News Neueste Ausgabe Befragung: Resultate Suchen Archiv Français English Русский עברית Español


Inhaltsangabe Holland Herbst 2008 - Tischri 5769

Editorial
    • Editorial [pdf]

Rosch Haschanah 5769
    • Glaube und Leben [pdf]

Politik
    • Wo steckt die Linke? [pdf]

Interview
    • Schutz und Abschreckung [pdf]

Analyse
    • Gefahren ! [pdf]
    • Der Bioterrorismus [pdf]
    • Die Gespenster Von Gestern [pdf]

Reportage
    • Der Sicherheitszaun [pdf]

Wirtschaft
    • Schekel - Quo Vadis? [pdf]

Medizin
    • Die Narbe Vermeiden [pdf]

Holland
    • Jerusalem und den Haag [pdf]
    • Esnoga [pdf]
    • Ets Haim Livraria Montezinos [pdf]
    • Beth Haim Aan de Amstel [pdf]
    • Ablehnung und Anziehungskraft [pdf]
    • Nederlands-isralitisch Kerkgenootschap [pdf]
    • Rosj Pina und Maimonides [pdf]
    • Hollandsche Schouwburg [pdf]
    • Majer – Mattie [pdf]
    • Borie Laufer [pdf]
    • Gestern - Heute - Morgen [pdf]
    • A.F.C. AJAX [pdf]
    • Körper und Geist [pdf]
    • Das Sinai Centrum [pdf]
    • Von Seele Zu Seele [pdf]
    • Das Jüdische Museum [pdf]

Gerechtigkeit
    • Hetzjagd [pdf]

Ethik und Judentum
    • Verzichten, Aber Wann? [pdf]

Das Gute Gedächtnis
    • Die Ereignisse des Monats Oktober [pdf]

Artikel per E-mail senden...
Körper und Geist

Von Roland S. Süssmann
„Welkom op de Joodse vleugel - Willkommen im jüdischen Flügel”! So heisst die kleine Broschüre, die man jedem Patienten in die Hand drückt, wenn er ins Spital Ziekenhuis-Amstelland in Amstelveen, einem Vorort von Amsterdam, eingeliefert wird. In diesem Heft wird unter anderem kurz erklärt, was die Kaschruth, der Schabbat oder eine Mesusah sind und was die verschiedenen Kultgegenstände und jüdischen Feiertage bedeuten.
Doch was versteckt sich denn hinter dem „jüdischen Flügel”? Es handelt sich um ein in Europa einzigartiges Phänomen, da hier zwei Stockwerke eines privaten Krankenhauses ganz für jüdische Patienten reserviert sind. Hier werden nicht nur streng koschere Mahlzeiten serviert, sondern man hält auch den Schabbat gemäss allen Regeln ein, jede Tür ist mit einer Mesusah verziert, und ausserdem wird die Medizin gemäss den Vorschriften der medizinischen Ethik nach jüdischer Gesetzgebung, der Halachah, praktiziert.
Wir wollten noch besser verstehen, wie dieses spezielle Krankenhaus funktioniert, und haben dazu JACQUES MOORS getroffen, den Generaldirektor und Verwalter des Ziekenhuis.

Können Sie uns kurz die Geschichte des Spitals erzählen und uns sagen, wie der für jüdische Patienten reservierte Flügel funktioniert?

Unser Krankenhaus wurde 1960 hier in Amstelveen ins Leben gerufen, das jüdische Spital befand sich in Amsterdam und hiess CIZ (Centraale Israelietische Ziekenverpleging). Vor der Schoah gab es in Amsterdam drei jüdische Spitäler: ein allgemeines Krankenhaus, das allen offen stand, ein anderes für die Juden der portugiesischen Gemeinschaft und die CIZ, die eine Art Klinik für die wohlhabenden Mitglieder der Gemeinde war. Infolge der massiven Deportationen wurden die drei Gebäude dieser Krankenhäuser, die sich an drei verschiedenen Standorten in Amsterdam befanden, von den Deutschen geplündert und zerstört. Nach dem Krieg war nur noch eines der drei Gebäude – die ehemalige CIZ – in einem Zustand übrig geblieben, der die Wiederaufnahme einer Tätigkeit als Krankenhaus zuliess. So kam es, dass an diesem kleinen jüdischen Krankenhaus mit seinen rund 100 Betten nach Kriegsende und bis 1970 die bekanntesten Ärzte von Amsterdam wirkten. Sie begannen ihren Arbeitstag mit einer Visite in der CIZ, gingen dann in ihre jeweiligen Spitäler der Stadt und ihre Praxen und suchten am Abend wieder ihre Patienten im kleinen Krankenhaus auf.
1970 fusionierten in Holland viele Spitäler, und die Verantwortlichen der CIZ wurden sich bewusst, dass der Betrieb einer so kleinen Einrichtung immer schwieriger wurde. Ausserdem war der grösste Teil der jüdischen Gemeinschaft nach Amstelveen, einen südlichen Vorort von Amsterdam, umgezogen, so dass sich die Fusion zwischen dem Krankenhaus von Amstelveen und der CIZ als selbstverständlich aufdrängte und 1978 zustande kam.
Wir verfügen heute über zwei Stockwerke (ca. 65 Betten), die für jüdische Patienten reserviert sind und gemäss den Vorschriften der Halachah geführt werden. In dieser Abteilung ist z.B. Euthanasie streng verboten. Unsere Kundschaft kann allerdings ihr Krankenhaus frei wählen (die einzige Einschränkung hängt von der jeweiligen Diagnose ab): ein Jude kann sehr wohl beschliessen, dass er in der allgemeinen Abteilung des Krankenhauses betreut werden möchte, so wie ein Nichtjude im jüdischen Flügel gepflegt werden kann. Letzterer muss sich dann bereit erklären, die geltenden jüdischen Vorschriften in Bezug auf Ernährung und Einhaltung des Schabbat sowie die Regeln der medizinischen Ethik nach jüdischer Gesetzgebung zu respektieren. Die Patienten können beispielsweise weder an Schabbat noch an jüdischen Feiertagen ein- oder austreten.

Können alle Arten von Erkrankungen im jüdischen Flügel behandelt werden?

In den meisten Fällen ja. Falls ein Patient aufgrund der Diagnose in der allgemeinen Abteilung des Krankenhauses untergebracht werden muss, kann er dort auf Wunsch koschere Nahrung bekommen und die Regeln des Judentums einhalten. An Schabbat führen wir z.B. den Kiddusch an einem Bett in der nichtjüdischen Abteilung durch. Darüber hinaus verfügen unsere Geburtenabteilung und die Pädiatrie, die sich nicht im jüdischen Flügel befinden, über zwei koschere Küchen – eine für Milch- und eine für Fleischgerichte.

Die Aufrechterhaltung einer ganzen Logistik für koschere Mahlzeiten verursacht bestimmt zusätzliche Kosten, ganz zu schweigen davon, dass koschere Produkte an sich teurer sind. Müssen die Patienten aus dem jüdischen Flügel deswegen für ihren Aufenthalt mehr bezahlen?

Es stimmt, dass die Vorschriften der Kaschruth für uns gewisse Mehrkosten im Vergleich zum Grundtarif pro Patient ausmachen. Unsere Patienten zahlen aber keinen Aufschlag, die Kosten sind für alle dieselben. Diese Rechnung ist rein wirtschaftlicher Art.

Wie bilden Sie Ihr Personal in Bezug auf die Aspekte des Judentums aus?

Jeder von uns eingestellte Mitarbeiter erhält die Basisinformationen, wie sie auch in unserer Patientenbroschüre enthalten sind. Wir veranstalten aber auch regelmässige Seminare zu diesem Thema, die im Rahmen der ständigen Weiterbildung stattfinden. Dazu muss ich sagen, dass die jüdischen Besonderheiten von unseren Mitarbeitern sehr gut erfasst und akzeptiert werden, die überdies oft sehr daran interessiert sind, noch mehr zu erfahren. Was die Ärzte angeht, so werden sie regelmässig von Rabbinern aufgesucht und über die Vorschriften der jüdischen medizinischen Ethik informiert.

Haben Sie auch muslimische Patienten, die in den jüdischen Flügel aufgenommen werden oder koschere Nahrung bekommen möchten, da ja eine gewisse Analogie zum Hallal-Fleisch besteht?

Das kommt vor, ist aber selten. Grund dafür ist die Tatsache, dass nur ganz wenige Muslims in diesem südlichen Vorort von Amsterdam leben. Ich muss aber hinzufügen, dass die Patienten und Angestellten unseres Krankenhauses allen möglichen Religionen angehören oder auch Agnostiker sind, und sie alle arbeiten – oder leiden – in vollkommener Harmonie. Das Spital beschäftigt rund 1’200 Mitarbeiter. Einmal im Jahr veranstalten wir ein grosses Grillfest in zwei Ausrichtungen: koscher und nicht koscher. Bei diesem Anlass sehen wir dann, dass sich unsere muslimischen Mitarbeiter am koscheren Buffet bedienen.

Welche Vorteile ergeben sich für Ihr Spital daraus, sich mit einem jüdischen und nicht mit einem anderen Krankenhaus zusammenzutun, vor allem, weil sich ja aufgrund der jüdischen Vorschriften einige zusätzliche Schwierigkeiten ergeben?

Dafür gibt es mehrere Gründe. Zunächst befinden wir uns, wie ich bereits erwähnte, in einer Gegend mit einer dichten jüdischen Bevölkerung, was unseren Zusammenschluss mit der CIZ aus wirtschaftlichen Überlegungen gerechtfertigte. Es gibt jedoch einen noch wichtigeren Aspekt, nämlich die Identität des Spitals. Wir wollten uns durch etwas ganz Bestimmtes auszeichnen, was wir nie erlangt hätten, wenn wir uns einfach mit einem anderen allgemeinen Krankenhaus zusammengetan hätten. Auf diese Weise bleiben wir eine private Institution mit einem ganz spezifischen Merkmal.

Wie wird die Entwicklung des jüdischen Flügels Ihrer Meinung nach aussehen? Haben Sie die maximale Auslastung bereits erreicht?

Heute ist die Anzahl Betten wesentlich weniger wichtig als in der Vergangenheit. Die Aufenthalte im Krankenhaus werden immer kürzer, und was zählt, ist die Kapazität, möglichst viele Patienten behandeln zu können: die Zahl der Operationssäle, der Ärzte, der Kranken, die ambulant oder im Tageskrankenhaus betreut werden können usw. Noch vor 20 Jahren rechnete man im Schnitt mit einem Aufenthalt von zwei Wochen, während man heute von 5-6 Tagen ausgeht. Dies bedeutet, dass man mit derselben Anzahl Betten sehr viel mehr leisten kann als früher. Wir möchten uns aber etwas vergrössern, da das Spital relativ klein ist für die Region Amstelveen. Was die Finanzierung betrifft, befinden wir uns in einer Übergangsphase, da es seit 2 Jahren ein neues System gibt. Vorher waren wir selbst als privates Krankenhaus nicht berechtigt, andere finanzielle Mittel zusammenzutragen als jene, die wir über das staatliche Versicherungssystem erhielten. Heute dürfen wir unsere Klinik wie ein Unternehmen managen. So haben wir beispielsweise eine Kundenvorzugskarte lanciert, die wir diversen Unternehmen zu einem festen Betrag anbieten und die sie aufgrund eines simplen Anrufs mit einem Arzt in Kontakt setzen. Das ist sehr nützlich, weil man in Holland manchmal 14 Tage auf einen Arzttermin warten muss.

Es ist natürlich toll, über ein Spital mit einem jüdischen Flügel zu verfügen, wo alle Vorschriften der Halachah respektiert werden. Doch herrscht dort wirklich eine jüdische Atmosphäre?

Dazu möchte ich Ihnen zwei Beispiele anführen. Einerseits besitzen wir in unserer Einrichtung einen Mehrzweckraum, der vom Freitagabend bis zum Samstagabend sowie während der jüdischen Feiertage in eine Synagoge verwandelt wird. Diese wird nicht nur von unseren Patienten und Ärzten aufgesucht (20 % der Mediziner am Krankenhaus sind jüdisch), sondern auch von den Einwohnern des Quartiers. Ist jemand schwer krank, fahren wir sein Bett oder einen Rollstuhl hinunter in die Synagoge und lesen einen „Mischeberach“ für ihn. Die Personen, die nicht im Krankenhaus wohnen, aber die Synagoge besuchen, gehen nach dem Gottesdienst von Zimmer zu Zimmer, um den Kiddusch am Bett der Kranken zu sprechen. Ausserdem verfügt die Decke unseres Speisesaals (ebenfalls ein Mehrzweckraum) über eine Öffnung, um eine Sukkah aufzustellen.
Die jüdische Atmosphäre strahlt nun weit über unser Spital hinaus, da sich immer mehr Menschen aus anderen Regionen Hollands wegen des Krankenhauses mit seiner Synagoge, wegen des Altersheims und des koscheren Metzgers und Bäckers in Amstelveen niederlassen. Meines Erachtens haben wir nachhaltig zu dieser Entwicklung beigetragen, so dass unsere Region heute bestimmt die beste Lebensqualität für Juden in Holland bietet.


Contacts
Redaction: edition@shalom-magazine.com   |  Advertising: advert@shalom-magazine.com
Webmaster: webmaster@shalom-magazine.com

© S.A. 2004