macht, seine Aufgabe auf Erden zu beenden.
„Muss nicht der Mensch immer im Dienst stehen auf Erden, und sind seine Tage nicht wie die eines Tagelöhners?“ (Hiob 7, 1). Dieser Vers aus dem Buch Hiob hebt deutlich hervor, wie unschätzbar wertvoll jeder Augenblick im Leben eines Menschen ist. Der genaue Wert jeden Augenblicks wird ebenfalls im berühmten Bericht über das Martyrium von Rabbi Hanina ben Tradion veranschaulicht (Traktat Avoda Zara 18a): „Man fand R. Hanina ben Tradion in der Öffentlichkeit vertieft in die Lehre der Torah, eine Torah-Rolle an sein Herz gedrückt. Sie packten ihn, wickelten ihn in die Torah-Rolle, stellten Holzbündel um ihn herum auf und zündeten diese an. Sie brachten angefeuchtete Wollbüschel und legten sie auf sein Herz, um seine Qual zu verlängern. Seine Jünger riefen: ‘Rabbi, was siehst du?’ Er antwortete ihnen: ‘Das Pergament verbrennt, doch die Buchstaben fliegen gen Himmel.’ Sie sagten: ‘Öffne den Mund, damit das Feuer in dich eindringe [und dein Ende beschleunige].’ Er erwiderte: ‘Möge derjenige, der mir meine Seele geschenkt hat, sie an sich nehmen, doch niemand darf sich sein Leben nehmen.’“.
Obwohl sein Schicksal besiegelt war und er entsetzlich litt, weigerte er sich also, seinen Tod schneller herbeizuführen. Die Entscheidung, seinem Leben ein Ende zu setzen, es auch nur um einige Augenblicke zu verkürzen, obliegt G’tt allein: Er ist es, der Leben schenkt, der die wahre Aufgabe des Menschen kennt und weiss, wann sie erfüllt ist.
Doch die Erzählung endet nicht an dieser Stelle. „Der Peiniger sagte dann zu ihm: ‘Rabbi, wenn ich das Feuer anfache und die Wollbüschel von deinem Herzen entferne, lässt du mich dann in das zukünftige Leben eintreten?’ ‘Ja’, antwortete dieser. ‘Dann schwöre es mir’, verlangte [der Peiniger]. Er schwor es. Sofort fachte jener das Feuer stärker an und entfernte die Wollbüschel von seinem Herzen und seine Seele verliess ihn rasch. Dann warf sich der Peiniger in die Flammen. Eine himmlische Stimme ertönte: ‘R. Hanina ben Tradion und sein Peiniger durften in die künftige Welt eintreten!’“.
Was hatte R. Hanina veranlasst, seine Einstellung zu ändern? Weshalb erlaubte er seinem Peiniger, seinen Tod bewusst schneller herbeizuführen? Man weiss, dass er eine Erleuchtung hatte: die Torah verbrannte, während die Buchstaben gen Himmel stiegen. Offensichtlich hatte er dies so ausgelegt, als ob es sich auf seine eigene Person bezöge: R. Hanina war die Torah-Rolle und er hatte seine Aufgabe auf Erden erfüllt. Er weigerte sich jedoch, gemäss dieser Erleuchtung zu handeln, bis sie durch das Angebot des Henkers quasi bestätigt wurde. Dieses Angebot überzeugte ihn davon, dass er auf Erden keine Aufgabe mehr zu erfüllen habe: In diesem Moment stellte die schnellere Herbeiführung seines Todes keine verbotene Handlung mehr dar.
Die göttliche Erleuchtung, die ihm seine Entscheidung ermöglichte, erfolgte natürlich nur für R. Hanina und kann nicht als Grundlage für ähnliche Entscheidungen im Alltag dienen. Doch die Erzählung lässt eine praktische Schlussfolgerung zu: Sie betrifft nicht die Handlung der bewussten schnelleren Herbeiführung des Todes, sondern die Möglichkeit, keine aussergewöhnlichen Massnahmen zu treffen, um ein qualvolles Leben zu verlängern, das sein Ende erreicht zu haben scheint.
Die Verlängerung eines solchen Lebens gilt eher als bewusste Handlung denn als Möglichkeit, den Dingen ihren Lauf zu lassen; folglich müssen die Menschen, deren Aufgabe es ist, derartige Massnahmen zu ergreifen, bestimmen, ob das Leben des Patienten sein Ende erreicht hat (aufgrund seines allgemeinen Zustands); in diesem Fall stellt die Verlängerung seines Lebens keine absolute Pflicht mehr dar. Steht dieser Umstand einmal fest, sollte man aussergewöhnliche Massnahmen nur dann treffen, wenn sie dem Patienten gut tun und seine Qualen verringern. In anderen Situationen ist das Eingreifen des Menschen (oder der Medizin) nicht mehr notwendig.
Es scheint demnach keine Pflicht zu sein, und somit keinen Grund zu geben, mit einer Hämodialyse für G. zu beginnen. Die Behandlung muss sich darauf beschränken, ihm seine letzten Tage erträglich zu gestalten.

*Rabbiner Shabtaï A. Rappoport leitet die Jeschiwah „Schwut Israel“ in Efrat (Gusch Etzion). Er ist Studiendirektor am Beit Hamidrasch, The Ludwig and Erica Jesselson Institute for Advanced Torah Studies, an der Bar Ilan University und hat unter anderem vor kurzem die letzten beiden Bände der Responsen herausgegeben, die von Rabbiner Mosche Feinstein, s.A., geschrieben wurden. Er entwickelt gegenwärtig eine Datenbank, die alle aktuellen Themen der Halachah umfasst. Richten Sie Ihre Fragen oder Kommentare an folgende E-Mail-Adresse: shrap@bezeqint.net.

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